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Aus dem Wigwam – Die sechs Nantikoken

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Die sechs Nantikoken

in wunderschöner Tag lachte in dem Monat, wo der Maifisch das Salzwasser verlässt und in die Süßwasserflüsse steigt, auf das Ufer des Großen Sees. Auf dem großen, weiten Ozean regte sich keine Welle und der Gott der Stürme hielt die Winde in seiner tiefen Felswohnung eingeschlossen. Vögel, Käfer und Schlangen freuten sich im heiteren Sonnenschein; Menschen aber gab es damals noch nicht. Doch ehe das Auge des Tages sich schloss, sah es plötzlich sechs Indianer vom Stamm der Nantikoken am Ufer des Ozeans sitzen. Woher sie kamen, ob sie aus dem Wasser oder aus dem Schlamm gekrochen oder ob sie aus der Luft gefallen waren, konnten sie selbst nicht sagen. Sie wussten nur, dass sie da waren und dass sie sich Kleider und Nahrung nur durch Jagen und Fischen verschaffen konnten.

Mit der Zeit trieben sie auch Ackerbau und pflanzten Korn und Tabak. Süße Beeren und Trauben wuchsen überall in Hülle und Fülle. Diese sechs hätten ein vergnügtes Leben führen können, wenn sie nicht auf den Gedanken gekommen wären, dass man zum menschlichen Leben auch noch der Frauen bedürfe. Sie verließen also ihre Hütten. Jeder schlug einen anderen Weg ein, um sich eine Frau zu suchen. Der Erste ging in das Land des Schnees, der Zweite in das Reich der Sommerwinde, der Dritte nach Osten, der Vierte in das Land des Sonnenuntergangs, der Fünfte kroch in das Innere der Erde und der Sechste kletterte an einem Sonnenstrahl in die Höhe. Vorher aber hatten sie verabredet, im Monat der Trauben wieder in ihrer Heimat zurückzukehren. Alsdann solle ein jeder seine Abenteuer erzählen.

Als die Trauben reif waren, saßen sie auch alle wieder mit sechs wunderschönen Frauen an dem bestimmten Platz und schienen überglücklich zu sein. Die Pfeife wurde fröhlich herumgereicht und lustiges Gelächter hallte durch Berg und Tal.

Endlich stand einer, mit Namen Sinipuxent, auf und sprach: »Ich kletterte, wie ihr wisst, an einem Sonnenstrahl in die Höhe und kam nach tagelanger und beschwerlicher Reise endlich an die Stelle, wo sich die Sonne während der Nacht auszuruhen pflegt. Es war Morgen, als ich dort anlangte. Die Sonne war eben aufgestanden, um ihre Tagesreise anzutreten; aber ihre Kinder lagen ringsum noch im tiefsten Schlaf. Die Schönste ihrer erwachsenen Töchter – seht hin und fragt euch, ob sie es nicht ist – wusch ihr Gesicht im Tau des Morgens und badete ihre Füße in dem klaren Strom neben ihrer Wohnung. Als sie mich erblickte, wollte Sie fliehen.

›Schöne Jungfrau!‹, sprach ich zu ihr, ›warum fürchtest du dich? Der Fremde, der vor dir steht, würde sich eher dem Tod weihen, als einem Haar deines Lockenkopfes ein Leid zuzufügen. Mein Herz sagt mir, dass du der Gegenstand bist, den ich suche. Ich bitte dich, verlasse die Wohnung deiner Eltern und ziehe mit mir in das schöne Land der Nantikoken. Das Wasser ist dort klar, kühl und süß. Die Reben beugen sich unter der Last schmack­hafter Trauben und das ganze Land prangt im farbenreichsten Blumenschmuck. Komm mit mir und zünde das Feuer in dem Wigwam an, den ich für uns gebaut habe!‹

Die liebliche Jungfrau hörte mich verwundert an, aber sie wusste nicht, was sie antworten sollte, denn sie hatte mich nicht verstanden. Doch endlich gestand sie, dass sie mich liebe und mit mir gehen wolle, wenn es ihre Eltern zufrieden wären.

