Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 19
Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 19
China-Queen
Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 05.03.2019
Kurzinhalt:
CHINATOWN – der Bezirk San Franciscos, wo neben dem Zentrum am Portsmouth Square und den Lasterhöhlen in Barbary Coast am meisten nächtliches Leben pulsierte. Hier drängten sich nicht nur die langbezopften Asiaten in ihrer geschäftigen Gangart durch die engen Gassen, sondern auch jede Menge Amerikaner und Angehörige anderer Nationalitäten. Sie suchten die speziellen Vergnügungen, für die Chinatown berühmt war, in den rauchgeschwängerten Opiumhöhlen und den parfümerfüllten Häusern der Freude.
Es war ein Ort, der auch Jacob Adler in seinen Bann schlug. Denn hier residierte eine geheimnisvolle, erotische Frau, die gleichermaßen Schicksal und Erfüllung für den jungen Deutschen werden sollte: die CHINA-QUEEN.
Leseprobe
San Francisco bei Nacht war nicht minder laut und betriebsam als bei Tag, nur auf eine andere Art.
Tagsüber erfüllte die Stadt der Lärm des Hafens. Er zog mit den Menschen, die von den fast stündlich einlaufenden Schiffen kamen, bis auf die zahlreichen Hügel, die San Francisco mit Häusern und Straßen überzogen hatte. Der Lärm goldhungriger Menschen, die sich mit Unterkunft, Verpflegung, einer Goldgräberausrüstung und vor allen Dingen mit Informationen darüber versorgen wollten, wo sie die aussichtsreichsten Diggings fanden. Es war der Lärm von Verhandlungen, Fragen, Antworten, Angeboten, Geschäften.
In der Nacht aber schwang sich der ausgelassene Lärm der Vergnügungen zum König über die Stadt am Golden Gate auf. Gejohle und Gelächter, Musik und Gesang. Laute Stimmen, die nach einem Whiskey brüllten, sich über einen Gewinn beim Monte freuten oder über einen Verlust beim Faro klagten.
Sie drangen aus den großen, von Kronleuchtern erhellten Vergnügungspalästen am Portsmouth Square und aus den kleinen düsteren und schmutzigen Kaschemmen und Spelunken in Barbary Coast oder Sidney Town.
Sie waren Ausdruck des Bedürfnisses nach lautem, grellem Vergnügen, das die hart schuftenden Menschen erstrebten, mochten sie nun Seeleute oder Schauerleute, Barbiere oder Eisenwarenhändler sein.
Oder Goldgräber.
Der neue Goldrausch, der Kalifornien seit fast zwei Jahren gepackt hielt, ließ sie über Land und See in den großen Staat an Nordamerikas Westküste strömen. All jene, die mit dem gelben Metall ihr Glück zu machen hofften. Von diesem glänzenden Metall lebten fast sämtliche Menschen in der Stadt, auch Barbiere oder Eisenwarenhändler. So waren sie alle, jeder auf seine Art, Goldgräber, im Großen oder im Kleinen.
Der Bezirk San Franciscos, wo neben dem Zentrum am Portsmouth Square und der Vielzahl an Lasterhöhlen in Barbary Coast am meisten nächtliches Leben herrschte, war Chinatown.
Durch die engen Gassen der Chinesenstadt drängten sich nicht nur die lang bezopften Asiaten in ihrer geschäftigen, seemannsähnlich wackelnden Gangart, sondern auch jede Menge Amerikaner und Angehörige anderer Nationalitäten. Sie suchten die speziellen Vergnügungen, für die Chinatown berühmt war, in den rauchgeschwängerten Opiumhöhlen und den parfümerfüllten Häusern der Freude.
Aber auch die vielen Werkstätten und Geschäfte, die meistens in den Erdgeschossen der mit kleinen Balkons und allerlei Zierrat geschmückten Häuser lagen, waren nach Mitternacht noch hell erleuchtet. Aus den Werkstätten von Schustern und Juwelieren drang unentwegtes Gehämmer nach draußen, um sich mit dem heiteren Lärm der vergnügungssüchtigen Nachtschwärmer zu vermischen. Aus den Wäschereien zog dichter Dampf ab und aus den Restaurants exotische Düfte.
