Review: Das unsichtbare Band
Mandy Martin
Das unsichtbare Band
Eine Horror-Kurzgeschichte
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 19. Dezember 2006
Der Tag, an dem mein Bruder Michael beerdigt wurde, war grau und trübe. Als wir auf dem Friedhof standen, begann es zu regnen. Aber all dies nahm ich nur am Rande wahr, denn mit meinen Gedanken war ich in der Vergangenheit. In einer Zeit, wo er noch gelebt und gelacht hatte.
Ich hörte die Worte des Pfarrers nicht, der sagte, man müsse irgendwann von jedem Abschied nehmen und dass das Leben auf der Erde zeitlich begrenzt sei. Ich wollte es nicht wissen, denn ich vermisste Michael. Er war viel mehr als ein Bruder für mich gewesen – ein echter Freund und Vertrauter, dem ich alles hatte sagen können, was mich bedrückte.
Michael hatte immer ein offenes Ohr für meine Probleme gehabt. Viel mehr noch. Er hatte sogar oft eine Lösung gewusst, wenn ich mit meinem Latein schon längst am Ende gewesen war.
Aber jetzt würde er mir nicht mehr helfen können. Er war gestorben. Ganz plötzlich letztes Wochenende. Niemand hatte damit gerechnet. Er war mit einigen Freunden in die Stadt gefahren, um am Samstagabend in die Disco zu gehen. Auf dem Weg dorthin hatte ihnen jemand die Vorfahrt genommen, und dann war dieser schreckliche Unfall passiert.
Die zwei Freunde von Michael, die mit im Wagen gesessen hatten, waren mit leichten Verletzungen davongekommen. Mein Bruder dagegen war tödlich verunglückt. Er hatte sich das Genick gebrochen und war noch am Unfallort verstorben. Ohne eine Chance auf Rettung …
Ich blickte in die Gesichter von Frank und Christoph, die natürlich mit zur Beerdigung gekommen waren. Sie waren ziemlich blass und nervös und blickten sehr betroffen drein, als sie zu meinen Eltern gingen und ihnen am Grab ihr Beileid aussprachen.
Als Frank kurz darauf vor mir stand, würdigte ich ihn keines Blickes. Genauso wenig wie Christoph. Denn sie waren in meinen Augen schuld an Michaels Tod gewesen. Weil sie ihn dazu überredet hatten, mitzukommen. Da nützte es auch nichts mehr, wenn sie jetzt vor mir und allen anderen Trauergästen Reue zeigten. Nichts davon würde Michael mehr zurückbringen. Er war gegangen – und zwar für immer!
Ich wusste selbst nicht, wie ich es schaffte, die Kondolenzbekundungen aller Trauergäste über mich ergehen zu lassen. Meine Eltern waren da viel gefasster als ich. Und manchmal kam es mir vor, als wenn sie gar keinen Schmerz über den Verlust ihres Sohnes verspürten. Das stimmte aber nicht – aber das wurde mir erst viel später klar.
Ich konnte nicht mitgehen in das Lokal, in das man alle Trauergäste eingeladen hatte. Weil dies nach einer Beerdigung so üblich war. Ich hätte keinen Bissen hinunter bekommen. Meine Eltern hatten dafür Verständnis und ließen mich deshalb allein. Ich hatte ihnen gesagt, dass ich noch eine Zeit lang auf dem Friedhof bleiben und dann nach Hause gehen wollte.
Was die anderen Verwandten davon hielten, interessierte mich nicht sonderlich. Ich hatte ohnehin keinen intensiven Kontakt zu ihnen. Deshalb ignorierte ich ihre kopfschüttelnden Blicke und war stattdessen erleichtert, als die Trauergemeinde den Friedhof verließ und ich endlich allein war.
Den leichten Nieselregen spürte ich gar nicht, als ich noch vor dem Grab stehen blieb und zusah, wie die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens ihre traurige Pflicht verrichteten. Es war ihnen wahrscheinlich nicht recht, dass ich jetzt dabei zusah, wie sie Erde auf den Sarg warfen und das Grab zuschütteten. Aber ich blieb dennoch stehen und sah zu.
Erst als der Regen ein wenig stärker wurde, wandte ich mich seufzend ab und suchte eine trockene Stelle auf, wo ich das Ende des kurzen, aber umso heftigeren Schauers abwartete. Bis auf die Männer an Michals Grab war kein Mensch mehr auf dem Friedhof, und das weite, mit zahlreichen Büschen und Bäumen bewachsene Areal kam mir jetzt seltsam verloren und schrecklich einsam vor.
