Der Detektiv – Die verschwundene Million – 5. Kapitel
Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die verschwundene Million
5. Kapitel
Kingston, eigentlich Kingston on Thames, in der englischen Grafschaft Surrey und am rechten Ufer der Themse gelegen, erhielt zwei Tage drauf den Besuch eines älteren Ehepaars. von dem die Frau mit einem Gesichtsleiden behaftet war und daher stets einen dichten schwarzen Schleier trug. Der Mann war gut einen Kopf größer, sehr kurzsichtig, hatte einen grauen, kurzen Bart und nannte sich Privatgelehrter Doktor Howard Reed aus New York, wollte in Kingston die reichlich vorhandenen alten Bauwerke studieren und war mit seiner Gattin in einem bescheidenen Hotel in der Henry-Straße abgestiegen, bewohnte dort im zweiten Stock zwei Zimmer nach hinten heraus und wurde von niemandem weiter beachtet.
Wer dieses Ehepaar war, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Mir als ehemaligem Komiker fiel es nicht schwer, eine ältere Dame sehr naturgetreu darzustellen, und dass Harst jeder Rolle gerecht wurde, ist bei seiner Vielseitigkeit selbstverständlich.
Harsts Geheimniskrämerei ist zuweilen für mich fast verletzend. Auch dieses Mal hatte er mir bisher weder über die beiden Skizzen noch über sonst etwas Aufschluss gegeben, was mit dieser Reise zusammenhing. Dass er es auf Warbatty abgesehen hatte, dem er fraglos die gestohlene Million wieder abnehmen wollte, stand ja fest.
Im Übrigen wusste ich nichts weiter – gar nichts. Er sprach immer nur von den alten Bauwerken, besonders von der seit 1389 stehenden ältesten St. Thomas-Kirche auf dem sechseckigen Chesterplatz und dem zweitältesten Gebäude, einem Privathaus in der Gorlickstraße, in dem sich seit anderthalb Jahrhunderten das Bankgeschäft von Joe Philippson befand. Unsere Straße hieß Maxwell-Garden, unser Hotel Schottischer Hof. Von unseren Zimmerfenstern aus hatten wir die Rückseite des genannten Bankgebäudes etwa 25 Meter vor uns. Beide Grundstücke trennte eine hohe, ebenfalls sehr ehrwürdige Mauer.
Nachdem ich diese langweilig erscheinenden Ortsangaben, die doch so sehr nötig sind, erledigt habe, wird der Fall Warbatty sofort wieder spannender. Harst ließ mich in unseren Zimmern am ersten Tag allein (wir waren morgens eingetroffen) und bummelte mit seinem Momentapparat durch die Stadt. Nach dem Abendessen, das wir wieder oben bei uns einnahmen, setzten wir uns an das offene Fenster und genossen die milde Abendluft. Von der Themse her waren nur leichte Nebel über die Stadt hingezogen, sodass wir das Bankgebäude recht deutlich sahen. Harst plauderte über die St. Thomas-Kirche, mit deren Küster er sich bereits angefreundet hatte.
