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Anne Boleyn Band 2 – Kapitel 23

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Zweiter Band

Der letzte Gang. Jane Seymour, die neue Königin.

Der Tag der Hinrichtung war angebrochen. Anne durfte nicht lange nach Erlösung seufzen, denn ihr königlicher Gemahl dürstete ebenso ungeduldig nach seiner Befreiung. Nur wenige Tage waren ihr zur Vorbereitung gegeben, aber die kurze Frist genügte der gedemütigten Seele.

Früh am Freitagmorgen beschied sie ihren Beichtvater zu sich. Nachdem sie mit demselben sich lange in eine religiöse Unterhaltung vertieft hatte, empfing sie das heilige Sakrament in Gegenwart und in Gemeinschaft ihrer Damen.

Da brachen die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster und erwärmten das kalte Gemach. Anne blickte heiter zum blauen Himmel auf und sagte mit verklärtem Antlitz: »Morgen um diese Zeit sehe ich den Sonnenaufgang im Reich Gottes! Nochmals beschwöre ich bei dem heiligen Leib des Erlösers, dass ich des Verbrechens unschuldig bin, dessen meine Feinde mich zeihen.«

Nach dem Frühmahl trat der Henker, von Kingston begleitet, bei ihr ein. Die Damen stießen einen Schrei des Entsetzens aus, aber Anne sagte ruhig: »Meine Lieben, erschwert dem Mann nicht sein ohnehin trauriges Amt. Tretet näher, mein Freund, und befühlt meinen Hals, auf dass Ihr mich nicht lange leiden lasset.«1

Sie setzte sich, und Mary Gaynsford nahm mit zitternder Hand das Tuch von ihrem Nacken weg. Ungeachtet ihrer Geistesruhe erbleichte Anne sichtlich bei der Berührung der rauen Hände.

»Majestät«, sagte der Scharfrichter, vor ihr niederkniend, »vergebt mir, wenn ich mein Amt vollziehe. Es wird nur eine Sekunde dauern – dann seid Ihr frei!«

»Ah!«, sagte Anne wieder heiter, ihren Hals mit beiden Händen umspannend, »er ist schlank und fein. Wann wird die Stunde schlagen, Sir Kingston?«

»Um Mittag werdet Ihr erlöst sein, Hoheit, und Eure Freundinnen frei«, lautete die Antwort.

Es schlug soeben elf Uhr. Der König hatte ausdrücklich befohlen, sie über ihre Todesstunde bis zuletzt in Ungewissheit zu lassen. Eine halbe Stunde später erschienen einige Mitglieder des Geheimen Rats und lasen ihr das Urteil nochmals vor.

»Mylord«, sagte Anne zu einem derselben, dessen Freundschaft sie versichert war, »ich bitte Euch, wollt dem König meinen letzten Auftrag mündlich überbringen. Sagt ihm, es freue mich, dass er konsequent an mir gehandelt habe. Von einem bescheidenen Edelfräulein erhob er mich zur Marquise, von der Marquise zur Königin und zuletzt erteilt er meiner Unschuld die Krone des Märtyrertums.«2

Der Bote wagte es nicht, seinem verblendeten Herrn diese Worte mitzuteilen, aber die Geschichte hat sie aufbewahrt, und sie wurden von einer fremden Hand, man glaubt von Cranmer, auf die Rückseite des Briefes geschrieben, den Anne aus dem Tower an ihren treulosen Gatten richtete.

Einige Minuten vor zwölf Uhr wurde das schwere Tor weit geöffnet, welches in den inneren Hofraum des Schlosses führte. Es war dasselbe Thor, durch welches Anne vor drei Jahren im Monat Mai als errötende, glückliche Gemahlin Heinrichs im Triumph eingezogen war.

Nun erschien sie unter dem Portal, von ihren Damen begleitet, im schwarzen Samtgewand an der Hand des Gouverneurs, der hier das Amt des ersten Kammerherrn verwaltete.

»Wie schön sie ist!«, flüsterten die Zuschauer, »welche sichere Haltung und Ruhe!«

Das Schafott befand sich auf dem grünen Rasenplatz vor der kleinen Kirche St. Peter.

Der Raum um dasselbe war so beschrankt, dass er nur wenig Zuschauer fassen konnte.