Jenseits der Friedhofsmauer befand sich die Welt der Lebenden – aber zumindest jetzt schien sie unendlich weit entfernt zu sein. Selbst der Verkehrslärm von der gut befahrenen Zubringerstraße in Richtung Stadtmitte drang jetzt nur verhalten zu mir herüber. Als wenn irgendeine Macht dafür gesorgt hätte, dass nichts und niemand die Ruhe der Toten zu stören wagte!
Ich wollte mich schon wieder abwenden und zum Ausgang des Friedhofes gehen, als mir plötzlich eine schattenhafte Bewegung zwischen den alten Pappeln auffiel. Sofort blieb ich stehen und blickte noch einmal in die betreffende Richtung.
Aber da war nichts. Ich musste mich getäuscht haben. Wahrscheinlich waren meine aufgekratzten Nerven daran schuld, dass ich auf einmal Dinge wahrzunehmen glaubte, die in Wirklichkeit gar nicht existierten.
Ich hatte das große Friedhofstor schon fast erreicht, als ich erneut stehen blieb und mich fast unter Zwang wieder umdrehte. Ich schaute zurück auf den großen Schotterweg, der direkt hinauf zur Friedhofskapelle führte. Und unweit davon stand auf einmal eine Gestalt in einer dunklen Jacke. Reglos und still wie eine Statue.
Ich zuckte zusammen, als mir auf einmal etwas vertraut an dieser Gestalt erschien. Groß und schlank war der Mann, mit lockigen dunklen Haaren.
»Das… das ist doch …«, keuchte ich fassungslos. »Michael …?«
Der Name meines Bruders kam einem Flüstern gleich. Weil das gar nicht sein konnte. Michael lebte nicht mehr. Er war tot und begraben – und er würde niemals mehr zurückkehren in die Welt der Lebenden!
Als der Mann bei der Kapelle sich auf einmal abwandte, konnte ich nicht länger untätig stehen bleiben. Ich beeilte mich, den Weg zurückzulaufen. Ich wollte Gewissheit haben, dass ich mich getäuscht hatte.
Aber als ich dann den kleinen Schotterweg erreichte, der um die Kapelle herum führte, war niemand mehr da. Suchend blickte ich mich nach allen Seiten um. Aber ich konnte den Mann nicht mehr sehen. Seltsamerweise war er von einer Sekunde zur anderen ganz plötzlich verschwunden.
»Gehen Sie nach Hause, junge Frau«, erklang auf einmal eine Stimme seitlich hinter mir.
Im ersten Moment war ich so erschrocken, dass mir die Worte fehlten. Es war einer der Männer des Beerdigungsinstitutes, der an mich herangetreten war, ohne dass ich etwas bemerkt hatte. Sein Blick spiegelte Sorge und auch Verständnis für meine Lage wider.
»Es nutzt nichts, wenn Sie jetzt noch länger hierbleiben«, sprach er weiter. »Das ist kein Ort für Sie …«
»Haben Sie einen jungen Mann gesehen?«, fragte ich ihn stattdessen. »Ungefähr einsneunzig groß, schwarze Haare und mit einer dunklen Jacke bekleidet? Er sah aus wie …«
Ich brach in dem Moment ab, als mir klar wurde, was ich gerade hatte sagen wollen. Und der Mann wusste das. Er schüttelte nur kurz den Kopf.
»Hier war niemand«, sagte er. »Weder jetzt noch vorhin. Sie müssen sich getäuscht haben.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte ich seufzend und wandte mich dann ab. Ich hatte es auf einmal sehr eilig, das Friedhofsgelände zu verlassen. Und ich blickte kein zweites Mal zurück zur Kapelle. Weil ich mich davor fürchtete, Dinge zu sehen, die nur in meiner Fantasie existierten!
*
»Maren, du musst wieder zu dir selbst finden«, sagte meine Mutter zu mir, als ich sie am späten Nachmittag besuchte. »Michael würde es sicher nicht wollen, dass du wegen ihm alles andere ignorierst.«
»Hast du ihn schon so schnell vergessen?«, fragte ich gereizt. Bruchteile von Sekunden später tat es mir sehr leid, was ich gerade gesagt hatte. Denn meine Mutter zuckte sichtlich zusammen und wurde ein wenig blass. Am Zittern ihrer Hände bemerkte ich, dass ihr diese Bemerkung sehr zugesetzt hatte.
