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Der Detektiv – Die Festung des Ali Azzim – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient

Die Festung des Ali Azzim

2. Kapitel

Im Kino in Suez

Er sprang auf. Ein langer Satz, und er hatte beide Büchsen in der Hand, reichte mir die eine, entsicherte seine Waffe schnell, legte auf die beiden Genge an und rief: »Keinen Schritt, keine Bewegung! Hebt die Hände hoch! Vorwärts! Ich habe euch längst durchschaut!«

Die beiden gehorchten. Dann musste ich sie binden, während Harst im Anschlag achtgab, dass sie nicht entschlüpften. Nun saßen sie wehrlos am Feuer und wir ihnen gegenüber.

»Zieh ihnen die Kapuzen herunter, Schraut«, meinte Harst mit leiser Ironie. »Du wirst sehen, dass die Herren die Haut nur bis zum Nacken gefärbt haben. Die Bärte sind auch falsch. Herunter also damit.«

So kamen zwei Gesichter zum Vorschein, die mir unbekannt waren, die Harst aber sogleich mit den Worten begrüßte: »Dachte ich mir! Es sind Warbattys Spießgesellen aus Kairo, die dort neben ihm wohnten und gestern angeblich mit dem Dampfer nach Siut fahren wollten. Schraut, durchsuche sie genau.«

Ich tat es. Aber sie hatten nichts für uns Wichtiges bei sich.

Bisher waren die beiden Europäer völlig stumm geblieben. Nun aber sagte der eine: »Monsieur Harst (er sprach ein tadelloses Französisch), im Zipfel meiner Kapuze befindet sich ein Brief für Sie.«

Harst entnahm der Kapuze einen dort festgehefteten kleinen Umschlag, der seine Anschrift trug. Darin lag eine etwas zerknüllte Karte und auf diese war mit Bleistift in englischer Sprache geschrieben:

Harald Harst! Du willst den Kampf! Ich hatte dich gewarnt. Ich habe dich durch meine Leute auf die Probe gestellt. Du hast nun die erste feindselige Handlung gegen mich unternommen. Ich werde dich nicht schonen! Cecil Warbatty.

Harst hatte mir die Karte zu lesen gegeben.

Ich gestehe ruhig ein: Mir wurde unheimlich zumute. Dieser Verbrecher spielte geradezu mit uns wie die Katze mit armseligen Mäusen.

Harst nahm mich beiseite. »Du, jetzt wird es ernst! Bitterer Ernst! Nein, dieser Warbatty! Was fangen wir jetzt nur mit den beiden Leuten an? Sie wissen jetzt, dass wir nach Suez wollen. Das ist am unangenehmsten. Wir haben ihnen zwar erst hinter Atsih die Wahrheit gesagt, dass wir nicht Chartum, sondern Suez besuchen wollen. Aber sie können sehr leicht heimlich einen Zettel für Warbatty mit einer entsprechenden Nachricht weggeworfen haben. Eine üble Lage! Mitnehmen können wir die Burschen nicht. Das eine Kamel lahmt ja. Und hier an dieser Stelle bleibe ich keine fünf Minuten mehr. Vielleicht ist Warbatty schon hinter uns her.«

Ich bekam keinen schlechten Schreck.

»Am besten, wir lassen die Kerle in dieser Schlucht und nehmen ihre Tiere und Waffen mit«, meinte Harst nach kurzem Nachsinnen. »Ja, tun wir es. Schnell, Schraut, sieh zu, ob du mit dem Satteln der Kamele fertig wirst.«

Er kehrte zu den beiden Spießgesellen Warbattys zurück, sprach mit ihnen, half mir dann beim Festschnallen der Wasserschläuche und der Satteltaschen.

Ich merkte ihm an, dass auch er jeden Augenblick eine heimtückische Kugel fürchtete. Aber es geschah nichts.

Die Gefangenen baten, sie doch nicht gefesselt zurückzulassen. Harst rief ihnen zu, sie sollten sich nachher Rücken an Rücken setzen und sich so die Handfesseln aufknoten.

Dann verließen wir die Schlucht. Die Beduinenmäntel hatten die falschen Genge hergeben müssen. Wir wollten sie als Decken benutzen.

Harst spielte nun den Führer, lenkte in eine sandige Ebene ein und gab die beiden überflüssigen Kamele in der Nähe eines Dorfes, das wir im Bogen umritten, frei. Erst nach Tagesanbruch wagten wir, wieder in einem steinigen Flussbett zu lagern und abwechselnd zu schlafen.