»Der Mann erzählte mir, dass früher einmal, wie aus der Stadtchronik ersichtlich, mehrere unterirdische Gänge aus den Gewölben der Kirche unter der Stadt entlangführten. Sie sind jetzt zum Teil eingestürzt, zum Teil ist die Kenntnis ihrer geheimen Türen verloren gegangen. Dann zeigte er mir auch den in der Sakristei in einem eingemauerten Eisenschränkchen untergebrachten sogenannten Wunderschrein des St. Thomas ein Holzkästchen von Zigarrenkistengröße, das sehr reich mit Edelsteinen geschmückt ist und in dem eine Mumienhand liegt, deren Ringe mit noch wertvolleren Brillantringen dicht besteckt sind. Diese Hand hat einmal zu dem schönen Körper der Lady Rockwell gehört und ist ihr durch Gerichtsurteil 1528 abgeschlagen worden, da die Dame in ihrer krankhaften Sucht nach kostbarem Schmuck zur gefährlichen Diebin geworden war. Der brave Küster kramte noch mehr recht merkwürdige Dinge aus. Er hat zu mir volles Vertrauen gefasst, denn ich habe mich ihm zu erkennen gegeben und ihm einen von der Berliner Polizei ausgestellten Ausweis vorgelegt, nachdem er mir etwas verängstigt mitgeteilt hatte, seit einiger Zeit, spuke es in den Gewölben des Gotteshauses. Für Geister interessiere ich mich sehr, lieber Schraut.«
Dann sprach Harst von der Brücke, die über die Themse führt und die 20 Bogen hat, lobte ihre Konstruktion und fügte ohne jeden Zusammenhang hinzu: »So, es kann los gehen, Schraut. Werde wieder ein Mann! In diesem soliden Hotel schläft längst alles.«
Ich verstand, legte die Frauenkleider ab und war nun wieder Max Schraut. Harst steckte seine Pistole und einen Bund Dietriche ein, ergänzte die Trockenbatterie in seiner Taschenlampe und führte mich – wir trugen unsere ledernen Morgenschuhe – sehr leise auf den Hotelboden und von da auf das flache Dach, weiter dann auf das des linken Nebenhauses, öffnete dort die nur aufgelegte Dachluke und stieg die Treppe bis zum Erdgeschoss hinab, schloss mit einem Dietrich die Kellertür auf und drückte sie leise wieder zu.
Mir war durchaus nicht behaglich bei alledem. Wir hatten ja schon ähnliche Ausflüge anderswo des Öfteren gewagt und waren zuweilen nur gerade so mit einem blauen Auge davongekommen. Unten an der Kellertreppe standen leere, sehr große Kisten. Harst wählte die größte aus, und wir krochen hinein, breiteten den Holzdeckel wieder über uns und setzten uns auf die in der Kiste noch befindliche Holzwolle.
Harst schaltete nun seine Lampe ein. Die Kiste hatte in der vorderen Seitenwand eine breite Spalte und ein Astloch.
»Schraut, die Spalte für mich, das Astloch für dich«, meinte er leise. »Sie werden bald kommen, schätze ich. Sie arbeiten fraglos jede Nacht.«
Es gehörte nicht viel Geist dazu, zu erraten, dass er Warbatty und einige von dessen Bande meinte.
»Es sind ihrer drei«, fuhr er fort. »Warbatty, der Neunfingerige und zwei junge Burschen, die er als seine Söhne ausgibt. Sie wohnen in diesem Haus im Erdgeschoss bei einer alten Witwe und spielen die harmlosen Hausierer. Das Haus hier ist das drittälteste der Stadt, wie du wohl schon an den Treppen gemerkt hast. Solche Hühnerstiegen baut man seit hundert Jahren nicht mehr. Du siehst, ich habe mich heute im Laufe des Tages nicht nur mit dem Küster unterhalten, sondern habe auch aus Orkneys Stadtplanskizze von Kingston und aus den punktierten Linien leicht herausgefunden, wo Warbatty hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Warbatty bewegt sich hier sehr zwanglos in seiner wirklich tadellosen Verkleidung. Er gleicht nun einem gebrechlichen Greis, dem es Mühe macht, seinen Hausiererkasten zu schleppen. Dieser Mensch ist tatsächlich ein würdiger Gegner. Nun, ich hoffe ihm sowohl die Million wieder abzunehmen als auch seine hiesigen Pläne gegen die St. Thomas-Kirche und das Bankgeschäft Joe Philippson etwas zu stören. Das an der Kingston-Skizze angekreuzte Haus ist nämlich das Gebäude unseren Hotelfenstern gegenüber. Ich werde …«
Er schwieg plötzlich. Und auch ich vernahm nun das leise Knarren der Kellertreppenstufen, ebenso flüsternde Stimmen.