»Es … es tut mir leid«, fügte ich hastig hinzu. »Mama, ich wollte das nicht. Aber ich werde einfach nicht damit fertig, dass Michael …«
»Keiner wird das jemals verstehen, Maren«, erwiderte meine Mutter und ging mit feuchten Augen auf mich zu. Sie schloss mich in die Arme und drückte mich ganz fest. Es tat gut in diesem Moment, den Schmerz miteinander zu teilen. Vor allen Dingen jetzt, wo die Trauergäste alle gegangen waren und wir drei in dem großen Haus in Grünwald zurückbleiben mussten. Die Stille war so deutlich spürbar, dass man sie fast mit den Händen greifen konnte!
Ich löste mich seufzend aus den Armen meiner Mutter, als ich draußen vor der Tür schwere Schritte hörte. Augenblicke später öffnete mein Vater die Tür zum Wohnzimmer und trat ein. Er sah aus, als hätte er drei Tage lang nicht mehr geschlafen. Seine Augen waren ein Spiegelbild seiner Seele. Michael – auf ihn war Papa so stolz gewesen. Denn vor wenigen Wochen hatte er ein Stipendium bekommen, was ihm Tür und Tür für seine weitere Zukunft geöffnet hätte. Stattdessen hatte das Schicksal alles zerschlagen!
Er nickte mir nur kurz zu. Ihm war nicht nach Sprechen zumute. Er konnte nicht weinen. Nicht in meiner Gegenwart. Das machte er ausschließlich mit sich selbst aus. Mein Vater war kein Mann, der seine Gefühle offen zeigen konnte. Und dennoch wusste ich, dass er Michael und mich immer geliebt hatte.
»Ich gehe jetzt hinauf«, sagte ich und ließ meine Eltern im Wohnzimmer zurück. Ich hatte es eilig, meine eigenen vier Wände zu erreichen und die Tür hinter mir endlich zuzuschließen. Als dies geschehen war, ließ ich meinen Emotionen freien Lauf. Ich warf mich aufs Bett und weinte um meinen Bruder.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort ausgeharrt und gegrübelt hatte. Als ich mich erhob und mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln wischte, war draußen schon die Dämmerung hereingebrochen. Kopfschüttelnd blickte ich auf meine Armbanduhr und stellte dann fest, dass es wirklich schon nach 18.00 Uhr war.
Ich ging zum Fenster und blickte hinaus in den Garten. Es war alles vorhanden, was einem das Leben angenehm machte. Ein großer Garten, ein behaglich eingerichtetes Haus in einem schönen Wohnviertel und ein guter Job, mit dem mein Vater uns alle bisher ernährt hatte. Ich selbst stand schon seit einem guten Jahr beruflich auf eigenen Füßen und wohnte aber trotzdem noch zuhause. Denn die Gemeinschaft meiner Familie war mir bisher immer sehr wichtig gewesen – zumindest bis letzte Woche. Jetzt war sie nicht mehr vollständig, und sie würde es nie mehr sein …
Meine Blicke schweiften über den großen Garten mit den alten Bäumen. Hinüber zur Straße und dem gegenüber liegenden Park. Dann sah ich auf einmal wieder den Mann mit der dunklen Jacke. Der Wind fuhr durch sein lockiges Haar und wirbelte das bunt gefärbte Herbstlaub zu seinen Füßen ein wenig durcheinander. Der Mann hatte die rechte Hand erhoben und winkte mir kurz zu.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als mir bewusst wurde, dass dies kein Zufall mehr war. Auf einmal konnte ich es in meinem Zimmer nicht mehr aushalten. Rasch riss ich die Tür auf und eilte die Treppe hinab. Dann öffnete ich die Haustür und lief hinaus in den Garten.
Der Mann war immer noch da – und als ich näher kam, entdeckte ich auf einmal die Gesichtszüge meines Bruders. Das war Michael!
»Warte!«, rief ich und winkte ihm heftig zu. Ich war froh, als ich ihn lächeln sah und vergaß die Stunden der Trauer auf dem Friedhof. Weil ich auf einmal begriff, dass Michael überhaupt nicht tot war. Da drüben auf der anderen Straßenseite stand er doch und winkte mir zu so, wie er es immer getan hatte. »Michael, ich komme!«
Ich war schon im Begriff, die Straße zu überqueren, als ich erst jetzt das schrille Quietschen von Reifen hörte. Erschrocken registrierte ich, dass ich beinahe in einen Mercedes gelaufen wäre, dessen Näherkommen ich überhaupt nicht bemerkt hatte!