Das unterschied Chinatown von allen übrigen Vierteln der großen Stadt. Dort gehörte die Nacht allein Lust und Laster. Die fleißigen Chinesen aber schienen rund um die Uhr zu arbeiten, als benötigten sie keinen Schlaf. Dem unkundigen Besucher musste das wie ein Wunder erscheinen. Die Lösung des Rätsels war, dass in Chinatown fast jede Wohnung und jeder Laden gleich von mehreren Parteien gemietet wurde. Die Chinesen arbeiteten, aßen und schliefen in Schichten, und jeder Platz war vierundzwanzig Stunden besetzt.
So fiel auch der mit Fässern beladene Kastenwagen nicht groß auf, der in der Nacht auf den 4. März des Jahres 1864, vom Stadtzentrum kommend, in den Randbezirk von Chinatown einfuhr. Die Chinesenstadt benötigte einen ständigen Zustrom von Waren aller Art, um ihre Menschen, Bewohner wie Besucher, auf jede nur erdenkliche Art zu sättigen. Die Fässer mochten Whiskey oder Rum enthalten, Bier oder Sirup, Lampenöl oder Reinigungsmittel für die Wäschereien. Wichtig war es nur für Lieferanten und Empfänger, dachten zufällige Beobachter, und scherten sich nicht weiter um den Wagen. Sie hätten ganz anders gedacht, hätten sie gewusst, dass die beiden Männer, die mit nur scheinbar gleichgültigen Gesichtern auf dem Kutschbock saßen, das Verhängnis nach Chinatown brachten.
Der Kutscher ließ die beiden plumpen Zugpferde bei einem dunklen Lagerhaus halten. Er hatte die Bremse noch nicht festgezogen, da war sein Begleiter schon in den Schmutz der unbefestigten Straße gesprungen. Der kleine, untersetzte Mann mit dem abstoßenden Rattengesicht eilte davon, schob die speckige Melone in den Nacken und blieb an jeder Seite des großen Gebäudes stehen, um sich sorgfältig umzusehen und in die Nacht hineinzulauschen.
Gelächter und Musik drangen nur schwach zu ihm herüber. Der Wind wehte aus der Richtung, aus der die beiden Männer mit dem Wagen gekommen waren. Wichtig war, er wehte nach Chinatown hinein!
Befriedigt stellte der hellhaarige Kundschafter fest, dass nichts den Plan störte. Das Lagerhaus war einsam und verlassen, wie es der Hai vermutet hatte.
Es war auch kaum anders zu erwarten gewesen. Der Hai von Frisco täuschte sich nie. Nur deshalb hatte er innerhalb weniger Monate die halbe Stadt unter seine dunkle Herrschaft zwingen können. Und in dieser Nacht schickte er sich an, auch die andere Hälfte zu übernehmen.
»Wie sieht’s denn aus, Louis?«, fragte der bullige, gedrungene Al Winkler auf dem Kutschbock.
Wegen seiner baumstammartigen Arme und Beine nannten seine Gefährten den deutschstämmigen Mann in Anlehnung an die massive deutsche Eiche Eichen-Al.
»Rund um das alte Lagerhaus ist es so finster wie das Wasser im Hafen oder die Hinterhöfe von Barbary Coast«, grinste Louis Bremers Rattengesicht. »Kein Langzopf weit und breit.«
Winkler stieß ein befriedigtes Knurren aus und lobte die Voraussicht des Hais.
Bremer nahm die große Blendlaterne von der Halterung vorn am Wagen. Viele Wagen, die nachts unterwegs waren, beleuchteten den Weg mittels einer Laterne. Die unbefestigten Straßen mit den großen, tiefen Schlaglöchern ließen es angeraten erscheinen. Schon manches Pferd war in ein solches Loch gefallen. Mancher Wagen war dabei zersplittert. Mancher Mann und manche Frau hatten sich dabei Arm, Bein oder auch das Genick gebrochen.
Eine andere beliebte Methode zur Erhöhung der nächtlichen Verkehrssicherheit war es, schnellfüßige Straßenjungs anzuheuern, die vor den Wagen herliefen. Aber bei der heutigen Mission wollte Bremer keine Halbwüchsigen dabei haben. Nur ganze Männer, auf die er sich verlassen konnte.
Der kleine Mann hielt die Laterne hoch, bis sie fast mit seinem seltsam keilförmigen Kopf auf einer Höhe war, und schwenkte sie fünfmal hin und her. Der helle Lichtschein, der durch die mattglasige Vergrößerungslinse fiel, verlor sich irgendwo in der Finsternis zwischen Lagerschuppen und Handwerkerhäusern. Aber er war stark genug, damit die anderen das verabredete Signal sehen konnten.