Harst hatte die Lampe schon vorhin gleich wieder ausgeschaltet. Ich lugte nun durch mein Astloch, durch das ein feiner Lichtstrahl in die Kiste fiel. Ich konnte drei Gestalten erkennen. Einer der Männer trug eine recht große Azetylenlaterne.
»Die Kellertür war offen«, sagte der Kleinste der drei.
Die beiden anderen schienen wahre Athleten zu sein.
»Sie war noch nie unverschlossen. Mir will das nicht recht behagen. Seit Orkneys Tod bin ich noch misstrauischer. Dieser deutsche Schnüffler wird sich ja fraglos alle Mühe geben, mich abzufassen.« Er lachte leise auf. »Wenn er nochmals meinen Weg kreuzt, werde ich eine Radikalkur gebrauchen. Warten wir noch ein paar Minuten, ob sich was im Haus rührt.«
Der Mann war fraglos Warbatty, und der deutsche Schnüffler natürlich Harald Harst.
Sie schwiegen nun und verhielten sich ganz still. Einmal traf der Laternenschein Warbattys Gesicht. Harst hatte recht: der Mann schien seinem Äußeren nach bereits einige siebzig Jahre zu sein. Dann verschwanden sie lautlos in dem Kellergang, an dem rechts und links die Verschläge der Hausbewohner lagen.
Harst hob geräuschlos den Deckel auf, raunte mir zu: »Bin gleich wieder da.«
Er huschte davon. Es verging eine Ewigkeit, ehe er zurückkehrte. Ich hatte ihn nicht kommen gehört. Als er mir auf die Schulter tippte, fuhr ich ganz entsetzt zusammen. Dann blitzte seine Taschenlampe auf.
Ich erkannte, dass er triumphierend lächelte.
»Meine Vermutung war richtig, Schraut«, meinte er nicht allzu leise. »Aus diesem Keller führt ein unterirdischer Gang wahrscheinlich zur Thomas-Kirche. Ich kenne jetzt auch die Art, wie man hineingelangt. Das genügt vorläufig. Beeilen wir uns.«
Wir verließen den Keller und drangen mithilfe der Dietriche in die beiden Zimmer ein, die Warbatty mit seinen Spießgesellen bewohnte. Das vordere hatte seinen Eingang vom Hausflur aus. Wir schlossen hinter uns zu. Wir fanden in dem ärmlich möblierten Schlafzimmer der drei unter dem Bett einen noch recht neuen, mittelgroßen Rohrplattenkoffer mit zwei Patentschlössern, bei denen mit Nachschlüsseln nichts auszurichten war. Harst schickte mich als Wache an die zum Flur hinausgehende Tür. Ich konnte von dort aus beobachten, wie er im anderen Zimmer die Scharniere des Kofferdeckels mit einem kleinen Brecheisen lockerte. Dann schlug er den Deckel zurück, wühlte in dem Koffer Kleidungsstücke durcheinander und hielt dann ein Päckchen hoch, indem er das Licht der Taschenlampe voll auf dieses kleine Paket fallen ließ. Ich ahnte: Es muss die gestohlene Million sein!
Harst brachte die Scharniere wieder leidlich in Ordnung und schob den Koffer unter das Bett zurück. Das Päckchen hatte er in die linke Brusttasche gezwängt. Ich hoffte, wir würden sofort in unsere sicheren Hotelzimmer zurückkehren.
Harst dagegen, der nun dicht neben mir stand, flüsterte: »Ich werde mich hier noch näher umsehen. Der schlaue Bursche dürfte noch mehr Verstecke haben als nur den Koffer mit dem doppelten Boden. Die Million habe ich jetzt. Ich möchte aber auch versuchen, noch mehrere dieser Stadtplanskizzen in die Hand zu bekommen.«
Es war nicht gerade warm hier, aber ich schwitzte doch wie in einem Sonnenbad – vor Aufregung! Wenn Warbatty plötzlich hier erschien, musste es ganz sicher zu Auseinandersetzungen mit Pistolenschüssen kommen.