»Verdammt noch mal – können Sie denn nicht aufpassen?«, hörte ich die zornige Stimme des Mannes am Steuer.
Ich antwortete nicht, denn ich suchte Michael. Aber er war nicht mehr da. Erneut war er verschwunden von einem Augenblick zum anderen. Völlig ratlos rieb ich mir über die Augen. Ich hatte doch nicht geträumt! Was ich gesehen hatte, konnte doch keine Ausgeburt meiner Trauer sein!
»Maren!«, rief meine Mutter jetzt hinter mir. Sie und Papa standen am schmiedeeisernen Hoftor und hatten voller Entsetzen mitbekommen, dass beinahe ein Unfall geschehen wäre. Mein Vater war so schockiert, dass er kurz wankte. Weil ihm bewusst wurde, dass er beinahe sein zweites Kind durch einen weiteren Unfall verloren hätte.
»Da … da drüben war Michael!«, rief ich voller Überzeugung, während der genervte Autofahrer schon wieder Gas gab und einfach weiter fuhr. »Ich habe ihn deutlich erkannt und …«
Mein Vater biss die Zähne zusammen und wandte seine Blicke ab. Aber ich hatte trotzdem erkennen können, dass es in seinen Augen feucht schimmerte. So sehr hatten ihn meine Worte getroffen.
»Maren, komm jetzt bitte rein – du weißt, dass das nicht sein kann«, redete meine Mutter auf mich ein. »Das ist die Aufregung. Am besten legst du dich hin und schläfst dich aus …«
Als ich immer noch keine Anstalten machte, mitzukommen, griff sie einfach nach meinem Arm und zog mich mit. Ich ließ es mit mir geschehen, weil ich immer noch hinüber schaute auf die andere Seite der Straße. Dort, wo der Park begann.
*
Ich versuchte zu schlafen, aber ich konnte es lange Zeit nicht. Immer wieder wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Mitternacht war schon längst vorüber und der Morgen nicht mehr fern, als sich mein Körper endlich entspannte und ich schlief. Tief und fest.
Und dann kamen die Träume. So intensiv und echt, dass ich alles ganz deutlich vor mir sah. Es war mitten in der Nacht, und ich hatte das Haus verlassen. Etwas zog mich förmlich hinüber in den Park. Es war eine Stimme, die mich gerufen hatte, aber ich hatte sie nicht genau verstehen können. Ich wusste nur, dass ich mich beeilen musste, wenn ich nicht zu spät kommen wollte.
Ich spürte die Kälte der Nacht auf meiner Haut, denn ich trug nur ein kurzes Nachthemd. Um diese Jahreszeit war es schon empfindlich kalt – erst recht zu dieser späten Stunde. Aber ich ignorierte das Frösteln, das meinen ganzen Körper zittern ließ und hielt weiterhin Ausschau. Ich wusste, dass ich dort irgendwo zwischen den Büschen und Bäumen das finden würde, wonach ich suchte.
Maren, hörte ich plötzlich eine flüsternde Stimme. Direkt in meinem Kopf. Maren, komm näher …
Natürlich kannte ich diese Stimme. Unter hundert anderen hätte ich sie sofort erkannt. Sie gehörte meinem Bruder Michael. Er war es, der nach mir gerufen hatte, und ich spürte, dass er mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Etwas, das keinen Aufschub mehr duldete.
»Michael, wo bist du?«, rief ich zaghaft in den dunklen Park hinein und erschrak, als genau in diesem Augenblick ein heftiger Windstoß aufkam und das Laub zu meinen Füßen ziemlich durcheinanderwirbelte.
Und dann sah ich ihn! Michael trug immer noch dieselbe dunkle Jacke, mit der ich ihn heute schon zweimal gesehen hatte. Er stand ganz still unweit eines Rosenstrauches und schien mir einladend zuzulächeln. Aber seine Augen waren ungewöhnlich ernst – und traurig zugleich.
»Ich wusste es!«, rief ich mit erleichterter Stimme. »Du bist nicht tot, Michael. Komm doch zurück zu uns ins Haus und …«
Das geht nicht, Maren, hörte ich seine Stimme, ohne dass er die Lippen bewegte. Ich kann nicht mehr mit dir kommen, und das weißt du. Du musst mich gehen lassen, sonst werde ich mich verirren …
»Was … Was meinst du damit?«, fragte ich ihn, weil mir seine Bemerkung Dutzende von Rätsel aufgab. Gleichzeitig spürte ich, dass er sich wieder von mir zu entfernen begann. Nur einige wenige Schritte – und immer dann, wenn ich weiter auf ihn zuzugehen versuchte.
