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Die drei Musketiere 52

Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere
7. bis 10. Bändchen
Historischer Roman, aus dem Französischen von August Zoller, Stuttgart 1844, überarbeitet nach der neuen deutschen Rechtschreibung
XIX.

Erster Tag der Gefangenschaft

Kehren wir zu Mylady zurück, die uns ein Blick auf die Küste Frankreichs einstweilen aus dem Blickfeld verlieren ließ.

Wir werden sie in der verzweifelten Lage wieder finden, in der wir sie zurückgelassen haben, einen Abgrund düsterer Betrachtungen, eine finstere Hölle grabend, an deren Pforte sie beinahe jede Hoffnung zurückgelassen hat, denn zum ersten Mal zweifelt, zum ersten Mal fürchtet sie.

Bei zwei Gelegenheiten hat ihr Glück sie verlassen, bei zwei Gelegenheiten hat sie sich entdeckt und verraten gesehen, bei zwei Gelegenheiten scheiterte sie an dem bösen Geist, welchen ohne Zweifel der Monsieur sandte, um sie zu bekämpfen. D’Artagnan hat sie besiegt, sie, die unbesiegbare Macht des Bösen.

Er hat sie in ihrer Liebe verletzt, in ihrem Stolz gedemütigt. Nun richtet er sie in ihrem Vermögen zugrunde, schlägt sie in ihrer Freiheit, bedroht sie sogar in ihrem Leben. Mehr noch, er hat eine Ecke ihrer Maske aufgehoben, mit der sie sich bedeckt, die sie so stark macht.

D’Artagnan hat von Buckingham, den sie hasst, wie sie alles hasst, was sie geliebt hat, den Sturm abgewendet, mit dem ihn Richelieu in der Person der Königin bedrohte. D’Artagnan hat sich für Wardes ausgegeben, für den sie eine glühende Tigerliebe, unbezähmbar, wie bei allen Frauen dieses Charakters, hegte. D’Artagnan kennt das furchtbare Geheimnis, das nach ihrem Schwur niemand kennen sollte, ohne zu sterben. In dem Augenblick, wo sie von Richelieu eine Vollmacht erhalten hat, mit dessen Hilfe sie sich an ihrem Feind zu rächen gedenkt, wird ihr dieses Papier aus den Händen gerissen, und d’Artagnan hält sie gefangen und will sie nach irgendeinem schmachvollen Botanybay, nach irgendeinem abscheulichen Tyburn des Indischen Ozeans schicken.

Denn all dies kommt ohne Zweifel von d’Artagnan. Von wem sollte so viele auf ihr Haupt gehäufte Schmach kommen, außer von ihm? Er allein konnte Lord Winter all die furchtbaren Geheimnisse mitteilen, die er nacheinander durch eine unselige Verkettung von Umständen erfahren hatte.

Wie viel Hass zersetzt sie! Hier, unbeweglich und die glühenden Augen starr auf ihr einsames Stübchen geheftet, während das Geräusch des dumpfen Schnaubens, das zuweilen aus der Tiefe ihrer Brust hervorkommt, das Tosen der Wellen begleitet, welche steigen, brausen und brüllen und sich wie eine ewige, ohnmächtige Verzweiflung an den Felsen brechen, auf denen das stolze, düstere Schloss erbaut ist, während ihr stürmischer Zorn mit seinen Blitzen ihren Geist erleuchtet. Hier entwirft sie gegen Madame Bonacieux, gegen Buckingham und besonders gegen d’Artagnan großartige, in der fernen Zukunft sich verlierende Rachepläne.

Ja, aber um sich zu rächen, muss man frei sein, und um frei zu sein, wenn man gefangen ist, muss man eine Mauer durchbrechen, Gitterstangen losmachen, einen Boden durchhöhlen, lauter Unternehmungen, welche ein geduldiger und starker Mann zu Ende führen kann, an denen jedoch die fieberhaften Aufregungen einer Frau scheitern müssen.

Um all dies zu tun, muss man überdies Zeit, Monate, Jahre haben, und sie hat, wie ihr Mylord Winter, ihr brüderlicher und furchtbarer Kerkermeister, sagte, nur zehn bis zwölf Tage.

Und dennoch, wenn sie ein Mann wäre, würde sie all dies versuchen, und es würde ihr vielleicht gelingen. Warum hat sich der Himmel so getäuscht, indem er diese männliche Seele in einen so schwachen und zarten Leib legte?

Die ersten Augenblicke der Gefangenschaft waren also furchtbar. Mit einigen krampfhaften Zuckungen der Wut, die sie nicht zu überwinden vermochte, wurde die Schuld weiblicher Schwäche an die Natur abgetragen. Nach und nach aber hat sie die Ausbrüche ihres tollen Zornes bewältigt, das Nervenzittern, welches ihren Körper bewegte, ist verschwunden, und sie hat sich nun auf sich selbst zurückgewunden, wie eine müde Schlange, wenn sie ausruht.