Inzwischen hatte Harst mir erklärt, weshalb er sehr bald Verdacht gegen unsere »Beduinen« geschöpft hatte. Zunächst ihres Reitens wegen. Dieses war ihm für Leute, die jahrelang den Kamelsattel gewöhnt sind, doch zu unbeholfen erschienen. Dann auch ihr »schlechtes« Englisch. Sie hatten Redewendungen gebraucht, die nur jemand bereit hat, der im englischen firm ist. Schließlich noch die Augen des einen Genge: graublau, ein recht helles Graublau. »Unter den Arabern ist diese Farbe so selten wie unter Deutschen die sogenannten Albino-Augen, also rote«, hatte er erklärt.

Als wir dann nachmittags um vier wieder aufbrachen und nach einer Stunde Trab in Schritt übergingen, sagte Harst nun schon wieder recht angeregt und nicht minder guter Laune: »Warbatty hat mit diesem Trick, mit diesem Einschmuggeln seiner Kumpane anstelle der wirklichen Kamelbesitzer fraglos noch etwas anderes beabsichtigt gehabt, als nur eine Probe, ob ich den Kampf gegen ihn fortzuführen gedachte. Ich bin mir über diese versteckte Absicht noch nicht recht klar. Und ich gebe zu: Es beunruhigt mich ein wenig, Warbatty nicht ganz zu durchschauen.«

Ich hatte schon längst eine Frage an ihn richten wollen, mich aber gescheut, sie zu stellen, um mich nicht zu blamieren. Nun, wo er mitteilsamer als bisher war, wagte ich es.

»Die echten Kamelbesitzer sind also von den beiden Genge überfallen worden, als sie zu der Stufenpyramide zu uns unterwegs waren?«, meinte ich.

»Überfallen? Das glaube ich nicht. Nein, es wird alles in vollem Frieden mithilfe von Geld sich abgespielt haben. Mezzan wird in Heluan im Eingeborenendorf nach Reitkamelen und zwei Führern gefragt haben. Dabei ist er beobachtet worden. Als die echten Araber dann unterwegs zu uns waren, wird Warbatty sie bestochen haben. Ihm kommt es auf Geld nicht an. Wer so viel stiehlt wie er, kann auch mal vier Kamele kaufen und die bisherigen Besitzer durch eine Draufgabe zum Schweigen verpflichten. Ein Raub der Tiere und ein damit verbundener Gewaltakt gegen die Eigentümer hätte zu viel Aufsehen erregt. Beweis für diese meine Annahme ist die Karte Mezzans mit Letzte Grüße! Der, dem er sie für uns übergab, hätte den Besitz dieser Karte wohl verschwiegen, wenn eben nicht Geld ihn gelockt hätte. Es ist schon so, lieber Schraut! Warbatty hat es sich etwas kosten lassen, mir seine Kriegserklärung in der Kapuze zukommen zu lassen. Ja, er ist eben kein gewöhnlicher Verbrecher. Ich möchte fast behaupten, er ist geistig nicht normal. Die entsetzliche Kaltblütigkeit, mit der er mordet, hat etwas an sich, das auf einen geistigen Defekt hinzuweisen scheint. Nun, sei dem wie ihm wolle, er muss unschädlich gemacht werden.«

Dann trabte er wieder an.

Zwei Tage drauf gegen Mittag näherten wir uns Suez von Süden her, indem wir dem sandigen Ufer des Nordzipfels des Golfes von Suez folgten. Als wir an einer armseligen Hütte eines Gärtners vorüberkamen, der allerlei Gemüse für den Verkauf in der noch zwei Kilometer entfernten Kanalstadt anbaute, schenkte Harst dem braunen Männchen – es war ein kleiner, fast weißbärtiger Alter – unsere Tiere und verpflichtete den Überglücklichen nur zum Stillschweigen über diese Spende. Wir blieben bis zum Abend in Mehemed ben Garzas Hütte. Harst benutzte diese Stunden, sowohl den gutmütigen Mehemed als auch dessen zahnlose und abschreckend hässliche Frau gehörig auszufragen.

Der Gärtner kannte jeden Menschen, jedes Haus in Suez, wusste in der Eingeborenenstadt genauso gut Bescheid wie im Europäerviertel. Harst forschte mit aller Vorsicht nach einem Mann, der klein, dürr und nur noch im Besitz von neun Fingern sei, also nach Warbatty. Die Möglichkeit lag ja immerhin vor, dass Mehemed auch Cecil Warbatty in Suez begegnet war, denn dieser musste dort notwendig einmal längere Zeit geweilt haben, um den großen Schlag vorzubereiten oder doch wenigstens hierzu das Terrain zu sondieren; diesen großen Schlag, über den wir noch nicht das Geringste ahnten und den wir doch vereiteln wollten.

Nein, Mehemed kannte keinen Neunfingerigen. Nur einen Einarmigen. Aber der nutzte uns nichts.