Du darfst mir nicht folgen, Maren, hörte ich wieder seine Stimme. Mir erschien es, als wenn sie noch eine Spur trauriger klang. Die Entfernung zwischen mir … und den anderen wird immer größer. Bald ist es zu spät, und der Weg wird ganz verschlossen sein. Quäle mich nicht länger mit deiner Trauer – sie ist ein Hindernis auf meinem Weg …
»Was für ein Weg, Michael?«, bohrte ich weiter und versuchte nach seiner Hand zu greifen. Aber er entzog sie mir und entfernte sich wieder einige Schritte. »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst und …«
Du musst loslassen, Maren. Sonst wirst du nie darüber hinweg kommen. Ich will das nicht. Du lebst noch, und du darfst das Leben nicht vergessen. Sei sicher – ich werde dich nie vergessen.
»Aber es ist so … ungerecht!«, entfuhr es mir, während ich erneut die Tränen auf meinen Wangen spürte. »ich vermisse dich so sehr, Michael.«
Ich werde auch immer in deinem Herzen bleiben, Maren, flüsterte die Stimme, während sich zu Michaels Füßen auf einmal ein feiner weißlicher Nebel zu bilden begann, der sich rasch ausbreitete. Nur bin ich kein Teil dieser Welt mehr. Dort, wo ich jetzt bin, gibt es keine Sorgen mehr – und ich möchte meinen Weg jetzt fortsetzen. Schwester, lass mich jetzt bitte los. Es ist besser …
»Wohin gehst du, Michael?«, rief ich ihm mit verzweifelter Stimme zu, als sich der Nebel auf einmal zu verstärken begann und seine Gestalt auf einmal umhüllte. »Ich habe dir noch so viel zu sagen und …«
Aber das Lächeln, das sich auf einmal auf seinen Gesichtszügen widerspiegelte, war nicht von dieser Welt. Für mich schien es so, als wenn Michael etwas erblickt hatte, das nur er sehen konnte. Etwas, woran man ihn auf keinen Fall mehr hindern durfte …
In diesem Augenblick erwachte ich aus meinem Schlaf. Sekunden vergingen, bis ich begriff, dass ich in meinem Bett lag und schweißgebadet war.
Rasch schlug ich die Bettdecke beiseite und eilte zum Fenster. Ich zuckte zusammen, als ich den Nebel sah, der sich drüben beim Park gebildet hatte und sich jetzt rasch ausbreitete. Einige der Bäume waren schon gar nicht mehr zu erkennen.
Aber genau dort, wo ich in meinem Traum Michael gesehen hatte, glaubte ich tatsächlich die Umrisse seiner vertrauten Gestalt zu sehen, die mir noch ein letztes Mal zuwinkte. Dann war auch dies verschwunden.
Im ersten Impuls wollte ich rasch aus meinem Zimmer und dann hinüber in den Park laufen. Aber dann erinnerte ich mich wieder an Michaels eindringliche Worte und ließ es bleiben. Stattdessen tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass er recht hatte.
»Er ist jetzt an einem Ort, wo Frieden herrscht«, murmelte ich und seufzte. Dann wandte ich mich wieder vom Fenster ab.
Dieser graue, nebelverhangene Morgen war die eigentliche Stunde des Abschieds zwischen mir und Michael. Die schrecklichen Stunden, als die Nachricht von seinem Tode uns alle ereilt hatte und dann die anschließenden Tage bis zur Beerdigung – alles dies sah ich jetzt in einem anderen Licht.
Weil ich auf einmal das Leben verstand und erkannte, dass man auch Schicksalsschläge akzeptieren musste. Von dieser Stunde an sah ich mein Leben mit anderen Augen und ich war dankbar dafür, dass ich diese Begegnung mit Michael erleben und spüren durfte. Denn so etwas wird nur wenigen Menschen zuteil.
Michael sah ich nie wieder. Aber ich wusste dennoch, dass er ganz nah bei mir war. Für immer in meinem Herzen. Ein unsichtbares Band, von dessen Existenz nur die Menschen wissen, die so etwas schon einmal erlebt haben …