Harst suchte auf seine Art wohl eine halbe Stunde. Er fand nichts. »Gehen wir«, meinte er recht enttäuscht.
Aber wie gerechtfertigt waren meine Besorgnisse gewesen. Die Tür ließ sich nicht öffnen! Der Riegel schnappte unter dem Druck des Dietrichs zwar zurück, aber – das war auch alles! Harst besichtigte die Tür. Sie bestand aus dickem, tief nachgedunkeltem Eichenholz.
»Verdammt, wir scheinen in eine Falle geraten zu sein!«, flüsterte er und eilte zum nächsten Fenster. Diese waren von innen mit Holzladen verwahrt. Auch hier Eichenholz und dazu eiserne Querstangen, deren Haken mit Patentschlössern versehen waren.
Harst überlegte, starrte vor sich hin. Dann meinte er achselzuckend: »Wir müssen Lärm schlagen. Es hilft nichts. Weder die Tür noch die Läden lassen sich aufsprengen …«
Mir lief der Schweiß über das Gesicht. Plötzlich packte Harst meinen Arm.
»Schraut, vielleicht liegt es an dem Koffer?« Er huschte davon, leuchtete unter das Bett, zog den Koffer hervor und kroch halb unter das Bett. Dann hörte ich sein leises Da haben wir’s!
Er brachte hastig den Koffer an die alte Stelle zurück, winkte mir, steckte den einen Dietrich wieder in das Schlüsselloch der Flurtür und – jetzt ließ sie sich öffnen.
Ich atmete auf. Wir hatten für heute nun wohl genug erlebt. Oben in unseren Zimmern würde ich sofort einen großen Kognak trinken. Das nahm ich mir fest vor, als wir nun der Treppe zu schlichen. Zu meinem Schreck bog Harst links ab – dem Keller zu, öffnete die Tür, lauschte eine Weile und zog mich mit die Stufen hinunter in die muffige, feuchtkalte Luft, in die Nacht schwarze Finsternis. Und abermals sagte mir eine innere Stimme: Die Geschichte hier nimmt ein böses Ende.
Und – es war so! Urplötzlich zuckte vor uns ein breiter Lichtschein auf. Dann fühlte ich mich von hinten von Riesenarmen umschlungen. Eine schwere Decke fiel mir über den Kopf. Ich wollte schreien, spürte aber sofort den widerlich süßen Geruch von Chloroform, hielt den Atem an, musste schließlich doch Luft holen und verlor sehr bald die Besinnung.
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich an einen Stuhl aufrecht sitzend gefesselt. Und mir gegenüber saß Harst, dem Arme und Beine gleichfalls mit dünnem Kupferdraht an den einfachen Holzstuhl gebunden waren. Auch er war bereits bei Bewusstsein. Unsere Stühle standen etwa anderthalb Meter auseinander. Das Zimmer, in dem wir dergestalt uns wiedersahen, war der Schlafraum Warbattys und seiner Genossen. Über uns brannte eine elektrische Lampe, und neben uns saß auf dem Rand des einen Betts der gebrechliche Greis: Warbatty selbst! Er hielt in der Rechten einen Porzellan-Druckknopf, wie er bei elektrischen Hausklingeln benutzt wird. Von diesem Druckknopf liefen zwei dick bespannte Drähte zu einen Fenster und unseren Stühlen hin.