Am Abend, als die Sonne wieder zurückgekommen war, sagte ihre Ehe­hälfte zu ihr: ›Einer der sechs Nantikoken, die im Froschmonat vom Nord­stern auf das Ufer des Großen Sees sielen, ist hier und hat um die Hand unserer Tochter Atahensik angehalten. Es ist ein schöner Jüngling, und so viel ich bemerkt habe, liebt sie ihn auch.‹

›Ich werde sie ihm nie und nimmermehr geben!‹, erwiderte sie barsch darauf, ›denn das Blut der Sonne darf sich unter keiner Bedingung mit dem der Erdenkinder vermengen!‹

Mir sagte die Sonne einfach, ich solle mich so schnell wie ich könne meiner Wege scheren. Da ich nicht gern Streit anfangen wollte, so nahm ich diese Worte gelassen hin, blieb aber ruhig da und verheiratete mich in der nächsten Nacht, als sie in tiefem Schlaf lag, mit der schönen Jungfrau. Bei Tage versteckte jene mich gewöhnlich und es dauerte geraume Zeit, bis die Eltern unser Ehebündnis entdeckten. Aber da waren wir die längste Zeit oben gewesen, denn die Sonne packte uns und warf uns auf die Erde hinunter. Ich kann von Glück reden, dass weder ich noch meine Frau noch unser ge­liebtes Kind Schaden dabei genommen haben. Brüder, ich bin am Ende meiner Geschichte!«

Danach erhob sich Konestogo und erzählte: »Als ich mich von meinen fünf Brüdern trennte, stieg ich in eine tiefe Höhle, welche in den Bergen westlich vom Nantikokefluss liegt. Ich marschierte mehrere Tage lang im Dunkeln weiter und lebte während dieser Zeit von getrocknetem Fleisch, das ich mitgenommen hatte. Endlich kam ich in eine geräumige Felsenhalle, die auf dicken Säulen, welche wie Eiszapfen im Sonnen­schein glänzten, ruhte. Die Decke schien aus grünem, weißem, rotem und gelbem Eis gemacht zu sein. Doch was das Allerschönste war – im Hintergrund tanzte eine muntere Gesellschaft junger Mädchen in blendend weißer Kleidung. Ihre schwarzen Augen, ihr lieblicher Gesang, ihre wohlgeformten Schultern, ihre niedlichen Füße, ihr graziöser Gang – Wer will dies alles beschreiben? Als sie mich bemerkten, stießen sie plötzlich einen Schrei des Schreckens aus und verschwanden in den gewölbten Gängen. Ich folgte ihnen so schnell ich konnte und kam bald in ein Zimmer, das etwas kleiner als das erste, aber ebenso schön war. Hinter den Säulen standen die Mädchen, streckten ihre Köpfe hervor und schienen gar nicht mehr so ängstlich zu sein, wie vorher. Da ich durch das beständige Laufen sehr müde geworden war, so setzte ich mich auf einen Stein und brannte ruhig meine Pfeife an. Denn, dachte ich, wenn man den jungen Mädchen nicht nachläuft, dann kommen sie von selber zu einem. Und da hatte ich recht. Bald streckten sie ihre Köpfe weiter vor, auch ihre Hände und Füße wurden sichtbar. Ich tat, als merke ich nichts davon. Als sie sahen, dass ich mich durch gar nichts stören ließ, kamen sie alle hervor und hießen mich mit lächelnder Miene willkommen. Dann setzten sie sich neben mich und bestürmten mich auf einmal mit so vielen Fragen, dass ich die meisten überhörte.