Nach Dunkelwerden schritten wir mit unseren Bündeln auf dem Rücken (die Gewehre hatten wir bei Mehemed untergestellt) der Stadt zu; nun als Seeleute, Heizer von irgendeinem Dampfer, in schmierigen Leinenanzügen und kleinen Schlappmützen, mit leicht geschwärzten Gesichtern und Stummelpfeifen im Mundwinkel. Harald stellte einen Irländer mit knallroten Haaren dar, ich einen pechschwarzen Matrosen aus Südfrankreich. Die Kostüme hatte uns Mehemed besorgt. Er hatte so sonderbar gelächelt, als Harst ihm lachend erklärte, wir wollten nur mal das Leben und Treiben in den Hafenkneipen genau kennen lernen. Ich war überzeugt: Er glaubte uns nicht, dass wir lediglich englische Touristen, behaftet mit einem leichten Spleen, seien.

Auch Harst sagte nun zu mir, als wir in die erste Straße des Europäerviertels einbogen und uns so ganz plötzlich mitten in modernste Kulturerrungenschaften versetzt sahen: »Mehemed ben Garza ist ein ganz heller Kopf. Sein Lächeln war recht bezeichnend. Er hält uns sicher für das, was wir sind: für Leute, die Verbrechern nachstellen. All diese Einheimischen hier haben durch den Kanal, durch den ständigen Verkehr mit Europäern, ihren Gesichtskreis erweitert. Donnerwetter, ist das hier nicht beinahe eine Leipziger Straße im Kleinen.«

Er hatte mit dieser Bemerkung nur meine eigenen Gedanken ausgesprochen. Eine Überfülle elektrischen Lichtes verwandelte die Dunkelheit in strahlende Helle.

Als wir dann gar in die Hauptstraße einbogen, als auf den breiten Bürgersteigen Scharen von weißen und braunen Menschen uns entgegenfluteten, als wir eilig dahingleitende Autos, leichte Wägelchen und so zahlreiche schicke gekleidete Europäerinnen sahen, da meinte Harst kopfschüttelnd: »Für eine Stadt von 18.000 Einwohnern doch alles Mögliche! Sogar eine Zigeunerkapelle spielt dort in dem Café. Schau an. Und da: ein Kino! Wie wär es, Chartrieux, wollen wir für eine halbe Stunde uns etwas vorflimmern lassen? Es gibt einen englischen Detektivfilm. Also was für uns! Unsere Arbeit können wir doch erst gegen Mitternacht beginnen.«

»Unsere Arbeit?« Ich war überrascht stehen geblieben.

Aber Harst zog mich schon in den Eingang des Hauses hinein und bezahlte zwei Plätze im Parkett.

Wir kamen mitten in den zweiten Akt hinein, gerade als der Meisterdetektiv auf eine Fabrikesse kletterte, um dort oben nach einem gestohlenen Geheimvertrag zu suchen.

Dann war der Akt zu Ende. Das Licht flammte auf. Wir gingen an den kleinen Schanktisch und ließen uns Whisky Soda geben, setzten uns in zwei Korbsessel in eine Ecke und beobachteten das zumeist aus Strohhalmen Eislimonade saugende Publikum. Es war eine recht bunt gemischte Gesellschaft. So ziemlich alle Menschenrassen waren vertreten.

Plötzlich öffnete sich eine Gasse in der das Büfett umdrängenden Menge. Ein Araber mit tiefschwarzen Bart in blendend weißem, aus feinstem Wollstoff bestehendem Burnus, der noch ein Stück auf der Erde schleppte, schritt hinkend und auf einen Stock mit goldener Krücke sich stützend dem Schanktisch zu.

Er musste eine stadtbekannte, sehr angesehene Persönlichkeit sein. Sonst hätten ihm die Kanalangestellten und die Eingeborenen nicht so eilig und mit einer gewissen freundlichen Unterwürfigkeit Platz gemacht.

Hinter ihm ging ein riesiger Neger her, der einen weißen Leinenanzug in Livreeschnitt trug. Dieser Schwarze hatte einen Brustumfang und eine Muskulatur, die auf ungeheure Kräfte hindeuteten. Jede seiner Bewegungen war kraftverratend und gewandt.

Am Büffet rückte der Neger für seinen Herrn einen hochsitzigen Bambusschemel heran. Der Araber setzte sich, sprach leise mit dem tief dienernden Schankkellner, einem Holländer dem Äußeren nach.

Im Zuschauerraum ertönte das Klingelzeichen für den nächsten Akt. Der Araber hatte gleichfalls Limonade geschlürft, winkte nun dem Neger zu, der dann auch sofort verschwand. Offenbar wollte sein Herr ihm den Genuss der Fortsetzung der Detektivkomödie nicht rauben und sich nun hier ohne ihn behelfen.

Der Schankraum leerte sich schnell. Nur der Araber und wir beide blieben sitzen.