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Anne Boleyn Band 2 – Kapitel 24

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Zweiter Band

Schluss

Der 29. Oktober des Jahres 1537 war angebrochen. Alle Einwohner Londons befanden sich in der höchsten Spannung. Eine ungewöhnliche Bewegung tat sich seit drei Tagen im Schloss Hamptoncourt kund und deutete auf ein ungewöhnliches Ereignis, das dort im Werke war oder stattfinden sollte. Endlich gegen Mittag rollten abermals die schweren Kugeln der Kanonen von den Wällen des Towers und Westminsters, und wieder erdröhnen die Schüsse. Man zählte fünfundzwanzig. Ein ungeheurer Jubel durchbrauste die Gassen. Ein Prinz war dem königlichen Haus geboren, der so lange ersehnte Thronerbe war endlich erschienen.

Vater im Himmel droben, dachte der edle Cranmer und fragten sich die trauernden Freunde untereinander, als sie die Nachricht vernahmen, bist du nicht mehr der Gott der Gerechtigkeit?

Ja, er lebt noch, seine strafende Hand ist bereits über die königliche Wohnung ausgestreckt und hat die rauschende Freude, den Jubel unerwartet in Trauer verwandelt. Die Blutschuld fordert ihre Sühne.

Eduard VI., so wurde das Kind getauft, erblickte erst das Licht der Welt nach einem dreitägigen Schmerzenskampf, der seine Mutter an den Rand des Todes brachte.

»Wer von beiden soll geopfert werden, Majestät?«, hatte der diensttuende Arzt gefragt, »es ist ein Knabe.«

»Rettet das Kind«, lautete die brutale Antwort, »Weiber gibt es genug!«1

Am siebenten Tag nach der Geburt, am vierten nach dem glänzenden Tauffest, erkrankte die geschwächte Mutter aufs Neue, und am neunten ließ man Cranmer eiligst herbeirufen, um ihr die heiligen Sterbesakramente zu reichen.

Tief bekümmert kniete die Prinzessin Mary neben dem Lager ihrer treuen Freundin, und mit aufrichtigem Schmerz ihr Gemahl.

»Verlass mein Kind nicht«, hauchte die Sterbende mit brechendem Auge, gegen Mary gewandt, »und bete, dass Gott mir vergeben möge. Anne starb unschuldig, mein Tod ist die gerechte Sühne meiner Schuld!«

Die feierliche Beisetzung in Westminster Abbey war vorüber. Jane Seymour sollte die einzige der Gattinnen Heinrichs sein, welche ihm im Tode zur Seite ruht. Seine Trauer um sie war echt. Er erteilte ihr das Zeugnis, dass sie die Klügste und Artigste aller Frauen gewesen sei. Die genauesten Forschungen der Geschichte haben jedoch ergeben, dass Janes größter Vorzug in den Augen ihres Gemahls ihre willenlose, fast sklavische Unterwürfigkeit in seine Launen und sie die Mutter seines Sohnes war.

Noch am Tage der Beisetzung suchte Cranmer eine Privataudienz beim König nach, und bat um seine Entlassung, da er sich nach Deutschland begeben wolle, um sich ganz den Wissenschaften zu widmen.

Aber Heinrich ergriff seine Hand und sagte mit Herzlichkeit: »Bischof, Ihr seid mein Freund und Rat seit Jahren gewesen, habt Freud und Leid mit mir geteilt. Verlangt nicht von mir, dass ich mich freiwillig Eurer treuen Dienste begebe.«

»Majestät, Eure liebsten Wünsche sind erfüllt worden, ein Sohn ist Euch gegeben.«

»Aber dieser Sohn bedarf eines Erziehers, eines aufgeklärten Lehrers, der seine junge Seele vor dem verderblichen Einfluss der Römischen beschütze und stähle. Auch Elisabeth verlangt Eure väterliche Leitung. Ihr habt ihrer Mutter gelobt, das Kind wie Euren Augapfel zu behüten. Auch mir könnte nach Gottes Ratschluss etwas Menschliches zustoßen. Denkt an die Zukunft dieser beiden Unmündigen und an das große Werk der Aufklärung, welches Ihr so kühn begonnen habt!«

»Majestät!«, stammelte Cranmer überwältigt und bestürzt, »ich bitte Euch …«

»Wir lassen Euch Zeit zum Nachdenken«, endete Heinrich freundlich. »Überlegt Euren Entschluss vor Gott und vergeht das Wort nicht, dass wir die Hand nicht vom Pflug zurückziehen sollen. Kommt übermorgen wieder zu mir, mein Freund, und meldet mir Euren Entschluss.«

Als Cranmer seine Wohnung erreichte, sank er heftig bewegt in seinen Sessel.

»Mein Gott, erleuchte mich«, betete er. »Du kennst mein Herz! Du weißt, wie heiß verlangend es mich zur Gattin zieht, zu ihr, die in Sehnsucht nach mir ihr junges Leben verzehrt!«

»Ehrwürden, soeben trifft dieses Schreiben ein«, sagte sein Diener, indem er kniend dem Prälaten ein Paket überreichte.

»Ich danke«, antwortete Cranmer, erhob sich und ging in sein kleines Betzimmer, wo er ungestört den Brief lesen konnte.

Er hatte die Handschrift erkannt; sie war die seines Freundes Neander.

»Von Helens Vater! Warum schreibt sie nicht selbst? Sollte sie etwa krank sein?«

Er riss das Schreiben hastig auf. Aber kaum hatte er dessen kurzen Inhalt überflogen, als er mit einem krampfhaften Schmerzensruf zurücktaumelte.

Neander meldete dem Freunde, dass Helene, sanft im Herrn zu einem besseren Leben entschlummert sei! Ihre letzten Worte enthielten einen zärtlichen Gruß an den Geliebten ihrer reinen Seele.

Zur bestimmten Stunde erschien Cranmer wieder vor dem König.

»Wie steht es?«, rief dieser ihm gespannt entgegen, »wollt Ihr bei uns bleiben?«

»Ja, Majestät«, gab der Prälat zur Antwort. »Mein Weg ist mir klar geworden. Der Himmel selbst hat entschieden. Mit treuem, ungeteiltem Herzen will ich fortan, Euch zur Seite, für dieses Landes Seelenheil leben und sterben!«

Ende

Show 1 footnote

  1. Heinrichs eigene Worte