»Wag nicht etwa um Hilfe zu rufen!«, sagte er nun zu mir. »Deinen Freund Harst habe ich bereits gewarnt. Sobald ich auf diesen Knopf drücke, erhaltet Ihr von der Starkstromleitung einen Schlag, der für noch größere Wesen genügt, als Ihr es seid. Meine Alarmvorrichtung hat sich tadellos bewährt. Sobald ein Unberufener den Koffer hervorzieht, ereignet sich zweierlei. Erstens: Die Tür lässt sich nicht mehr öffnen. Zweitens: Irgendwo ertönt eine Klingel – irgendwo!« Er grinste »Und daher haben wir euch beide auch erwartet. Ich ahnte gleich, wer hier in meinen Zimmern war. Ich stand draußen, als ihr mit dem Dietrich im Schloss herumgearbeitet habt. Allerhand Achtung, dass Harst so schnell herausgefunden hat, dass unter dem Koffer in den Dielen Kontakte angebracht waren und dass er auch die Sperrriegel der Tür ausschalten konnte. Harald Harst, du bist ohne Zweifel ein bedeutender Mensch. Nur mit mir hättest du nicht anbinden sollen! Es tut mir leid, euch beide im Interesse meiner Sicherheit hier auf amerikanische Weise, durch einen elektrischen Hinrichtungsstuhl beseitigen zu müssen. Ihr werdet aber selbst einsehen, dass jeder sich selbst der Nächste ist. Wir können nun unser Gespräch fortsetzen, Harald Harst. Wie ist es dir möglich geworden, meine Spur bis hierher zu verfolgen?«
Harst erwiderte gelassen: »Wenn ich nicht mehr könnte, als hinter einem Mann zu bleiben, der durch seine Hagerkeit und seine geringe Größe auffällt, wäre ich ein kläglicher Stümper. Falls du von mir aber etwas dazulernen willst, Warbatty, bin ich gern bereit, mit Einzelheiten zu dienen.«
Warbatty zuckte die Achseln. »Ich – von dir etwas lernen?« Er war offenbar in seiner Verbrechereitelkeit gekränkt und fragte nichts weiter. Harst war dies nur lieb.
Denn er hatte ja ohne Frage von den beiden Skizzen schweigen wollen, die er nun stets sehr gut in seiner Reisehandtasche in dem Buchdeckel eines Romans versteckt hielt. Sein ironisches Angebot an Warbatty, diesen so zu belehren, war wieder einmal einer jener feinen Tricks gewesen, bei denen er sich als glänzender Menschenkenner zeigte.
Warbatty hatte nach kurzer Pause hinzugefügt: »Ich kann mich mit euch beiden hier nicht länger aufhalten. Es ist jetzt …« Er zog eine mit Brillanten besetzte Kapseluhr hervor und ließ den Deckel springen. »… kurz nach zwei Uhr morgens. Wir haben noch etwa zwei Stunden zu tun, bis wir die Stahlkammer von Joe Philippson ausgeräumt und auch den Wunderschrein aus der St. Thomas-Kirche für uns mit Beschlag belegt haben. Damit du es nämlich weißt, hochwerter Harst: Zwei Leute meiner weit verzweigten Bande haben hier seit einem Monat alles vorbereitet, damit wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe fangen können. Von der Thomas-Kirche führen unterirdische Gänge zu diesem Haus und in Philippsons Bank. Um aber bis an die Stahlkammer dieser Bank vorzudringen und um auch in der Kirche in kurzer Zeit die hindernden Türen öffnen zu können, war, wie gesagt, noch manches zu tun. Heute sind wir so weit.« Er schaute Harst höhnisch-überlegen an. »Ja, die Welt wird noch so manches von Cecil Warbatty hören, und die Polizei wird sich die Fersen hinter mir wundlaufen!«
»Nicht möglich!«, rief Harst mit glänzend gespieltem Erstaunen. »Unterirdische Gänge soll es hier geben? Hm – du wirst ein wenig prahlen, Warbatty!«
Der kleine, magere Verbrecher, der doch ein so großes Genie in seiner Art war, lachte belustigt auf. »Ich – ich und prahlen! Da kennst du mich schlecht, Harald Harst! Aber du wirst mich sofort näher kennen lernen.«
Er stand auf, legte den Druckknopf mit den Drähten auf den Fußboden, nahm einen kleinen vierbeinigen Tisch, stellte ihn unter eine alte Wanduhr mit mächtigen Gewichten, schraubte den Druckknopf unter einem dieser Gewichte fest, nachdem er genau ausprobiert hatte, dass das Gewicht mit seiner glatten Unterseite beim Tiefersinken den weißen Porzellanknopf herabdrücken musste, warf das Päckchen mit der Million mit einem ironischen Da – holt es Euch! auf dasselbe Tischchen, drehte an den Zeigern der Uhr, ließ sie des Öfteren schlagen, bis das eine Gewicht (es war das des Schlagwerks) kaum ein Zentimeter über dem Knopf schwebte.