Sir William half Anne die Treppe des Gerüstes besteigen, worauf er sie verließ. Anne warf einen würdevollen, forschenden Blick auf den anwesenden Cromwell sowie auf einige andere Männer, welche sämtlich ihre Stellungen ihrer Güte verdankten, und sprach mit lauter Stimme: »Ich komme hierher, um zu sterben, mich in Demut dem Willen des Königs zu unterwerfen, nicht um jemanden anzuklagen. Will einer unter Euch sich meiner Sache annehmen und meine Unschuld vor der Welt rechtfertigen, so möge er dafür Gottes Segen ernten. Im Übrigen nehme ich Abschied von dieser Welt und bitte Gott, meinen Feinden zu vergeben.«

Sie nahm hierauf selbst ihren Hut und den kleinen Kragen ab, womit sie ihren Nacken bedeckt hatte, und reichte beides Mary Gaynsford, welche ihre langen Haare mit zitternden Händen unter einer kleinen Haube von schwarzem Samt festband.

»Armer Kopf!«, sagte Anne während dieser peinlichen Szene, »bald wirst du dort in den Sand rollen. Doch wenn du im Leben einer Krone unwert warst, wie viel mehr noch im Tode!«

Aller Anwesenden bemächtigte sich eine heftige Bewegung bei diesen Worten. Die Damen schluchzten laut, Suffolk und Richmond wandten sich ab.

»Ich kann es nicht länger aushalten!«, sagte Suffolk. »Wollte Gott, ich hätte nie mit dieser Sache zu tun gehabt. Ich glaube nun doch, dass sie unschuldig ist.«3

»Pst!«, sagte Richmond erschrocken, »wahrt Eure Worte, Mylord, wenn Euch der Kopf lieb ist. Ob die Kanone gerichtet ist, welche dem König das Signal erteilen soll?«

»Ich glaube, ja. Kingston versicherte mich, dass alles in Ordnung sei.«

Indessen hatte sich Anne zu ihren Freundinnen gewandt, um Abschied von ihnen zu nehmen. Sie küsste alle herzlich mit den Worten: »Ich kann Euch nicht durch äußere Reichtümer für Eure Treue gegen mich bis zum Tod lohnen. Behaltet mich lieb und vergesst nicht, für meine Seele zu beten. Dient dem König getreulich, ohne Bitterkeit des Herzens, sowie derjenigen, welche er Euch nach mir zur Königin geben wird. Wahrt die Keuschheit und Ehrenhaftigkeit und Eure frommen Gesinnungen als Euren besten Schatz. Dir, meine geliebte Mary, übergebe ich dieses Buch zum Andenken an mich, und«, fügte sie in leisem Ton hinzu, »grüße mir Henry, den treuen Freund, und bitte, dass er meiner gedenken möge, wie ich seiner droben.«

Mary Wyatt küsste das in Gold gebundene Gebetbüchlein, das dreizehn Psalmen enthielt, und schob es unter die Brust.

Kingston näherte sich nun dem Gerüst und mahnte, dass die Stunde gekommen sei, worauf Anne ihre Hände faltete, sich von den drei Mädchen abwandte, und auf den Block zuschritt, vor welchem sie niederkniete.

Elisabeth Guilford verband ihr mit einem feinen Tuche die Augen, trat dann einige Schritte von ihr weg und sank hier mit verhülltem Antlitz auf ihre Knie nieder.

Anne aber rief mit lauter Stimme: »Dominus in manus tuas.«

Da blitzte das scharfe Schwert in der hellen Sonne. Mit einem Streich, wie der Scharfrichter es versprochen hatte, rollte das schöne, blutige Haupt in den Sand.

Ihre treuen Mädchen, obwohl von Schmerz und Kummer wie gelähmt, ermannten sich indessen, als der Scharfrichter Miene machte, die Leiche aufzuheben. Sie drängten sich um dieselbe, reinigten die langen Haare und das schöne Gesicht von dem Blut, hüllten den Körper in reine Leinwand und betteten ihn in eine hölzerne Truhe, welche zu diesem Zweck neben dem Block stand.

