Oberhessisches Sagenbuch Teil 52
Oberhessisches Sagenbuch
Aus dem Volksmund gesammelt von Theodor Bindewald
Verlag von Heyder und Zimmer, Frankfurt a. M., 1873
Werwolf in Bobenhausen
In einem Frühjahr hatte sich einmal eine Nachtigall nach Bobenhausen verirrt und erfüllte mit ihrem himmelsüßen Gesang alle Abend die Gärten auf der Ostseite des Dorfes, sodass jedermann hinauslief und das in der hohen Gebirgsgegend so seltene Vöglein hören wollte. Aus derselben Veranlassung hatte sich auch eine Frau, die ihr Kind auf dem Rücken trug, zu später Stunde dahin begeben. Wie sie in die Nähe des ehemaligen Bleichgartens der Pfarrei kam, wo es nach dem Geschwätz der Leute niemals ganz just gewesen sein sollte, sah sie in der mondhellen Nacht etwas Zottiges und Schwarzes daherkommen. Und wie sie es recht gewahr wurde, war es ein fürchterlich großer Werwolf mit weit abgerissenem, fleischroten Rachen, blinkenden Zähnen und lang heraushängender Zunge, der grimmig sie zu verschlingen drohte. Zu Tode erschrocken sprang sie die Hecke entlang, flüchtig wie ein Reh, rückwärts. Aber auf der anderen Seite derselben, nicht minder schnell, folgte ihr der schnaubende Unhold auf dem Fuß nach. Atemlos vom eiligen Rennen gelangte sie an eine Lücke des Bleichgartens und gedachte eben durch dieselbe zu entwischen, als sie von unsichtbarer Hand einen sehr starken, schmerzlichen Schlag auf dem Rücken verspürte. Gleichzeitig, sie begriff nicht, wie es zuging, fielen ihr auch alle Kleider, die sie anhatte, vom Leibe. Zitternd wie Espenlaub und schandbar entblößt stand sie da. Ihr Kind aber flog wie ein Ball über die Hecke hinweg, über einen Birnbaum mitten im Garten hinaus, und schlug dann bolzengrade nieder zur Erde. Die Frau raffte, so flink sie konnte, ihre Kittel (Röcke) vom Boden auf, stieß, ihrem entrückten Kind mit Verzweiflung nachblickend, den gellenden Angstschrei »Ach, du lieber Gott, mein Kind!« aus und rannte dann blindlings in den Garten. Siehe, da war auf einmal der Werwolf weg. Ihr Kind aber fand sie unversehrt im Gras liegen.