»So«, erklärte er dann mit wahrhaft teuflischem Hohn, »nun werde ich euch noch Knebel in den Mund zwängen und diese so festbinden, dass ihr sie nicht mit der Zunge hinausstoßen könnt. Eure Stühle sind am Fußboden angeschraubt. Ihr müsst also wehrlos mit ansehen, wie nach zehn Minuten, sobald der große Zeiger ebenfalls die Zwölf erreicht hat, die Uhr zu schlagen beginnt, das Gewicht sich dann senkt, den Knopf herunterdrückt und der elektrische Strom geschlossen wird. Ihr werdet zugeben, dass ich diese Hinrichtungsart recht geschickt ersonnen habe. Eurer Berühmtheit entsprechend: Harst und sein Gehilfe dürfen doch nicht auf gewöhnliche Weise sterben! Während dieser zehn Minuten könnt ihr euch noch an dem Anblick der Million erfreuen, die ihr so gern zurückerobern wolltet. Lebt wohl. Wenn der Morgen graut, reise ich bereits dem schönen Süden zu – zu noch schöneren Taten!« Er verbeugte sich, ging eilig davon. Das Licht ließ er brennen.
Meine Augen suchten Harsts Gesicht. Aber da der kalte Schweiß mir in die Augen lief, musste ich sie schnell wieder schließen. Sie tränten und brannten. Und in meinem Hirn tobte wie ein Feuerbrand nur ein Gedanke: Noch sieben oder acht Minuten vielleicht! Dann ist es aus mit dir! Da – eine Stimme, Harsts Stimme! Und erst in diesem Moment wurde es mir klar, dass Warbatty ja vergessen hatte, uns zu knebeln! Wir konnten also um Hilfe rufen. Ein kleiner Hoffnungsstrahl also! Doch wie schnell erlosch er wieder!
Denn Harst sagte leise: »Lieber Schraut, dieser Warbatty hat absichtlich unsere Todesangst noch durch die Möglichkeit erhöhen wollen, uns durch unsere Stimmen bemerkbar machen zu können – absichtlich! Wir sollten rufen, brüllen, sollten uns an die Hoffnung klammern, jemand würde uns noch zur rechten Zeit aus dieser Lage befreien, sollten gleichzeitig die Sekunden, die Minuten über diesen nutzlosen Versuchen verstreichen sehen. Er weiß eben genau, dass uns niemand hören kann, und wenn ja, dass die Hilfe dann doch zu spät kommt. Als du noch bewusstlos warst, sagte er mir, dass die Witwe hier, die Zimmervermieterin, taub und die Wohnung über uns leer ist, dass die doppelten Fenster noch durch dicke Decken außer den Laden verhängt sind! Nie hätte er uns die Knebel erspart, wenn er nicht ganz bestimmt gewusst hätte, dass wir uns umsonst heiser schreien könnten. Ich verzichte daher auch darauf. Es gibt für uns nur eine Art der Rettung. Ob sie glückt, weiß ich nicht. Die Hauptsache ist, dass wir diese kritischen Minuten überleben. Dann wird schon Rat werden. Nimm all deine Energie zusammen, Schraut! Von unserem kaltblütigen planmäßigen Vorgehen hängt unser Leben ab. Das Schlaggewicht ist von uns anderthalb Meter entfernt. Es hängt von der Uhr gerechnet an einer jetzt etwa ebenso langen Kette. Wenn wir …« Er sprach weiter. Und ganz plötzlich lief mir nicht mehr der Schweiß über die Stirn.