›Wer bist du? Wie alt bist du? Wo kommst du her? Wie weit willst du noch gehen? Wer ist dein Vater? Wie heißt deine Mutter? Hast du noch Brüder? Wie viele Schwestern hast du? Lebt deine Großmutter noch? Wie lange willst du hierbleiben? Wohin willst du dann gehen?‹

So ging es in einem fort, ohne dass sie irgendeine Antwort abwarteten. Aber sie waren nicht alle so redseliger Natur. Es war auch eine darunter, und zwar die Schönste, die still in einer Ecke saß und sich kaum regte. Ihre gesenkten Augen aber redeten eine Sprache, die nur ein liebendes Herz versteht. Und diese gefiel mir am besten. Währenddessen nun die anderen unaufhaltsam scherzten, lachten und ihre weißen Zähne zeigten, dachte ich nur an die Stille, bescheidene Jungfrau. Mein Blick begegnete dem ihren sehr häufig. Allmählich rückte die Zeit zum Schlafengehen heran und die lustigen Mädchen verließen mich. Die Stille ging zuletzt fort und warf mir einen so vielsagenden Scheideblick zu, dass ich in der ersten Hälfte der Nacht kein Auge schließen konnte.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf und sah in meiner Nähe ein kleines Bächlein, dessen kaltes, klares Wasser langsam über Kieselsteine dahinfloss und sich in einer Felsspalte verlor. Als ich mich dort eine Zeit lang hingesetzt hatte, erschien auch das Mädchen und erzählte, da es mich nicht bemerkte, dem Echo der Höhle, dass sie den Fremden mit dem schwarzen Haar und dem stolzen Blick liebe und sehnlichst wünsche, seine Frau zu werden. Sie würde sicherlich noch viel mehr gesagt haben, wenn ich sie nicht herzlich an meine Brust gedrückt und ihren Mund mit zärtlichen Küsten geschlossen hatte.

›Du sollst meine Frau werden!‹ rief ich freudig. ›Heute noch musst du es werden! Anfangs hielt ich dich für stumm, weil du dich still in eine einsame Ecke zurückgezogen hattest, während der Mund deiner Schwestern keinen Augenblick stillstand. Ich danke dem Großen Geist, dass er mich dein Geständnis hören und uns hier zusammentreffen ließ. Komm nun mit mir in das fruchtbare Land der Nantikoken!‹

Sie ging mit und sitzt nun an meiner Seite. Brüder! Ich bin fertig!«

Danach stand der Dritte, mit Namen Appomattox, auf und erzählte Folgendes: »Als ich das Lagerfeuer meiner Brüder verlassen hatte, überschritt ich den großen Arm des Salzsees und zog dem Land der kalten Frühlingsstürme zu. Da es kurz danach zu regnen anfing, so baute ich mir eine Hütte aus Birkenrinde und legte mich hinein. Kaum war ich jedoch eingeschlafen, als ich plötzlich meinen Namen zweimal laut rufen hörte.

›Hier bin ich!‹, erwiderte ich. Als ich mich aufrichtete, sah ich ein hässliches, braunes Männchen vor mir im Mondschein stehen. Es war halb so groß wie ich. Seine Arme und Hände waren kaum so lang wie die eines einjährigen Kindes. Sein Kopf glich dem eines jungen Hundes und seine Augen waren so rot wie die Blätter des Zuckerbaumes im Herbst. Die Haut war grün wie Frühlingsgras und das Haar struppig wie Felsmoos. Seine Nase stand aufwärts; die Ohren waren so groß wie der Nagel an meinem Daumen. In seinen Mund konnte man kaum einen Grashalm stecken. Seine Bewegungen glichen denen einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat.

›Wer bist du?‹, fragte er mich und schlug einen Purzelbaum.

›Ich bin ein Nantikoke, einer von den sechs, die im Froschmonat vom Himmel fielen. Und wer bist du?‹

›Du scheinst ein tüchtiger junger Mann zu sein und bist zweifelsohne wegen einer Frau hierhergekommen. Komm mit mir. Ich wohne in einer Höhle nicht weit von hier und ich will dir dort einige fette, gebackene Kröten, oder auch, wenn du willst, einen wohlschmeckenden Hasenbraten zum Abendessen vorsetzen. Doch du fragtest mich, wer ich sei. Darauf kann ich dir keine befriedigende Antwort geben. Ich weiß nur so viel, dass ich zu einer sonderbaren Fischfamilie gehöre.‹

