Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Aus dem Wigwam – Spottvogels Ursprung

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Spottvogels Ursprung

ie junge und schöne Prinzessin Neroyah liebte den tapferen Krieger Tonaka, aber die beiden Stämme, zu denen sie gehörten, waren einander sehr feindlich gesinnt. Deshalb konnten die beiden Liebenden ihre geheimen Zusammenkünfte nur mittels einer Verkleidung und unter der größten Vorsicht halten. Glücklicherweise war Tonaka vom Großen Geist, der seine wunderbaren Segnungen immer mit einem alles sehenden Auge nach den künftigen Bedürfnissen des Empfängers verteilt, mit einer ganz ausge­zeichneten Nachahmungskraft begabt worden. Er besaß darin ein solches Talent, dass er ohne die geringste Anstrengung die Stimme jedes Vogels und jedes Tieres unter der Sonne nachahmen konnte.

Oft stahl sich Neroyah in der Mitternachtsstunde, wenn sie das vorher verabredete Signal hörte, von ihrem Lager auf einem Bärenfell weg und schlich sich in den dichten Wald, um dort den Geliebten zu finden, der sie mit ängstlicher Ungeduld erwartete. Zuweilen bestand das Signal in dem grellen Schrei des Panthers oder der wilden Katze; zu einer anderen Zeit in dem Bellen eines Hundes, am häufigsten aber in dem schönen und feinen Gesang irgendeines Nachtvogels in den Wäldern. Die genussreichen Zusammenkünfte dauerten einige Monate, als, trotz ihrer außerordentlichen Vorsicht, ihre Liebe bekannt wurde, worauf ihre beiden eben miteinander Krieg führenden Stämme beschlossen, sie zur Strafe zu töten. Der Beschluss war beiden unbekannt, aber als man sie beide an den verhängnisvollen Pfahl gebunden, die wilden und bemalten Krieger um sie her die Holzscheite für das Feuer aufgetürmt hatten, die Marterwerkzeuge bereit waren und ihnen gezeigt wurden, bat jedes von ihnen den Großen Geist, der in den Wolken über ihnen saß und auf die Szene herabblickte, das Leben und das Glück des anderen ewig zu bewahren.

Das Herz ihres Gottes wurde durch diese zärtliche Liebe gerührt. Sein Mitleid geruhte, sie dem Zorn seiner Verfolger zu entreißen, und zwar durch einen heftigen Wirbelwind, der sich um sie her erhob und die Augen der erschrockenen Krieger mit Staub füllte. Als der Wirbelwind aufhörte, waren die Gefangenen verschwunden und nicht wieder aufzufinden.

Der Große Geist hatte aber nicht vergessen, dass die Liebenden, die sich seit so vielen Monaten nur ihrer Leidenschaft hingegeben und darüber nachgedacht hatten, wie sie ihre Zusammenkünfte geheim halten konnten, sich eine Vernachlässigung der ihm schuldigen Verehrung hatten zu Schulden kommen lassen. Deshalb wollte er ihnen nicht die sofortige Vereinigung bewilligen, nach der sie bisher allein gestrebt und die sie über die Freuden erhoben hatten, die den tapferen Krieger auf den Jagdgründen der anderen Welt erwarten sollen.

Er verwandelte den sangen Krieger in eine Spottdrossel und die Prinzessin in einen schönen, wundervollen Vogel mit dem prachtvollsten Gefieder, die aber kein Männchen haben und immer allein wandern sollte, der einzige Typus ihrer Art auf der Erde, bis es dem Spottvogel gelingt, einen ganz eigentümlichen Ton von der schönsten und schwierigsten Harmonie hervorzubringen, der allein die Macht haben sollte, sie an seine Seite zu rufen. Durch diesen Ton können sie sich allein erkennen. Seitdem ist sie unerkannt durch die Welt gewandelt, aber sie lebt noch immer, und Tonaka, welcher sein Nachahmungstalent noch besitzt, singt fortwährend, ahmt jeden Ton, den er hört, selbst das Wimmern eines Kindes, nach und strengt sich an, seine verlorene und so heiß geliebte Neroyah wiederzufinden. Sein vereinsamtes und liebendes Herz veranlasst ihn, die Nächte durch seinen melodiereichen Gesang zu verschönern, dem sich oft die Nachtigall anschließt. Er singt sanft, senkt seinen Kopf und lauscht. Es ist aber nicht die Stimme der verlorenen Geliebten. Mit einem verzweiflungsvollen Schrei fliegt er fort in die unbekannte Ferne.