Ich verlege den Schauplatz der Handlung in den Universum-Klub nach Berlin zurück.
*
Am folgenden Abend um elf Uhr waren Harsts Wettgegner im Vorstandszimmer des Klubs vollständig versammelt. Als Letzter trat Kommerzienrat Kammler ein. Er war sichtlich erregt.
»Meine Herren«, begann er, »ich habe Sie zu dieser Stunde sämtlich hierher gebeten, weil ich nachmittags eine Depesche von Harst aus Kingston in England erhielt, in der er mich bat, wir sollten ihn hier erwarten. Er würde fünf Minuten nach elf hier eintreffen. Ich hatte keine Ahnung, dass er in England weilte, und ich kann nur annehmen, dass er die Million …«
Da, von der Tür her vollendete eine andere Stimme den Satz.
»Die Million mitgebracht hat. Das stimmt!«
Es waren Harst und ich, die nun eintraten.
Und Harst fuhr fort: »Guten Abend, meine Herren. Ich habe mich um drei Minuten verfrüht. Es ist erst zwei Minuten nach elf. Hier ist die Million!« Er warf das Päckchen auf den Mitteltisch. »Bitte nehmen Sie Platz, meine Herren. Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig.«
In knappen Worten schilderte er, wie er durch die Skizzen gerade auf Kingston gekommen sei und was wir dort dann erlebt hatten.
»Unsere Rettung vor dem elektrischen Starkstrom«, sagte er nun lebhafter werdend, »hing einzig von unserer Lungenkraft ab. Gelang es uns, das Schlaggewicht durch planmäßiges Blasen zum Schwingen zu bringen, so musste es schon ein sehr unglücklicher Zufall sein, wenn das beim Schlagen ruckweise tiefer gleitende Gewicht gerade den kleinen Knopf berührte und auch herabdrückte. Wir hatten Glück: In kurzem schwang das Gewicht so stark hin und her, dass es an der Wand entlang scheuerte und die Uhr dann schlug, ohne unser Lebenslicht Punkt zwölf auszulöschen. Das Gewicht legte sich nachher neben das weiße Knöpfchen an dessen runder Umhüllung. Wir waren also vorläufig gerettet. Und nun begann ich mich auf meinem festgeschraubten Stuhl ruckweise nach hinten zu werfen. Auf die Dauer verträgt das keine Lehne. Genau eine halbe Stunde später krachte der Stuhl auseinander und ich fiel auf den Fußboden, konnte mich nun bis zu Schraut hin wälzen und seine Kupferfesseln aufdrehen und loswickeln. Auch dies verlangte eine halbe Stunde. Meine Dietriche lagen auf einem der Betten. So gelangten wir ins Freie, eilten zur nächsten Polizeiwache, bald darauf waren sowohl die Thomas-Kirche als auch die Bank und Warbattys Haus besetzt. Die Verbrecher hatten bereits die Stahlkammer geplündert und wollten gerade in die Sakristei eindringen. Sie flüchteten in die Gewölbe zurück, wo die Beamten dann – die Leichen der beiden Helfershelfer Warbattys mit Stirnschüssen vorfanden. Warbatty ist mit einem Teil der Beute aus Joe Philippsons Bank leider entwischt. Ich selbst habe geholfen, die unterirdischen Gänge abzusuchen. Er war und blieb spurlos verschwunden.« Harst verneigte sich. »Das wäre alles, meine Herren. Meine letzte Aufgabe lautete: Die Million soll wieder herbeigeschafft werden. Die Million liegt dort auf dem Tisch.«
In den nun sich erhebenden Bravos und Hochs wurden Kammlers feierlichen Worte, mit denen er Harst die Million überreichte, die dieser nun den Wettbedingungen gemäß gewonnen hatte, kaum beachtet.