Da ich seit geraumer Zeit nichts gegessen hatte, so ging ich mit ihm. Auf dem Boden seiner Wohnung krabbelten eine große Anzahl Kinder herum, die noch hässlicher waren als ihr Vater. Das eine hatte kein Haar, ein anderes hatte wieder den ganzen Körper voll; die meisten hatten nur eine Hand und ein Auge. Doch eins davon war schön. Es war ein kleines Mädchen, dass ruhig in einer Ecke saß und sich tief in seinen Pelzmantel gehüllt hatte. Als das Abendessen aufgetragen wurde, zog die Jungfrau ihre besten Kleider an und setzte sich neben mich an den Tisch. Wir redeten kein Wort miteinander, aber jedes ihrer Augen sprach: Ich liebe dich!

Ihre Eltern, welche aus eigener Erfahrung die Sprache der Liebe kannten, verließen darauf mit den anderen Kindern das Zimmer, und wir beide waren nun allein. Ich fasste sie zärtlich an der Hand und flüsterte ihr allerlei liebliche Geschichten ins Ohr. Bald waren wir in unserer Sache einig. Da die Eltern nichts gegen unsere Heirat einzuwenden hatten, so traten wir gleich den Weg zum Land der Nantikoken an. Brüder, ich bin am Ende!«

Danach erhob sich der Vierte und sprach: »Ich nahm meinen Weg zu dem Gebirge, das man gewöhnlich das Rückgrat des Großen Geistes nennt. Als ich mich am sechsten Tag ein wenig hingesetzt hatte, um auszuruhen, vernahm ich entfernte Musik. Allmählich konnte ich sogar die Worte eines lustigen Liedes verstehen. Da ich gern wissen wollte, woher diese lieblichen Töne kamen, so stieg ich den Berg hinunter und fand im Tal eine Gesellschaft munterer Mädchen, die fröhlich im grünen Gras herumhüpften. Die meisten davon waren sehr klein, und nur sehr wenige schienen ausgewachsen zu sein. Eine von den Letzteren schien die Königin zu sein, denn sie erteilte Befehle, die stets mit der größten Gewissenhaftigkeit befolgt wurden. Sie war die Größte und Schönste von allen. Ihre Haut war fast schneeweiß und ihre Wangen waren so rot wie die Blume, die zwischen den Dornen blüht. Ich setzte mich unbemerkt auf die Erde und beobachtete die Spiele und Tänze der Mädchen. Zuletzt entdeckte mich aber eines, und gleich kamen alle zornig auf mich zu.

›Warum‹, sprach die Königin ernst, ›hast du dich hierher geschlichen? Weißt du nicht, dass wir Berggeister sind, die allabendlich hier ihre heiligen Tänze ausführen? Was hast du zu sagen, um dich vom Tode zu retten?‹

›Als ich oben auf dem Berg saß‹, erwiderte ich, ›hörte ich plötzlich süßere Töne, als sie der Spottvogel zu singen vermag. Als ich denselben entgegenging, sah ich die schönsten Geschöpfe der Erde und der Luft vor mir und setzte mich hin, um sie zu bewundern. Das ist das ganze Verbrechen, das ich begangen habe. Anstatt dafür zu sterben, möchte ich lieber die schöne Jungfrau vor mir zur Frau nehmen!‹

Diese Bemerkung kam den Berggeistern sehr lächerlich vor; die Königin aber ließ bedenklich den Kopf hängen. Ich ging zu ihr und sagte ihr leise ins Ohr, dass ich sie liebe und sie gern mit in meine sonnige Heimat nehmen möchte. Nach kurzem Bedenken erklärte sie sich damit einverstanden und ging mit. «Hier sitzt sie nun an meiner Seite.

Danach stand der Fünfte auf und sprach: »Ich reiste in das Land der lächelnden Sonne, dem warmen Süden. Kein Tier, an dem ich meine Kunst im Schießen hätte probieren können, kam mir in den Weg. Ich war nahe daran, zu verhungern, als ich mich niederlegte, um dem Großen Geist mein weiteres Schicksal zu überlassen. Dieser erschien mir denn auch im Traum und sagte, ich solle am nächsten Morgen dem Lauf des Flusses, dessen Quelle vor mir sei, folgen. Dann würde ich an einen Hügel kommen, in dessen Nähe ein mit zahlreichen Fischen gefüllter See sei.

