Die drei Musketiere 51
Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere
7. bis 10. Bändchen
Historischer Roman, aus dem Französischen von August Zoller, Stuttgart 1844, überarbeitet nach der neuen deutschen Rechtschreibung
XVIII.
Offizier!
Richelieu erwartete mittlerweile Kunde aus England. Aber es kam keine Nachricht, außer unangenehmen, bedrohlichen. So gut La Rochelle eingeschlossen war, so sicher der Erfolg durch die Maßregeln, die man ergriffen hatte, und besonders durch den Damm erscheinen durfte, der keine Barke mehr in die belagerte Stadt eindringen ließ, so konnte die Blokade doch noch lange Zeit dauern. Das war eine große Schmach für die Waffen des Königs und eine große Last für den Monsieur Kardinal, der allerdings nicht mehr Ludwig XIII. mit Anna von Österreich zu veruneinigen hatte, was bereits abgemacht war, wohl aber Monsieur von Bassompierre versöhnen sollte, der sich mit dem Herzog von Angoulème entzweit hatte.
Die Stadt hatte trotz der unglaublichen Beharrlichkeit ihres Bürgermeisters eine Meuterei versucht, um sich zu ergeben. Der Bürgermeister ließ die Meuterer hängen. Die Strafe brachte die schlimmsten Köpfe zur Ruhe. Sie ergaben sich nun in die Aussicht auf den Hungertod, der immerhin langsamer und auch nicht so schrecklich gewiss war als die Erdrosselung.
Von Zeit zu Zeit erwischten die Belagerer Boten, welche die Rocheller an Buckingham schickten, oder Spione, welche Buckingham an die Rocheller absandte.
Im einen wie im anderen Fall war der Prozess schnell abgemacht. Der Kardinal sprach das einzige Wort: Gehenkt! Man lud den König ein, das Hängen mit anzusehen. Der König kam kraftlos herbei und wählte sich einen guten Platz, um die Operation in allen ihren Einzelnheiten anschauen zu können. Dies gewährte ihm stets einige Zerstreuung, aber er langweilte sich dessenungeachtet und sprach alle Augenblicke von einer Rückkehr nach Paris, sodass Seine Eminenz, wenn es an Boten und Spionen gefehlt hätte, trotz ihrer Einbildungskraft in große Verlegenheit geraten wäre.
Nichtsdestoweniger ging die Zeit vorüber, und die Rocheller ergaben sich nicht. Der letzte Spion, den man auffing, war der Überbringer eines Briefes. Dieser Brief sagte allerdings Buckingham, dass die Stadt nun in der äußersten Not sei, aber statt des Beisatzes Wenn Eure Hilfe nicht vor vierzehn Tagen eintrifft, werden wir uns ergeben, war ganz einfach beigefügt: Wenn Eure Hilfe nicht vor vierzehn Tagen eintrifft, werden wir bei Eurer Erscheinung samt und sonders verhungert sein. Die Rocheller setzten ihre Hoffnung also auf Buckingham. Buckingham war ihr Messias. Hätten sie eines Tages auf eine sichere Weise erfahren, dass sie nicht mehr auf Buckingham rechnen dürften, so wäre offenbar ihr Mut mit der Hoffnung gesunken.
Der Kardinal erwartete also mit großer Ungeduld Nachrichten aus England, die ihm melden würden, dass Buckingham nicht komme.
Die Frage, ob man die Stadt nicht stürmen solle, wurde oft im Rat des Königs verhandelt. Einmal schien La Rochelle uneinnehmbar, und dann wusste der Kardinal, was er auch gesagt haben mochte, gar wohl, dass das bei einem solchen Zusammentreffen, wo Franzosen gegen Franzosen kämpfen sollten, vergossene Blut einen Schrecken einjagen musste, der für die Politik eine retrograde Bewegung von sechszig Jahren bedeutete, und Richelieu war um diese Zeit, was man heutzutage einen Mann des Fortschrittes nennt. In der Tat hatten im Jahr 1628 die Plünderung von La Rochelle und die Ermordung von drei- bis viertausend Hugenotten, welche sich töten ließen, viel Ähnlichkeit mit dem Gemetzel der Bartholomäusnacht im Jahre 1572. Dieses Mittel, das dem König, einem guten Katholiken, keineswegs widerstrebte, scheiterte stets an der Behauptung der belagernden Generäle: »La Rochelle ist auf keine andere Weise als durch den Hunger zu nehmen.«
Der Kardinal konnte nicht über die Angst hinwegkommen, wo seine furchtbare Emissärin ihn hineinversetzte; denn auch er hatte die seltsamen Verhältnisse dieser Frau begriffen, die bald eine Schlange, bald eine Löwin war. Hatte sie ihn verraten? War sie tot? Er kannte sie hinreichend, um zu wissen, dass sie, für oder gegen ihn handelnd, Freundin oder Feindin, ohne große Hindernisse nicht unbeweglich blieb. Aber von welcher Seite kamen diese Hindernisse? Das war es, was er nicht wissen konnte.