Bremer täuschte sich nicht. Kaum hatte er die Laterne wieder in die Halterung am Wagen gesteckt, da hörte er auch schon den Hufschlag der Männer, die ihnen durch die Straßen der nächtlichen Stadt gefolgt waren. Sechs Reiter waren es, ausnahmslos große, kräftige Männer.
Beim Wagen hielten sie an und sprangen aus den Sätteln. Einer von ihnen hielt die Tiere, die anderen scharten sich um Louis Bremer. Der gab seine Befehle, schnell und knapp wie ein Feldherr.
Die Rückseite des Wagenkastens wurde heruntergeklappt und ein starkes Brett so zu Boden gezogen, dass es eine Rampe bildete. Zwei Männer kletterten auf den Wagen und durchschnitten die Stricke, die aufgrund der schlechten Straßen angebracht waren, um die Fässer am Umstürzen zu hindern. Dann kippten sie das erste Fass vorsichtig um und rollten es zur Rampe, wo es von den Händen der unten stehenden Männer gepackt und sorgsam auf die Straße gerollt wurde.
»Schneller!«, zischte Bremer, dem zwar die Sorgfalt der Männer gefiel, nicht aber die damit verbundene Langsamkeit. »Wenn ihr so weitermacht, wird es noch Tag!«
Die Männer beeilten sich, keuchten und stöhnten. Ein Fass nach dem anderen landete im Staub der Straße.
In der Eile entglitt ihnen das fünfte der sechs Fässer, und es rumpelte mit zunehmender Geschwindigkeit die Rampe hinunter. Bremer konnte im letzten Moment zur Seite springen, sonst hätte ihn der schwere Holzbehälter überrollt.
Der kleine Mann stieß einen gewaltigen Fluch aus und sah hilflos zu, wie das außer Kontrolle geratene Fass auf die vier bereits zu Boden gelassenen Fässer zuraste. Es streifte sie nur, wurde dadurch aus der Bahn gebracht und schoss direkt auf die nächste Wand des alten Lagerhauses zu.
Obwohl das Gebäude baufällig und abbruchreif wirkte, war das Holz seiner Wand härter als das des in tausend Stück zersplitternden Fasses. In Sekundenschnelle ergoss sich sein Inhalt über den unteren Teil der Wand und bildete auf dem Boden davor einen kleinen See. Der beißende Geruch des Petroleums kitzelte die Nasen der acht Männer.
»Damit könnte man ‘ne hübsche Anzahl Lampen brennen lassen«, brummte Eichen-Al.
»Das Feuer, das wir gleich veranstalten, ist auch nicht ohne«, grinste Bremer. Das Grinsen erstarb, als er sich den anderen Männern zuwandte: »Los, das letzte Fass, damit wir endlich fertig werden!«
Anfangs, als das außer Kontrolle geratene Fass auf ihn zuraste, hatte er sich erschrocken. Dann war er wütend gewesen über die Leichtsinnigkeit seiner Männer, die damit ihren Plan gefährdeten. Vielmehr – den Plan des Hais. Denn wenn die Sache schiefging, musste Bremer als Verantwortlicher seinen Kopf hinhalten. Und der Hai war zurzeit gar nicht gut auf ihn zu sprechen.
Es war ein Fehler gewesen, dass Bremer diesen jungen Auswanderer namens Jacob Adler an den Walfänger LUCIFER verkauft hatte, nachdem er ihn im Auftrag des Hais in eine Falle seiner Schlägerbande gelockt hatte. Nur die junge Frau, Irene Sommer, und das Kind hatte Bremer bei Henry Black abgeliefert, der rechten Hand des Hais. Das Zusatzgeschäft durch den Verkauf des kräftigen jungen Burschen wollte er sich nicht entgehen lassen.
Bremer hatte geglaubt, dem Hai würde es genügen, wenn er diesen Adler aus dem Weg schaffte. Ein Irrtum. Aus einem Grund, den der Mann mit dem Rattengesicht so wenig kannte wie die Identität des geheimnisvollen Hais, lag dem heimlichen Herrscher von Frisco persönlich etwas an dem Zimmermann aus Deutschland.
Als Bremer durch Henry Black vom Zorn des Hais erfuhr, eilte er zum Hafen, um Adler zurückzukaufen. Aber die LUCIFER hatte die Bucht von San Francisco bereits verlassen.