Am nächsten Morgen stand ich also früh auf, folgte dem vorgeschriebenen Pfad und kam bald an den besagten See.

Der Hügel dabei war kaum halb so hoch wie der Flug eines Pfeiles und die Fische in dem benachbarten See waren so lang wie mein kleiner Finger. An den Ufern des Sees standen zahlreiche Bäume und neben denselben eine große Anzahl Hütten, die so niedrig waren, dass sie mir kaum bis an die Hüften reichten. Als ich mich ein wenig niedergesetzt hatte, kroch ein kleines schwarzes Tier mit vier Beinen aus dem Wasser, legte sich vor mir ins Gras und fing an, mit sich selbst zu sprechen. Da ich noch nie ein Tier hatte sprechen hören, so näherte ich mich ihm.

Als es mich kommen sah, redete es mich mit folgenden Worten an: ›Fremder, sei willkommen im Land der Moschusratten! Bis jetzt hat uns noch niemand von deiner Rasse besucht. Da mir eine innere Stimme sagt, dass du gekommen bist, um unseren Frieden zu stören, so müssen wir Anstalten treffen, einen Freundschaftsbund mit dir zu schließen. Tritt also gefälligst in meine Hütte!‹

Ich ging mit ihr. Ihr Hans stand am anderen Ufer des Sees und war viel höher und schöner als die Wohnungen der anderen Moschusratten. Da ich nicht aufrecht stehen konnte, so setzte ich mich nieder. Der Ratten­häuptling lief fort, um mir etwas zu essen zu holen. Kurz danach kam er wieder zurück. Nachdem ich meinen Hunger gestillt hatte, versammelten sich alle übrigen Moschusratten des ganzen Dorfes um mich, und die schöne Tochter des Häuptlings erschien ebenfalls.

›Was denkst du von meiner Tochter?‹, fragte er mich.

›Sie ist das schönste Moschusrättchen, das ich bisher gesehen habe. Ich bedaure nur, dass sie eine Ratte ist!‹, erwiderte ich.

›Sie ist unstreitig das schönste Tier im ganzen See und keine versteht so gut hauszuhalten wie sie. Auch ist sonst keine in der Umgegend klüger als sie. Willst du sie nicht heiraten?‹

›Alles, was du zum Lob deiner Tochter sagst, glaube ich gern, aber sie hat vier Beine und ist auch viel zu klein für mich!‹

›Sie hat nicht mehr Beine als du, denn was sind deine Arme anders als Beine? Doch ihre Fehler sind leicht abzustellen. Warte nur noch eine Weile!‹

Danach zog sich der Häuptling hinter den Hügel zurück und grub eine kleine Höhle, die er mit rotem Sand und Schlamm ausfüllte. Dann schüttete er sieben Tropfen einer grünen Flüssigkeit darauf und sprach den Namen des Schutzgeistes der Moschusratten mehrmals dabei aus. Danach legte er sich nieder und stellte sich, als ob er schlafe.

Gleich danach kam eine riesige Moschusratte, deren Beine so lang wie die höchsten Bäume waren und deren Schwanz noch zweimal so dick wie ich war, aus dem See und trat vor den Häuptling. Sie hatte einen weißen Ring um ihren Hals und ihr Bauch war blutrot. Das Merkwürdigste aber war, dass sie einen Menschenkopf hatte.

›Was wünschst du?‹, rief sie dem Häuptling zu.

›Gib meiner Tochter die Gestalt eines Nantikoken!‹

›Da musst du meinen Meister fragen; doch will ich zusehen, was in dieser Sache für sie getan werden kann!‹

Dann wisperte sie dem schönen Töchterlein einige Worte ins Ohr, ging fort in den Wald, fällte eine junge Tanne, suchte sich eine Eichel, eine Haselnuss sowie ein Birkenblatt und legte dies in das Feuer des Nantikoken. Als diese Dinge verbrannt waren, sammelte sie die Asche, goss sieben Tropfen einer grünen Flüssigkeit darauf und rief ihren Meister.

Plötzlich kroch ein kleiner roter Mann aus der Höhle des Häuptlings und sprach: ›Was wollt ihr von dem Meister des Lebens, dass ihr ihn aus seiner unterirdischen Wohnung hervorruft?‹

Der Geist erzählte ihm den Wunsch des Moschusrattenkönigs, und jener erklärte, ihn erfüllen zu wollen.

›Nimm deine Braut‹, sprach er zu mir, ›und führe sie an das Ufer des Sees. Wenn sie ihre Füße ins Wasser setzt, so sprich zu ihr: ›Sei zum ersten Mal eine Frau und lege im Namen des Großen Geistes deine Tiergestalt auf immer ab!‹

Ich tat, wie er befahl. Kaum hatte ich jene Worte gesprochen, als ihr Fell abfiel und die schönste Jungfrau vor mir stand. Brüder, ich bin fertig!«

»Ich reiste«, erzählte darauf der Sechste, »in das Land des Eises und der Kälte und kam in eine tiefe Talschlucht. In der Mitte derselben befand sich ein Brunnen, der gar keinen Boden zu haben schien. Das Wasser darin war grasgrün und voll glänzender Augen. Da ich sehr müde war, so legte ich mich nieder. Als der Mond die höchsten Berge erklommen hatte, kam es mir vor, als steige eine große Menge menschenähnlicher Geister aus dem Brunnen. Sie waren von allen Farben, Größen und Altersstufen; nur ihre Augen waren gleich einnehmend. Als sie alle oben waren, bildeten sie einen Kreis und fingen an, im grünen Gras herumzutanzen. Als der erste Sonnenstrahl die Erde traf, hüpften sie wieder in ihre Wasserwohnung zurück. Da ich gern näher mit ihnen bekannt werden wollte, so beschloss ich, noch eine Nacht am Brunnen zuzubringen, und baute mir in der Nähe eine kleine Hütte. In der nächsten Nacht erschienen sie richtig wieder und kamen dicht an meinen Wigwam heran. Um mich nun allen auf einmal bemerklich zu machen, sprang ich plötzlich in ihren Kreis; aber dies schien sie nicht im Geringsten zu kümmern, denn sie tanzten um mich herum und einige hüpften sogar über mich weg. Als ich sah, das sie gar keine Notiz von mir nahmen, fing ich an, so laut zu rufen, wie ich nur konnte; aber sie taten, als hörten sie es nicht und tanzten lustig weiter.

Das muss anders angegriffen werden, dachte ich bei mir selber und ging auf die schönste Jungfrau los und umarmte sie. Aber wen zog ich an meine Brust? Einen Schatten, ein lebloses Trugbild. Ich ergriff eine andere, machte aber dieselbe Erfahrung. Am nächsten Morgen verschwanden sie wieder. Ich sank durch die zweifachen Nachtwachen in tiefen Schlaf. Da geschah es, dass der Manitu der Träume zu mir herabstieg und Folgendes sprach: ›Nantikoke, die Schatten, welche dir nächtlich erscheinen, sind die Geister des Brunnens. Sie haben ihre eigene Welt. Der Meister des Lebens hat sie so geschaffen, dass sie von der übrigen nichts wahrnehmen!‹

›Aber wie muss ich es anfangen, dass mich die schöne Jungfrau, die ich umarmte, auch sieht?‹

›Höre! Mache dir aus den Weinreben, die keine Beeren tragen, ein langes Seil und binde einen flachen Sandstein mit hellen Flecken daran. Diesen lasse dann in den Brunnen und sprich: ›Komm hervor, schöne Jungfrau mit den hellen Augen, und nimm einen menschlichen Körper an, sodass du auf der oberen Erde wohnen und meine Frau werden kannst!‹

Ich folgte seinem Rat und hatte es nicht zu bereuen; denn ich drückte die blühende Jungfrau bald als liebende Gattin an meine Brust. Brüder, ich bin zu Ende!«