»Auf, auf! Ich war eine Torin, dass ich mich hinreißen ließ«, spricht sie, in den Spiegel schauend, der ihren Augen den glühenden Blick zurückwirft, durch den sie sich selbst zu befragen scheint, »keine Gewalttätigkeit! Die Gewalttätigkeit ist ein Zeichen der Schwäche, und ich habe nie durch dieses Mittel gesiegt. Wenn ich vielleicht von meiner Kraft gegen Frauen Gebrauch machen müsste, hätte ich Hoffnung, sie noch schwächer zu finden, als ich selbst bin, und sie folglich zu überwältigen; aber ich kämpfe gegen Männer und bin für sie nur eine Frau. Wir wollen als Frau kämpfen. Meine Kraft liegt in meiner Schwäche.«

Als wollte sie sich selbst von den Veränderungen Rechenschaft geben, die sie in ihrer so ausdrucksvollen und so edlen Physiognomie zu bewerkstelligen imstande war, ließ sie diese sodann nach und nach alle Ausdrücke annehmen, vom Zorn an, der ihr Gesicht krampfhaft zusammenzog, bis zum sanftesten, zärtlichsten, verführerischsten Lächeln. Ihre Haare erhielten unter ihren geschickten Händen alle Wellenformen, von denen sie glaubte, sie dürften die Reize ihrer Züge erhöhen. Endlich murmelte sie mit sich selbst zufrieden: »Noch ist nichts verloren, ich bin immer noch schön.«

Es war ungefähr acht Uhr abends. Mylady bemerkte ein Bett und dachte, ein paar Stunden Ruhe würden nicht nur ihren Kopf und ihre Gedanken, sondern auch ihren Teint erfrischen. Doch ehe sie sich niederlegte, kam ihr noch eine bessere Idee; sie hatte von Abendbrot sprechen hören. Schon war sie seit geraumer Zeit in diesem Zimmer und man konnte nicht länger zögern, ihr das Mahl zu bringen. Die Gefangene wollte keine Zeit verlieren. Sie beschloss schon an diesem Abend einen Versuch zu machen, um das Terrain zu sondieren und die Charaktere der Leute zu erforschen, denen ihre Bewachung anvertraut war.

Ein Licht erschien unter der Tür. Es kündete die Rückkehr ihrer Kerkermeister an. Mylady, welche sich erhoben hatte, warf sich rasch wieder in ihren Lehnstuhl, den Kopf zurückgebogen, die Haare aufgelöst und zerstreut, den Hals halb entblößt unter zerknitterten Spitzen, eine Hand auf ihrem Herzen, die andere herabhängend.

Man öffnete die Riegel, die Tür ächzte in ihren Angeln. Tritte erschallten im Inneren und näherten sich.

»Stellt den Tisch hierher«, sagte eine Stimme, an der Mylady Felton erkannte.

Der Befehl wurde vollzogen.

»Bringt Lichter und lasst die Wache ablösen«, fuhr Felton fort. Dieser doppelte Befehl, den der junge Lieutenant denselben Menschen erteilte, gab Mylady die Überzeugung, dass ihre Diener und ihre Wächter dieselben Menschen waren, nämlich Soldaten.

Endlich wandte sich Felton, der Mylady noch nicht angeschaut hatte, nach ihr um.

»Ah! Ah!«, sagte er, »sie schläft gut, bei ihrem Erwachen wird sie zu Nacht speisen.«

Er machte einige Schritte, um sich zu entfernen.

»Aber, mein Lieutenant«, sagte der Soldat, der etwas weniger stoisch war, als sein Vorgesetzter, und sich Mylady genähert hatte, »diese Frau schläft nicht.«

»Wie, sie schläft nicht?«, sprach Felton, »was macht sie denn?«

»Sie ist ohnmächtig. Ihr Gesicht ist sehr bleich, und ich höre, wie sehr ich auch lausche, keinen Atemzug.«

»Ihr habt recht«, erwiderte Felton, nachdem er Mylady von dem Platz, wo er stand, ohne einen Schritt in ihre Richtung zu tun, angeschaut hatte. »Benachrichtigt Lord Winter, seine Gefangene sei in Ohnmacht gefallen, denn ich weiß nicht, was ich tun soll, da dieser Fall nicht vorhergesehen ist.«

Der Soldat ging ab, um den Befehlen des Offiziers zu gehorchen. Felton setzte sich auf einen Stuhl, der sich zufällig in der Nähe der Tür fand, und wartete, ohne ein Wort zu sprechen, ohne die geringste Gebärde zu machen. Mylady besaß die große, von den Frauen so sehr studierte Kunst, alles mithilfe eines Reflexes, eines Spiegels oder eines Schattens zu sehen. Sie bemerkte Felton, der ihr den Rücken zukehrte. Sie schaute ihn beinahe zehn Minuten beständig an. Während dieser zehn Minuten wandte sich der kalte Wächter nicht ein einziges Mal um.