Erst seine letzten Sätze vernahm man deutlicher, da die Erregung sich inzwischen gelegt hatte: »Ja, meine Herren, eigentlich ist es schade, dass unser Harst jetzt nicht mehr wie bisher ein bestimmtes Ziel vor sich hat! Diese Wette spornte ihn an, all seine wunderbaren Fähigkeiten aufs Äußerste auszunutzen. Nicht die Million lockte ihn dabei. Nein, er ist ja selbst Millionär! Er wollte nicht unterliegen, nicht als Besiegter dastehen. Das war es! Dieser Ansporn fehlt nun, und vielleicht wird er …«
»Verzeihung, lieber Kammler«, unterbrach Harst hier den Kommerzienrat. »Wenn die Anwesenden mir einzeln ihr Ehrenwort geben, dass sie über das, was ich noch zu bemerken habe, nicht nur schweigen, sondern auch untereinander nie mehr davon sprechen wollen, so will ich Ihnen beweisen, dass ein anderer Ansporn jetzt vorhanden, einer, der noch weit wirksamer als diese Wette ist. Ich danke Ihnen, meine Herren. Ich habe jetzt von Ihnen die verlangte Versicherung erhalten. Also hören Sie. Warbatty schickte mir damals jenen Brief mit 17 Buchstaben als Unterschrift, Von denen der erste, B, durchstrichen war. Außer den beiden Skizzen der Städte Kingston und Palermo wurde bei Edward Orkney noch eine kleine Weltkarte gefunden, auf der mit blauer Tinte 16 Städte unterstrichen waren, darunter Berlin, Kingston, Palermo, Kairo und andere. Dies nun hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass Warbatty dieser Gefährlichste aller internationalen Verbrecher, in diesen Städten Unternehmungen ähnlicher Art wie in Kingston vorbereitet hat. Denn die 16 Buchstaben der Briefunterschrift entsprechen den Anfangsbuchstaben dieser sechzehn Städte. Das B war durchgestrichen, denn das hier in Berlin geplante Verbrechen war ja bereits ausgeführt, erledigt. Nun ist auch K, Kingston, Warbatty zum Teil geglückt und nun wird er nach P, Palermo, in den schönen Süden reisen! Ich aber werde heimlich dasselbe tun und versuchen, diese fünfzehn sicherlich sehr großzügigen Pläne zu vereiteln, will gegen Warbatty, dieses vielleicht einzigartige Genie, den Kampf fortführen! Das ist der neue Ansporn, meine Herren! Wenn ich vorhin Ihr Ehrenwort erbat, so bedenken Sie, dass ich bei diesem Kampf jeden Moment vielleicht in größter Lebensgefahr schwebe. Merkt Warbatty, dass ich hinter ihm her bin, wird mir die Erreichung meines neuen Ziels ungeheuer erschwert. Daher, nochmals: Bitte tiefes Schweigen! Die gewonnene Million stifte ich hiermit dem Klub zur Verteilung an wirklich Notleidende. In erster Linie soll die Witwe des armen Häske 50.000 Mark erhalten. So, auch das wäre erledigt. Ich bin müde, meine Herren. Ich verabschiede mich jetzt für längere Zeit von Ihnen. Bereits morgen früh reise ich mit meinem braven Schraut gen Sizilien – nach Palermo. Ob wir uns lebend wiedersehen, steht dahin. Ich habe die Ehre, meine Herren.«
Harsts Kampf gegen Cecil Warbatty werde ich in den folgenden Bändchen schildern unter dem Gesamttitel:
Harald Harst gegen Cecil Warbatty.
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient.