Der Konstanzer Hans Teil 23
W. Fr. Wüst
Der Konstanzer Hans
Merkwürdige Geschichte eines schwäbischen Gauners
Reutlingen, 1852
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Hans kommt in gefährliche Gefangenschaft und in scharfes Verhör.
In aller Stille hatten sich fünf Soldaten herbeigeschlichen und forderten die Gesellschaft auf, ihnen zum Ortsvorstand zu folgen.
»Das kommt mir sehr ungeschickt«, sagte Hans, »meine Abreise nach Lahr, wohin ich gehen muss, leidet keinen Verzug.«
Das half aber nichts; alle mussten augenblicklich folgen. Nun hoffte Hans immer noch, wie sonst schon so oft, zu entkommen. Er meinte, es wäre doch eine Schande für ihn, dass er mit Bettelleuten transportiert werde, und verlangte deshalb, zwei oder drei der Soldaten sollten ihn allein begleiten. Umsonst. Er musste auf ein anderes Rettungsmittel denken. An einem Gartenhag angekommen, versetzte er dem nächsten Soldaten mit dem Stock einen Schlag und sprang über das mannshohe Gehege. Aber wo nun hinaus? In den eingezäunten Gärten, wo er sich nun befand, stellten sich seiner weiteren Flucht eine Menge Hindernisse entgegen. Während er mehrere Hecken überstieg und übersprang, ohne einen geeigneten Ausweg zu finden, wuchs die Zahl seiner Verfolger und er kam von Minute zu Minute in größeres Gedränge. Mehrere, die ihn schon gepackt hatten oder zu packen im Begriff waren, schlug er nieder. Als er sich von allen Seiten umringt sah, wehrte er sich mit der Wut eines Verzweifelten und streckte bald rechts, bald links einen Angreifer zu Boden. Bei einem abermaligen Versuch, über das Gehege zu springen, erhielt er von der Art eines Zimmermanns einen Schlag auf den Kopf, dass er taumelnd zu Boden sank. Man band ihm die Hände auf den Rücken und führte ihn als Gefangenen weg. Dies geschah den 12. August 1783.
Der Aufenthalt in seinem Kerker, in welchen kein Lichtstrahl dringen konnte, hatte für ihn umso mehr Peinigendes, als zwei Tage lang niemand nach ihm sah und er weder Speise noch Trank erhielt. Dies schien ihm eine traurige Vorbedeutung zu sein und er fürchtete, dass er wohl nimmer frei werden, sondern eine strenge Strafe zu erwarten haben würde.
Die Gründe dieser Besorgnis lagen sehr nahe. Sein Entspringen, die verzweifelte Wut, mit der er sich gewehrt hatte, das bei ihm vorgefundene zweischneidige Messer, verschiedene dem Krämer gestohlene Waren, die er noch bei sich trug, mussten ihn im höchsten Grad verdächtig machen. Überdies war er in dieser Gegend als der Konstanzer Hans und als Sohn des Konstanzer Schusters bekannt. Es konnten aus mehreren Orten in der Nähe höchst nachteilige Protokolle über seine Person eingezogen werden. Dazu kam noch die Besorgnis, dass sein Vater ihm durch Angabe seiner Diebstähle und seines wahren Namens schaden könnte. Die Erwägung dieser Umstände nahm ihm alle Hoffnung. Doch dachte er sich noch durch hartnäckiges Leugnen all dessen einigermaßen helfen zu können, was nicht offenbar erwiesen war.
Nachdem er am dritten Tag seines Arrests mit einer Suppe und mit Wasser erquickt worden war, wurde er vor den Richter in das Verhör geführt, wo er angab, er heiße Peter Niklas Koch, sei Scharfrichter in Leutmeritz in Böhmen, habe fünf Jahre als Regimentshenker bei den Ziethenschen Husaren gedient und nach erhaltenem Abschied sei er in Zittau zwei Jahre Meisterknecht gewesen. Zur Bekräftigung seiner Aussagen legte er seinen Pass vor. Von einem bei dem Verhör Anwesenden, der in den genannten Städten bekannt war, über dieselben befragt, wusste Hans ganz befriedigende Auskunft zu geben.
Auf die Frage, warum er den Soldaten entlaufen sei, erwiderte er: »Ich habe die Soldaten für falsche Werber gehalten, weil sie mich so schnell überfallen haben. Und da ich vor dem Soldatenstand die größte Abneigung habe, so versuchte ich ihnen zu entkommen.«
Auf ebenso schlaue Weise versuchte er sich bei den übrigen Fragen aus der Schlinge zu ziehen. Seine Richter sahen wohl, dass sie es mit einem Gauner ersten Ranges zu tun hatten.
Nun wurde Hans’ Vater vernommen, der bei offenem Geständnis der Wahrheit seine Person für gesicherter hielt. Er gab daher den wahren Namen seines Sohnes an, sagte ferner, derselbe habe ohne Zweifel den Krämer in Turbach bestohlen, wie er schon viele andere Diebstähle begangen habe. Um sicher stehlen zu können, habe er immer wieder andere Namen angenommen.
Wenn auch die Mutter zuerst ihren Sohn verleugnete, so erklärte sie doch bald, dass er es wirklich sei. Durch diese Geständnisse seiner Eltern war für Hans alles verloren und weiteres Leugnen war Unsinn. Hans dachte aber anders. Galt es ja Leben und Freiheit, wenn er gestand. Daher blieb er im nächsten Verhör bei seinen ersten Aussagen, wenn man ihm gleich entgegenhielt, man wisse wohl, dass er Konstanzer Hans heiße und dass sein wahrer Name Johann Baptista Herrenberger sei.
Da er nun nicht zu bewegen war, die Wahrheit zu sagen, so wurde ihm sein Vater gegenübergestellt, welcher bezeugte, dass dieser Bösewicht leider sein Sohn sei.
»Ihr seid ein böser Mann, fuhr Hans auf, dass Ihr einen Unschuldigen verderben wollt. Vielleicht habt Ihr einen schlimmen Sohn, der mir ähnlich ist. Aber ich bin es nicht.«
Der Vater beharrte auf seiner Aussage und setzte noch hinzu, sein Sohn sei zu Oppenau getauft worden, und dort seien noch seine Taufpaten, die ihn kennen.
Nachdem man den Alten hatte abtreten lassen, wollte man Hans durch zehn Stockstreiche zum Geständnis bringen, aber vergeblich. Nun wurden Mutter und Schwester vorgeführt. Erstere meinte, sie wisse es nicht gewiss, ob dieser ihr Sohn sei und entschuldigte sich mit ihrem schlechten Gesicht und ihrem Alter. Die Schwester sagte, sie sei noch ein kleines Kind gewesen, als ihr Bruder von ihnen weggekommen sei, aber dessen erinnere sie sich, dass er ganz anders ausgesehen habe als der Mann hier.
Auch nun noch blieb der alte Schuster bei seiner Behauptung. Die Richter wollten das Geständnis durch strengere Maßregeln erzwingen und ließen dem verstockten Sünder nach und nach 40 Stockschläge aufmessen. Der Vater bat den Sohn dringend, doch die Wahrheit zu gestehen; aber alles war vergeblich. Nun bat jener die Richter, sie möchten die Bauern aus einigen benachbarten Höfen vorfordern und sie über seinen Sohn befragen. Alle werden ihn noch von seinen Jugendjahren her wohl
kennen. Dies geschah, aber Hans wollte keinen wiedererkennen, ungeachtet alle ihn bei seinem wahren Namen nannten und ihre Aussage mit einem Eid bekräftigten.
Nach all diesen Aussagen wurde Hans auch ohne sein Geständnis für den genommen, der er wirklich war. Da Turbach in das badische Gebiet gehörte, so wurde mit dem badischen Amt wegen seiner Übergabe an dasselbe unterhandelt. Darüber verstrichen 14 Tage, und Hans hatte, da er in kein Verhör mehr kam, Zeit und Muße genug, über den Gang seiner Untersuchung nachzudenken. Seine Lage kam ihm immer bedenklicher vor und unaufhörliche Bangigkeit quälte ihn, besonders als er daran dachte, dass vor zwei Jahren einer seiner Kameraden in diesem Gefängnis gewesen und danach hingerichtet worden war. Er musste sich selbst das Todesurteil sprechen bei dem Gedanken an den Schwur, den er im Tuttlinger Gefängnis Gott getan und wieder gebrochen hatte. So brachte er die Zeit unter unaufhörlichen Kämpfen zu. Es fehlte ihm die Religion und die Bereitwilligkeit, sein Herz besseren Gefühlen zu öffnen. Daher kam die Mutlosigkeit, die Verzweiflung.
Aber auf einmal drang wieder ein belebender Hoffnungsstrahl in seine Seele. Zu ungewöhnlicher Stunde kam eines Tages der Gerichtsdiener, brachte ihm die Kleider, die man ihm bei seiner Einkerkerung abgenommen hatte und befahl ihm, sich sogleich anzukleiden und ihm zu folgen. Hans glaubte nicht anders, als dass er nun werde losgelassen werden. Da er vor dem Gerichtsgebäude so viele Leute versammelt sah, dachte er: Was gilt es, die wollen dir eine Tracht Prügel aufzählen sehen. Er freute sich diesmal eigentlich auf eine solche Portion, weil er sie als Ende seiner Gefangenschaft und als Brücke zu seiner Befreiung ansah.
Er täuschte sich aber gewaltig. Denn nach Verlesung des richterlichen Spruches, den er übrigens nicht recht verstand, wurde er gleich an der Tür von fremden Bewaffneten in Empfang genommen und kreuzweise geschlossen. Hierauf brachte man seine Eltern und seine Schwester, welche alle das gleiche Schicksal hatten. Der Anblick seiner gefesselten Angehörigen schnitt Hans ins Herz, weil er sich anklagen musste, dass er die Schuld trage, aber er zwang sich, äußerlich das Gegenteil zu erkennen zu geben und sagte zu seinem jammernden Vater: »Was weint Ihr denn, Altvater? Man wird uns die Köpfe nicht nehmen. Wenn Ihr ein so gutes Gewissen habt, wie ich, so dürft Ihr euch nicht fürchten.«
Hans erschöpfte sich in Vermutungen darüber, wohin sie wohl gebracht würden. Bei seinem ersten Gedanken, dass sie nach Sulz eingeliefert würden, kehrte Hoffnungslosigkeit wieder zurück, da er wusste, dass man dort gar streng gegen seinesgleichen verfahre. Nach der Richtung, die der Wagen vor dem Tor der Stadt nahm, vermutete er, es werde nach Staufenberg gehen. Da man dahin durch ein kaiserliches Dorf kam, so wollte er in diesem entspringen und sich für einen kaiserlichen Ausreißer ausgeben, trotz den zehn Wächtern, die dem Wagen beigegeben waren. Aber der Zug ging nach Mahlberg. Dies bereitete ihm neuen Schrecken, denn es war ihm wohl bekannt, wie streng dort die Gerechtigkeit gehandhabt wurde und wie so mancher seiner Kameraden dort durch Henkershand sein Leben verloren hatte.
Hans machte nun unterwegs seinen Plan, wie er sich in seiner Lage am besten hinaushelfen könne. Da ihm sein Vater in der Gaunersprache gesagt hatte, dass er bei der in Gengenbach gemachten Aussage beharren werde, so hielt es Hans für zweckmäßig, in Mahlberg seinen wahren Namen zu sagen und auch den Turbacher Diebstahl zu bekennen, sonst aber nichts auf sich kommen zu lassen.
Als er nun in das erste Verhör gebracht wurde, sagte der Richter lächelnd: »Guten Tag, Niklas Koch!«
»Das ist jetzt nicht mehr mein Name«, erwiderte Hans. »Hier heiße ich Johann Baptista Herrenberger.«
»Gut«, sprach der Richter wieder, »dass Ihr Euren wahren Namen angebt, das Leugnen wäre doch umsonst.«
Hans erklärte nun jenem, dass er in Gengenbach bloß deswegen seinen Namen verleugnet habe, weil er als kaiserlicher Soldat dreimal durchgegangen sei und eine zu harte Regimentsstrafe befürchtet habe. Hier im Badischen habe er deshalb nichts zu besorgen. Zugleich gestand er dem Richter, ohne von ihm darüber gefragt worden zu sein, ganz offen seinen Diebstahl in Turbach, setzte aber hinzu, um allen Verdacht der Gaunerei von sich abzuschneiden, dass er gleich nach seiner letzten Desertion in Piemont und nachher eine Zeitlang in dem Regiment Migazzi gedient habe.
Durch seine Offenheit hatte Hans auf seinen Richter einen für ihn günstigen Eindruck gemacht und wurde deshalb sehr gelinde behandelt. Er fasste daher neuen Mut und hoffte mit einer geringeren Strafe wegzukommen, als er anfänglich befürchtet hatte. Sein Gefängnis war freilich ein elendes Nest, drei Schuh breit und vier Schuh hoch, doch drang ein Lichtstrahl in dasselbe hinein.
Dass sein Vater bei dem Gengenbacher Gericht von weiteren Diebstählen gesprochen hatte, die sein Sohn begangen haben soll, und dass er in Mahlberg dieselben Aussagen machte, war freilich für den Letzteren nachteilig. Hätte Hans dies gewusst, so würde er sich noch zu einigen unbedeutenden Diebstählen bekannt haben, um sich durch diesen scheinbaren Beweis der Ehrlichkeit das Vertrauen seines Richters zu erhalten. Da ihm aber die Angaben seines Vaters nicht bekannt waren und er dieselben erst vom Untersuchungsrichter hörte, so leugnete er beharrlich alles, was der Alte über ihn ausgesagt hatte. Um die Angaben seines Vaters zu entkräften, behauptete er, derselbe sei oft nicht recht bei Sinnen, habe sich von jeher feindselig gegen ihn gezeigt und wolle ihn nur ins Verderben stürzen. Er werde auch die gegen ihn angebrachten Beschuldigungen nicht beweisen können. Kurz, er verantwortete sich auf eine sehr schlaue Weise.