Dies hier war Bremers Chance, seinen Fehler wiedergutzumachen. Black hatte ihm eingeschärft, dass alles reibungslos verlaufen müsse. Der Hai legte großen Wert auf das Freudenfeuer, mit dem er Chinatown heimsuchen wollte. Deshalb hatten Panik und Wut Bremer erfasst, als das Petroleumfass außer Kontrolle geriet.
Aber jetzt war er mit der Welt und seinen achtlosen Männern wieder versöhnt. Niemand in den belebten, nur einen Steinwurf entfernten Straßen schien das Unglück bemerkt zu haben. Der Lärm der Nachtschwärmer übertönte das Splittern des Holzes.
Die Männer rollten die Fässer durch den Dreck und verteilten sie rund um das Lagerhaus. Dann holten sie langstielige Äxte von den Wagen und schlugen auf die Fässer ein, bis sie zersprangen und ihren streng riechenden Inhalt über das knochentrockene Holz der Wände ergossen.
»Puh, stinkt zum Himmel!«, sagte einer der zum Wagen zurückkommenden Männer. Seine Stimme klang seltsam hoch, weil er mit einer Hand seine Nase zudrückte.
»Ich finde den Geruch sehr angenehm«, lächelte der kleinste der acht Männer, ihr Anführer.
Louis Bremer zog eine zerknickte Zigarre aus einer Tasche des abgetragenen Anzugs, strich sie glatt, biss ein Ende ab, spuckte es in den Schmutz und steckte den dicken braunen Stab aus gerollten Tabaksblättern zwischen seine dünnen, blassen Lippen. Ein Zündholz folgte. Er riss es am Wagenkasten an und setzte die Zigarre in Brand. Mit einer gleichgültig wirkenden Bewegung schleuderte er das Zündholz in Richtung Lagerhaus.
Die Folge war ebenso beeindruckend wie verheerend – und war dem kleinen Mann ganz und gar nicht gleichgültig. Sofort fing das ausgelaufene Petroleum Feuer. Die Flammen fraßen sich zu beiden Seiten um das große, alte Gebäude herum. Sie hatten ihren heißen Kreis noch nicht geschlossen, da leckten sie bereits bis zum Dach am trockenen Holz der Wände hoch. So gierig dieses Holz eben noch das Petroleum aufgesaugt hatte, so gierig verschlang das hungrige Feuer jetzt die Wände. Binnen Sekunden stand das ganze Gebäude in Flammen und schien mit seiner lebendig flackernden Helligkeit die matt schimmernden Papierlaternen in den Straßen Chinatowns verhöhnen zu wollen.
Der Flammenschein fiel auf Bremers Rattengesicht und enthüllte tiefe Zufriedenheit an der Erfüllung seiner Aufgabe. Mehr noch zeichnete sich auf dem abstoßenden Antlitz ab: die Freude an der Zerstörung, die er mit seinen Kumpanen anrichtete. Sie entsprach Bremers Charakter. Das Leid anderer Menschen war sein Vergnügen.
In der alten Heimat, in Deutschland, war der ehemalige Schustergeselle immer gehänselt worden. Weil er so klein war, so unansehnlich und in seinem Beruf so ungeschickt. Ein älterer Geselle zog ihn so sehr auf, dass Bremer in der Wut mit dem Krummmesser auf ihn einhieb. Er traf die Halsschlagader. Das Blut spritzte nur so aus dem anderen heraus. So schnell wie der rote Saft verließ ihn auch sein Leben.
Und Louis Bremer, der damals noch Ludwig Großmann (was war der kleine Mann wegen seines Namens verspottet worden!) hieß, war ein gesuchter Mörder. Er floh, und zwar auf ein Auswandererschiff, was nahelag, da er in Bremen lebte. Er gab sich den neuen Namen Louis Bremer und beschloss, sich nie mehr verspotten zu lassen.
Genauso rücksichtslos, wie die Menschen bisher gegen ihn gewesen waren, wollte er gegen andere sein. Und er war es. Durch Betrug, Diebstahl Raub und Mord (das Krummmesser hatte er immer noch) schuf er sich einen Platz in der Neuen Welt.
Hier in Frisco geriet er ins Sogwasser des Hais, wie alle deutschstämmigen Amerikaner, die in dieser Stadt im Trüben fischten. Der Hai scharte sie um sich. Er baute sich mit reichen Belohnungen und drakonischen Strafen eine Armee der gemeinsten Kerle auf, die San Francisco je gesehen hatte.
Schweren Herzens riss Bremer sich von dem Anblick des verbrennenden Lagerhauses los. Aber es musste sein. Aufgeregtes Geschrei aus den Straßen Chinatowns ließ keinen Zweifel daran, dass die Flammen bemerkt worden waren.
Die Flammen, die vom Wind direkt zur Chinesenstadt getrieben wurden. Schon griffen sie auf die angrenzenden Lagerhäuser über, fraßen sich Sekunde um Sekunde, Zoll um Zoll an das unbeschwerte Nachtleben heran.
»Auf die Pferde!«, rief Bremer seinen Männern halblaut zu und schwang sich neben Winkler auf den Kutschbock.
Eichen-Al starrte ebenfalls fasziniert in die züngelnden Flammen, deren Hitze den acht Männern Schweißperlen auf die Stirnen trieb.
Bis Bremer ihn anfuhr: »Lös endlich die Bremse, Al! Oder willst du zusammen mit den verfluchten Schlitzaugen in der Hölle schmoren?«
Winkler gehorchte, trieb die Pferde an und wendete den Wagen. Mit einiger Mühe. Das Feuer machte die Tiere unruhig, panisch. Sie wieherten und wussten nicht, in welche Richtung sie laufen sollten.
Eichen-Als Peitsche durchschnitt pfeifend die Luft, klatschte schmerzhaft auf die Pferderücken und machten den Tieren klar, dass sie nicht nur vom knisternden Flammenfraß Böses zu erwarten hatten.
Endlich gehorchten die schwerfälligen Zugtiere, und der Wagen folgte den Reitern, die ein Stück voraus schon mit der Dunkelheit verschmolzen wären, wären nicht das hoch auflodernde Feuer und der dagegen fast verblassende Schein der vorn am Wagen hängenden Blendlaterne gewesen.
Als die sechs Reiter feststellten, dass der Wagen zurückblieb, zügelten sie den Drang ihrer Pferde, die unheimliche Brandstätte möglichst schnell hinter sich zu lassen. Der jetzt leere und deshalb schnellere Wagen schloss zu ihnen auf.
Bremer zeigte auf eine kleine, völlig düstere Straße zur Rechten. »Da hinein!«
»Warum?«, fragte der vollbärtige Charley Wagner, der auf dem Rücken eines klobigen Braunen saß.
»Weil ich mir den Spaß nicht entgehen lassen möchte, dabei zuzusehen, wie die Langzöpfe vergebens ihre verlauste Stadt zu retten versuchen.«
Kaum waren Wagen und Pferde in der düsteren, unbelebten Gasse verschwunden, da sprang Bremer auch schon vom Bock und eilte zu der größeren Straße zurück. Die Helligkeit des Feuers sorgte dafür, dass er einen guten Blick auf das Inferno hatte. Fünf oder sechs Gebäude standen bereits in Flammen. Und obwohl mindestens hundert bis hundertfünfzig Chinesen am Unglücksort waren, konnten sie nichts ändern.
Sie hatten eine Löschkette gebildet. Wassereimer um Wassereimer wanderte schnell von Hand zu Hand und ergoss seinen Inhalt in die Flammen. Doch ebenso gut hätten die Bewohner von Chinatown statt Wasser weiteres Petroleum vergießen können. Das alte, trockene Holz und der die Flammen immer weiter treibende Wind waren zu starke Gegner.
»Sieht prächtig aus«, grinste Eichen-Al, der neben Bremer getreten war und geschäftig auf einem Priem herumkaute. »Der Hai hätte mit der Geschichte noch’n bisschen warten sollen, und es hätte ein erstklassiges Osterfeuer gegeben. Ganz Frisco wäre …«
Er brach ab, als ein lautes Bimmeln durch die Nacht hallte. Es wurde schnell lauter und vervielfachte sich zugleich.
Bremer und Winkler starrten sich betreten an. Beide wussten, was das bedeutete. Aber sie konnten es nicht glauben.
»Feuerwehr rückt an!«, stieß Bremer schließlich die unangenehme Erkenntnis aus. Doch sein spitzes Gesicht drückte weiterhin Unglauben aus. »Hört sich an wie mehrere Kompanien. Aber wie kann das sein? So schnell waren die Dreckskerle noch nie am Brandort!«
Winkler wollte etwas erwidern, aber der Mann mit der speckigen Melone brachte ihn durch eine Handbewegung zum Verstummen. Man konnte fast sehen, wie Bremer seine Ohren spitzte.
Sie hörten es alle. Das schwere Läuten der Stadtglocke mischte sich in das hellere Bimmeln.
Quelle:
- Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 19. Bastei Verlag. Köln. 05.03.2019