Das traurige Werk war noch nicht beendet, als dröhnend von den Mauern des Towers eine der stärksten Kanonen ertönte und eine Feuerkugel in einem weiten Kreis über die Themse flog, wo sie zischend in den Fluten versank. Die Frauen fuhren zwar bei dem Schuss erschrocken zusammen, aber keine fragte, was er zu bedeuten habe.

Der König befand sich nicht in London, sondern war vor Tagesanbruch auf die Jagd geritten. In Richmond blieb er, unter dem heuchlerischen Vorwand des geängstigten, betrübten Herzens über sein häusliches Leid, einige Stunden und verfügte sich gegen elf Uhr zu einer kleinen Anhöhe im Wald, hart am Rande des Flusses, von wo aus die dunklen Umrisse des Towers undeutlich sich abzeichnen. Unverrückt hielt er seine scharfen Augen auf den unheimlichen Punkt geheftet. Wiederholt fragte er einen seiner Vertrauten, ob es noch nicht Mittag sei. Da endlich ertönte das Signal, und ein leichter Rauch stieg zum Himmel auf.

»Es ist vorbei, Majestät, Ihr seid frei!«, flüsterte sein Höfling. »Ein neues, schönes Glück erwartet Euch.«

Mit leidenschaftlicher Hast sprang der König vom Boden auf und zu Pferde.

»Ruft die Hunde herbei!«, befahl er. »Auf, meine Herren, vorwärts!«

Er sprengte dem Zug voran. Niemand fragte, wohin es gehe. Jeder erriet es im Stillen, jeder wusste, dass sie Wolfshall, dem Wohnsitz Janes, zueilten.

Das Schloss wurde gegen Abend erreicht. Der König schien hier erwartet worden zu sein, denn die Familie Seymour empfing den Ankommenden mit freudestrahlenden Mienen, und Jane küsste demütig die mit Blut befleckte Hand ihres Verehrers. Aber der König entriss sie ihr und schloss sie angesichts aller mit den Worten in die Arme: »Meine teure, vielgeliebte königliche Braut, gegen Mitternacht kommen die drei Zeugen von Annes Hinrichtung, Suffolk, Richmond und Cromwell, in Wolfshall an.«

Gegen 9 Uhr am folgenden Morgen betrat der König, Jane an der Hand, die kleine Kapelle des Gutes und ließ sich mit ihr trauen. Dann reiste er in Begleitung der Braut nach Winchester. Am 29. desselben Monats zog Jane Seymour öffentlich als dritte Gemahlin Heinrichs in London ein.

Wer noch so verblendet gewesen war, an die Schuld der unglücklichen Anne zu glauben und Heinrich zu beklagen, dem fiel bei dieser Nachricht der Schleier von den Augen. Nur allzu klar zeigte sich der wahre Beweggrund zu der traurigen Katastrophe.

Ein Schrei des Entsetzens ertönte in allen christlichen Landen. Am heftigsten äußerte sich König Franz von Frankreich über den fürchterlichen Mord.

»Le Monstre!«, rief er mit geballter Faust aus. »Oh, könnte ich sein falsches Herz mit dieser Hand durchbohren!«4

Nur Rom frohlockte, triumphierte und ließ ein feierliches Herrgott, dich loben wir ertönen. Das Werk war gelungen, der diabolische Plan geglückt. Die Ketzerin schlief den langen Schlaf des Todes. Cranmer aber verhüllte das bewegte Gesicht in sein fürstliches Gewand und weinte bitterlich.

Von dem Schmerz der tiefgebeugten Eltern aber wollen wir schweigen, ein solches Leid ist zu heilig, zu tief, um mit Worten beschrieben zu werden.

Eines Abends oder vielmehr in einer Nacht, wenige Tage nach der Hinrichtung Annes, hätte ein Aufpasser ein unheimliches kleines Lichtchen wahrnehmen können, das sich vom Hofe der Wächter gegen die kleine Kirche hin bewegte und dort plötzlich eine Zeit lang verschwand. Nach Verlauf einer Stunde jedoch erschien dasselbe wieder und bewegte sich über den Rasenplatz, den inneren Hof und bis ans Thor. Dieses musste von dem Pförtner geräuschlos geöffnet worden sein, denn das Licht schwebte über die Schwelle. Wer hinausgeblickt hätte, würde einen Karren bemerkt haben, auf den zwei Männer einen länglichen eisernen Kasten, der einem Sarg glich, vorsichtig stellten. Ein leises, unverständliches Gemurmel, wie von gedämpften Stimmen, ließ sich vernehmen, worauf das Licht erlosch und das Tor geschlossen wurde.