Der Richter sagte ihm: »Ich glaube Euch, aber verzeiht mir, Eurem Vater glaube ich noch mehr.«
So gelinde der Beamte den Gauner bisher behandelt hatte, ebenso gelinde fiel auch sein Bericht an die Gerichtsstelle in Karlsruhe aus. Hans erfuhr dies unter der Hand und erwartete voll guter Hoffnungen sein Urteil. Dieses lief nach siebenwöchigem Arrest endlich ein, lautete aber ganz anders, als Hans gehofft hatte. Sein Vater erhielt vier Jahre, Mutter und Schwester auf unbestimmte Zeit, er selbst lebenslängliche Zuchthausstrafe in Pforzheim, jedoch mit dem Beisatz, dass er bei Wohlverhalten um Minderung der Strafe bitten dürfe. Dieser Anhängsel beruhigte ihn einigermaßen; aber der Gebrauch, den Züchtlingen die Haare auf der rechten Seite des Kopfes abzuschneiden, empörte seinen Stolz und er gebärdete sich unter den Händen des Scherers wie ein Rasender und stieß die entsetzlichsten Flüche und Schmähreden selbst gegen die Obrigkeit aus. In seinem Zorn zerriss er seine Kleider und tobte noch mehrere Stunden fort, nachdem er ins Gefängnis zurückgebracht worden war.
Am folgenden Tag wurde die ganze Familie abgeführt, um nach Pforzheim geliefert zu werden. Noch war keine ganze Tagesreise gemacht, als in dem letzten kaiserlichen Dorf der Wagen vom Vogt angehalten, Hans auf dessen Befehl losgeschlossen und von einem kaiserlichen Korporal in Empfang genommen wurde, obwohl die Arrestantenführer eine Menge Einwendungen machten.
Es war nämlich, so lange Hans in Mahlberg einsaß, bekannt geworden, dass er früher bei einem kaiserlichen Regiment gestanden und ausgerissen sei. Hierauf hatte der Werbeoffizier Anstalten getroffen, dass der Ausreißer, wenn er nach Pforzheim transportiert werde, auf kaiserlichem Gebiet den Führern abgenommen würde.
Diese plötzliche Wendung seines Geschicks brachte in Hans’ Seele verschiedene Empfindungen hervor. Die schnelle Trennung von den seinen, das unglückliche Schicksal derselben, das er ihnen bereitet, die Ungewissheit seiner Zukunft stimmten ihn zu tiefer Trauer. Einige alte Kriegskameraden, die ihn auf der Wachstube besuchten und ihm Essen und Trinken auftischten, konnten ihm die düsteren Gedanken auch nicht verscheuchen.
Dachte aber Hans daran, dass die Strafe beim Regiment gelind ausfallen und er durch diese Wendung vielleicht für immer seiner bisherigen Lebensweise, die er nun über alles verabscheute, entrissen werden könnte, so verwandelte sich seine trübe Stimmung in Freude. Er widerstand daher der Versuchung, aus der Wachstube zu fliehen, was ihm ein Leichtes gewesen wäre, da er nur leicht gefesselt war und von Mitternacht an bloß unter der Aufsicht des Nachtwächters stand, der während des Stundenrufs immer abgehen musste. Überdies stellte er noch die weiteren Betrachtungen an, dass alle seine Diebskameraden entweder das Leben oder doch die Freiheit verloren hatten, dass er aus der Schweiz, aus Württemberg und ganz Schwaben verjagt und nirgends sicher sei, dass er also in kürzester Zeit wieder eingefangen werden würde, ohnehin, da sein halb geschorener Kopf ihn ja überall verraten würde. Er blieb also ruhig auf der Wachstube und ließ sich am anderen Tag nach Freiburg abführen.
Dort wurde er sogleich wieder in seine Kompanie eingereiht und glaubte nach den Versicherungen seiner Kameraden leicht davonzukommen. Aber sein geschorener Kopf gab Veranlassung, dass man von Mahlberg nähere Erkundigungen über ihn einzog. Als die Nachricht einlief, dass der Scharfrichter ihm wegen Diebstahls den Kopf so geschoren habe, so wurde er für ehrlos erklärt und dies veränderte den Gang der Sache ganz. Als er auf höhere Anordnung zum Festungsbau verurteilt worden war, erbat er sich ein neues Verhör. Jedoch es trat abermals eine Wendung ein, die ihn in große Angst versetzte.