Sie bedachte nun, dass Lord Winter kommen und durch seine Gegenwart ihrem Kerkermeister neue Kraft verleihen würde. Ihr erster Versuch war gescheitert. Sie fasste ihren Entschluss als eine Frau, welche auf ihre Mittel zählt. Diesem Entschluss zufolge hob sie den Kopf, öffnete die Augen und stieß einen schwachen Seufzer aus.

Bei diesem Seufzer wandte sich Felton um.

»Ah! Ihr seid erwacht, Madame«, sprach er, »ich habe also nichts mehr hier zu tun. Wenn Ihr etwas braucht, so ruft.«

»Oh, mein Gott, mein Gott! Was habe ich gelitten!«, murmelte Mylady mit der wohlklingenden Stimme, welche alle bezauberte, sie ins Verderben stürzen wollte.

Sich auf ihrem Stuhl aufrichtend, nahm sie eine noch anmutigere und zugleich nachlässigere Stellung an.

Felton stand auf.

»Ihr werdet auf diese Art dreimal des Tags bedient werden, Madame«, sprach er, »Morgens um neun Uhr, mittags um ein Uhr und abends um acht Uhr. Wenn Euch das nicht genehm ist, so könnt Ihr andere Stunden statt derer, welche ich Euch vorschlage, nennen, und man wird sich in dieser Beziehung Euren Wünschen fügen.«

»Aber soll ich denn immer in dieser großen, traurigen Stube allein bleiben?«, fragte Mylady.

»Eine Frau aus der Gegend ist bestellt. Sie wird morgen im Schloss sein und zu Euch kommen, so oft Ihr ihre Gegenwart wünscht.«

»Ich danke Euch, Monsieur«, antwortete die Gefangene demütig.

Felton grüßte leicht und wandte sich zur Tür. In dem Augenblick, wo er über die Schwelle treten wollte, erschien Lord Winter, gefolgt von dem Soldaten, der ihn von Myladys Ohnmacht in Kenntnis gesetzt hatte, im Flur. Er hielt einen Flacon mit Riechsalz in der Hand.

»Wie! Was geht denn hier vor?«, sprach er mit spöttischem Ton, als er sah, dass seine Gefangene aufrecht stand und Felton im Begriff war zu gehen. »Die Tote ist also wiedererweckt? Mein Gott, Felton, mein Junge, hast du denn nicht wahrgenommen, dass man dich für einen Neuling hielt und den ersten Akt einer Komödie mit dir spielte, dessen ganze Entwicklung zu verfolgen wir ohne Zweifel das Vergnügen haben werden?«

»Ich habe es wohl gedacht, Mylord«, erwiderte Felton, »aber da die Gefangene im Ganzen doch eine Frau ist, so wollte ich die Rücksicht nehmen, die ein Mann von guter Geburt einem weiblichen Wesen schon um seiner selbst willen schuldig ist.«

Mylady bebte am ganzen Leib. Diese Worte liefen wie Eis durch all ihre Adern.

»Diese schönen Haare«, versetzte Lord Winter lächelnd, »diese schönen, so geschickt ausgebreiteten Haare, diese weiße Haut, dieser schmachtende Blick haben dich also nicht verführt, Marmorherz?«

»Nein, Mylord«, antwortete der unempfindliche junge Mann, »glaubt mir, es bedarf mehr, als der Frauenkunstgriffe und Koketterien, um mich zu bestechen.«

»Wenn dem so ist, mein braver Lieutenant, so mag Mylady etwas anderes ersinnen, und wir wollen zu Nacht speisen. Oh! Sei ruhig, sie hat eine furchtbare Fantasie, und der zweite Akt der Komödie wird bald dem ersten folgen.«

Nach diesen Worten nahm Lord Winter Felton beim Arm und ging lachend mit ihm weg.

»Oh! Ich werde schon finden, was du brauchst«, murmelte Mylady zwischen den Zähnen. »Armer, verunglückter Mönch, umgekehrter Soldat, der du dir deine Uniform aus einer Kutte geschnitten hast.«

»Doch, was ich noch bemerken wollte«, versetzte Lord Winter, auf der Schwelle stehen bleibend, »dieses Scheitern braucht Euch den Appetit nicht zu benehmen. Kostet das Huhn und die Fische, die ich bei meinem Ehrenwort nicht habe vergiften lassen. Ich bin ziemlich wohl mit meinem Koch zufrieden. Da er nichts von mir zu erben hat, so setze ich volles Vertrauen in ihn. Macht es wie ich. Gott befohlen, liebe Schwester. Bei Eurer nächsten Ohnmacht sehen wir uns wieder.«

Das war alles, was Mylady zu ertragen vermochte. Ihre Hände zogen sich krampfhaft auf dem Lehnstuhl zusammen. Ihre Zähne knirschten dumpf, ihre Augen folgten der Bewegung der Tür, welche sich hinter Lord Winter und Felton schloss. Als sie sich allein sah, fühlte sie sich von einer neuen Krise der Verzweiflung befallen. Sie schaute zum Tisch, gewahrte ein Messer, stürzte darauf los und ergriff es. Aber es trat sogleich eine grausame Enttäuschung ein. Die Klinge war rund und von biegsamem Silber.

Ein schallendes Gelächter wurde an der Tür hörbar. Diese öffnete sich wieder.

»Ah! Ah!«, rief Lord Winter, »ah, ah! Siehst du wohl, mein braver Felton, was ich dir gesagt habe? Dieses Messer war für dich bestimmt, mein Kind, sie hätte dich umgebracht. Siehst du, das ist eine ihrer Verkehrtheiten, dass sie sich der Leute, welche sie genieren, auf die eine oder die andere Weise entledigt. Wenn ich auf dich gehört hätte, so wäre das Messer spitzig und von Stahl gewesen, dann gäbe es keinen Felton mehr. Sie hätte dich erstochen und nach dir die ganze Welt. Siehst du, John, wie sie das Messer so gut zu halten weiß!«

Mylady hielt in der Tat noch die unschädliche Waffe in ihrer Hand. Die letzte Beleidigung löste ihre Hände, ihre Kräfte und sogar ihren Willen auf. Das Messer fiel zu Boden.

»Ihr habt recht, Mylord«, sprach Felton mit einem Ausdruck des tiefsten Ekels, der in dem Herzen Myladys widerhallte, »Ihr habt recht und ich hatte unrecht.«

Hierauf entfernten sich beide abermals.

Aber diesmal horchte Mylady aufmerksamer als das erste Mal. Sie hörte, wie ihre Tritte nach und nach im Hintergrund des Flurs verstummten.

»Ich bin verloren«, murmelte sie, »ich befinde mich in der Gewalt von Leuten, auf die ich nicht mehr Einfluss ausüben werde als auf Bildsäulen von Erz oder Granit. Sie kennen mich auswendig und sind gegen alle meine Waffen gepanzert.«

»Doch diese Sache kann unmöglich«, sprach sie nach einem Augenblick, »so enden, wie sie es beschlossen haben.«

Die Furcht und das Gefühl der Schwäche schwammen, wie dies die letztere Betrachtung, die instinktmäßige Rückkehr zur Hoffnung, andeutete, nicht lange oben in dieser tiefen Seele.

Mylady setzte sich zu Tisch, aß von mehreren Gerichten, trank ein wenig spanischen Wein und fühlte ihre ganze Entschlossenheit wiedererwachen.

Ehe sie sich schlafen legte, hatte sie bereits die Worte, die Schritte, die Gebärden, die Zeichen und sogar das Stillschweigen ihrer Kerkermeister erklärt, analysiert, von allen Seiten betrachtet, in allen Punkten geprüft. Aus diesem geschickten, geistreichen Studium hatte sie entnommen, dass Felton jedenfalls der weniger unverwundbare von beiden war.

Ein Wort besonders tauchte immer wieder im Geist der Gefangenen auf.

»Wenn ich auf dich gehört hätte«, hatte Lord Winter zu Felton gesagt.

Felton hatte also zu ihren Gunsten gesprochen, da ihn Lord Winter nicht hören wollte.

»Dieser Mensch«, wiederholte Mylady, »hat also jedenfalls einen mehr oder minder starken Anflug von Mitleid in seinem Herzen. Diesen Schimmer werde ich zu einem Brand anfachen, der ihn verzehren soll. Der andere kennt mich, er fürchtet mich und weiß, was er von mir zu erwarten hat, wenn ich je seinen Händen entkomme. Es ist also vergeblich, etwas gegen ihn zu versuchen. Aber bei Felton ist es etwas anderes. Er ist ein unschuldiger reiner junger Mann, ein tugendhafter Mensch, wie es scheint. Bei ihm gibt es ein Mittel, ihn zu verderben.«

Mylady legte sich nieder und entschlummerte mit einem Lächeln auf den Lippen. Wer sie schlafend sah, hätte glauben können, ein junges Mädchen liege vor ihm und träume von dem Blumenkranz, den es beim nächsten Fest auf seiner Stirn tragen solle.