Der Karren, von einem Mann in der gewöhnlichen Tracht eines Fuhrmannes geführt, setzte seinen Weg durch die schweigsamen Straßen Londons fort und erreichte endlich gegen Morgen die Landstraße nach Never. Dort näherte sich plötzlich ein Reiter, welcher hinter einem Baum zu Pferde gehalten hatte, und wechselte mit dem Führer einige Worte, worauf beide den Rossen die Sporen gaben und im gestreckten Trab ihren Weg fortsetzten.

Die kleine Kirche des abgeschiedenen Örtleins Salle enthält die alte Ahnengruft der Boleynschen Familie. Dorthin begaben sich der Fuhrmann und der geheimnisvolle Reiter. Die Kiste wurde vom Karren heruntergehoben und in die Kirche getragen, wo ein Mann mit einer Blendlaterne ihrer harrte.

»Gottlob, dass Ihr endlich da seid, Sir Henry«, sagte er. »Ich befürchtete schon, es möchte Euch ein Unglück zugestoßen sein oder dass Ihr entdeckt worden wäret.«

»Nein, es ist gelungen«, erwiderte Wyatt, denn er war es. »Der Totengräber ließ

sich willig bestechen, uns die Kiste auszuliefern, und dafür eine mit Steinen gefüllte an ihren Platz zu setzen. Auch der Torwart ließ uns passieren. Aber lasst uns eilen und die geliebte Leiche in der geweihten heimatlichen Gruft niedersetzen.«

Es geschah. In kurzer Zeit war die Gruft wieder geschlossen, vor der die drei Männer dann ein stilles Gebet sprachen.

Nach einer Weile fragte leise der alte Haushofmeister der Boleynschen Familie: »Dürfen wir ihr kein Denkmal setzen?«

»Nein, mein Freund«, antwortete Wyatt, »das wäre gefährlich für uns und auch für die Asche der geliebten Toten, denn es würde dem König oder seinen Spürhunden diese heilige Stätte verraten; höchstens eine Platte schwarzen Marmors ohne Namen. Überlassen wir in Demut dem Himmel die Rechtfertigung ihrer Ehre. Wer weiß, ob der Tag nicht bald anbricht, an dem ihre Tochter als Königin in diesem Land regieren und das Andenken der Mutter reinigen wird«?

»Wird die Prinzessin uns nicht ausgeliefert werden, wie Lady Boleyn bat?«

»Nein, ich glaube nicht, aber das Kind wird nicht mehr verlassen sein. Die Prinzessin Mary, der man die letzte Bitte Annes überbrachte, eilte selbst zum König und bat ihn fußfällig um die hohe Gnade, Elisabeth unter ihren Schutz nehmen zu dürfen.«

»Gott lohne es ihr hier und in der Ewigkeit!«, sagte der ergraute Diener.

»Ja, es ist ein Edelmut, der seinesgleichen auf Erden sucht«, erwiderte Wyatt.

»Wie steht sie mit der neuen Gemahlin?«

»Aufs Freundschaftlichste. Jane soll dem König nur unter der Bedingung die Hand gereicht haben, dass Mary in ihren Rang als Kronprinzessin wieder eingesetzt und auch Elisabeth als die Tochter seiner Gemahlin anerkannt werde. Mary hat demzufolge Huntington, ihr altes Schloss, wieder bezogen und überwacht mit schwesterlicher Liebe die kleine Elisabeth.«

»Ach, diese Nachricht wird ein Freudentropfen auf die wunden Herzen der edlen Familie sein!«, sagte der Hausmeister. »Eilt nun, Sir Henry, und bringt ihnen die Nachricht von Eurem Gelingen.«

Wyatt seufzte tief auf, dann folgte er den beiden Männern, welche die Kirche sorgfältig hinter sich schlossen.

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  1. Geschichtlich
  2. Geschichtlich
  3. Geschichtlich
  4. Franz’ eigene Worte