Übrigens zählte er auf Mylady, und zwar mit Recht. Er hatte in der Vergangenheit dieser Frau gewisse Dinge erraten, die nur sein roter Mantel bedecken konnte. Er fühlte, dass diese Frau ihm aus dem einen oder dem anderen Grund zugetan war, da nur er allein sie in der Gefahr, von der sie bedroht war, mächtig beschützen konnte.
Er beschloss also, den Krieg ganz allein zu führen und einen von außen kommenden Erfolg nur so zu erwarten, wie man einen günstigen Zufall erwartet. Er ließ an dem furchtbaren Damm, welcher La Rochelle aushungern sollte, weiter bauen und warf mittlerweile seinen Blick auf die unglückliche Stadt, welche so viel tiefes Elend, so viel heldenmütige Tugenden in sich schloss. Er erinnerte sich dabei des Wortes von Ludwig XI., seinem politischen Vorgänger, wie er selbst der Vorgänger von Robespierre war. Er erinnerte sich der Maxime von Gevatter Tristan: »Divide et impera.«
Als Heinrich IV. Paris belagerte, ließ er Brot und Lebensmittel über die Mauern werfen. Der Kardinal ließ kleine Zettel hinüberwerfen, in welchen er den Rochellern vorstellte, wie ungerecht, selbstsüchtig und barbarisch das Verfahren ihrer Oberhäupter sei. Diese hatten Getreide im Überfluss und verteilten es nicht. Sie nahmen als Grundsatz an, denn sie hatten Grundsätze, dass wenig daran liege, ob die Weiber, Kinder und Greise umkommen, wenn nur die Männer, welche die Mauern verteidigen sollten, stark und gesund bleiben. Bisher war dieser Grundsatz, sei es aus Ergebenheit, sei es, weil jede Auflehnung vergeblich gewesen wäre, ohne allgemein anerkannt zu werden, von der Theorie zur Praxis übergegangen; aber durch die erwähnten Zettel geschah ein Angriff auf denselben. Diese Zettel erinnerten die Männer daran, dass die Kinder, Weiber und Greise, die man sterben ließ, ihre Söhne, Frauen und Väter waren; dass es billiger wäre, wenn jeder dem allgemeinen Elend unterworfen würde, damit die Gleichmäßigkeit der allgemeinen Lage auch Einhelligkeit in den Beschlüssen herbeiführen müsste.
Aber in dem Augenblick, wo der Kardinal bereits sein Mittel Früchte tragen sah und sich zur Anwendung desselben Glück wünschte, gelangte ein Einwohner von La Rochelle, der durch die königlichen Linien gedrungen war – Gott weiß, auf welche Weise, denn Bassompierre, Schomberg und der Herzog von Angoulême beobachteten, selbst wieder von dem Kardinal überwacht, eine große Wachsamkeit – ein Einwohner von La Rochelle, sagen wir, gelangte, von Portsmouth her, in die Stadt und sagte aus, er habe eine herrliche Flotte gesehen, welche noch vor acht Tagen auslaufen werde. Überdies kündigte Buckingham dem Bürgermeister an, dass endlich das große Bündnis gegen Frankreich sich erklärt habe, und dass zu gleicher Zeit die englischen, kaiserlichen und spanischen Heere das Königreich überfallen werden. Dieser Brief wurde öffentlich auf allen Plätzen vorgelesen. Man klebte eine Abschrift an die Straßenecken, und diejenigen, welche Unterhandlungen angeknüpft hatten, brachen dieselben wieder ab, um die in so kurzer Zeit angekündigte Hilfe zu erwarten.
Dieser unvorhergesehene Umstand versetzte Richelieu wieder in seine frühere Unruhe und nötigte ihn, seine Blicke abermals dem Meer zuzuwenden.
Während dies vorging, führte die königliche Armee, frei von der Unruhe ihres einzigen und wahren Hauptes, ein lustiges Leben. Es fehlte im Lager nicht an Speise und Trank und nicht an Geld. Alle Korps wetteiferten an Kühnheit und Heiterkeit. Spione auffangen und hängen, kecke Expeditionen auf dem Damm oder auf der See ausführen, Tollheiten ersinnen und kaltblütig ins Werk setzen, das waren die Zeitvertreibe, womit sich die Armee die Tage verkürzte, welche den von Angst und Hunger aufgeriebenen Rochellern so lang und dem Kardinal, der sie belagerte, noch weit länger erschienen.
Wenn der Kardinal, welcher stets wie der geringste Soldat umherritt, seinen nachdenkenden Blick zuweilen über die Werke hinschweifen ließ, welche unter seinem Befehl von Ingenieuren errichtet wurden, die er aus allen Winkeln Frankreichs herbeirief, und er dann einem Musketier de Tréville’s Kompanie begegnete, so schaute er ihn auf eine seltsame Weise an und richtete seinen Blick sogleich wieder anderswohin, wenn er in ihm nicht einen von den vier Gefährten erkannte.
Eines Tages ritt der Kardinal, von tödtlichem Ärger gequält, ohne Hoffnung auf die Unterhandlungen mit der Stadt, ohne Nachrichten aus England, in keiner anderen Absicht, als gerade um auszureiten, nur von Cahusac und La Houdinière begleitet, am Ufer entlang und vermischte die Unermesslichkeit seiner Träume mit der Unermesslichkeit des Ozeans. So kam er auf einen Hügel, von dessen Höhe herab er, hinter einer Hecke und unter einer Baumgruppe vor der großen Sonnenhitze geschützt, sieben von leeren Flaschen umgebene Menschen liegen sah. Vier davon waren unsere Musketiere, welche sich anschickten, einen Brief vorlesen zu hören, den einer von ihnen bekommen hatte. Dieser Brief war so wichtig, dass man ihm zuliebe auf einer Trommel Karten und Würfel im Stich ließ.
Die drei anderen beschäftigten sich, eine ungeheure mit Stroh umflochtene Flasche Collioure-Wein aufzumachen. Es waren die Lakaien dieser Messieurs.
Richelieu war, wie gesagt, bei finsterer Laune, und in dieser Gemütsstimmung ärgerte ihn nichts mehr als die Heiterkeit anderer. Überdies hegte er einen seltsamen Argwohn und glaubte, gerade die Ursache seiner Traurigkeit errege die Heiterkeit der Fremden. Er gab La Houdinière und Cahusac ein Zeichen, Halt zu halten, stieg vom Pferd und näherte sich diesen verdächtigen Lachern, in der Hoffnung, mithilfe des Sandes, der seinen Schritt unhörbar machte, und der Hecke, die seinen Gang bedeckte, einige Worte von dem Gespräch zu erlauschen, das ihm so interessant erschien. Erst zehn Schritte von der Hecke erkannte er das gascognische Geplauder d’Artagnans. Da er bereits wusste, dass diese Leute zu den Musketieren gehörten, so zweifelte er nicht daran, dass die drei anderen die sogenannten Unzertrennlichen, das heißt, Athos, Porthos und Aramis seien.
Man kann sich leicht denken, dass sein Verlangen, etwas von dem Gespräch zu hören, sich durch diese Entdeckung nur noch vermehrte. Seine Augen nahmen einen seltsamen Ausdruck an und er näherte sich der Hecke mit dem Tritt einer Tigerkatze; aber er hatte noch nicht mehr als einige unbestimmte Silben ohne einen richtigen Sinn aufzufassen vermocht, als ein kurzer kräftiger Ruf ihn beben machte und die Aufmerksamkeit der Musketiere erregte.
»Offizier!«, rief Grimaud.
»Ihr sprecht, glaube ich, Bursche«, sagte Athos, sich auf einem Ellbogen erhebend und Grimaud mit seinem flammenden Blick anblitzend.
Grimaud fügte auch kein Wort mehr bei, er begnügte sich, den Zeigefinger in der Richtung der Hecke auszustrecken, und deutete durch Gebärde den Kardinal und seine Escorte an.
Mit einem Sprung waren die vier Musketiere auf den Beinen und grüßten ehrfurchtsvoll.
Der Kardinal schien wütend.
»Es scheint, dass man sich bei den Messieurs Musketieren bewachen lässt«, sagte er. »Kommt der Engländer zu Lande oder sollten sich die Musketiere für hohe Offiziere halten?«
»Monseigneur«, antwortete Athos, denn er allein hatte mitten unter dem allgemeinen Schrecken die Ruhe und Kaltblütigkeit des vornehmen Mannes behalten, die ihn nie verließ. »Monseigneur, wenn die Musketiere nicht im Dienst sind oder wenn ihr Dienst zu Ende ist, so trinken und würfeln sie und sind für ihre Lakaien sehr hohe Offiziere.«
»Lakaien!«, brummte der Kardinal, »Lakaien, welche Befehl haben, ihre Messieurs zu benachrichtigen, wenn jemand vorüberkommt, das sind keine Lakaien, sondern Wachen.«
»Seine Eminenz sieht jedoch, dass wir, wenn wir diese Vorsichtsmaßregel nicht getroffen hätten, uns der Unannehmlichkeit ausgesetzt haben würden, sie vorübergehen zu lassen, ohne ihr unsere Ehrfurcht zu bezeigen und unseren Dank für die Gnade ihres Besuches, abzustatten. D’Artagnan«, fuhr Athos fort, »Ihr, der Ihr Euch soeben nach einer Gelegenheit sehntet, Monseigneur Eure Dankbarkeit auszudrücken, habt sie nun gefunden und werdet sie benutzen.«
Diese Worte wurden mit dem unstörbaren Phlegma, das Athos in den Stunden der Gefahr bezeichnete, und mit der außerordentlichen Höflichkeit gesprochen, die ihm in gewissen Augenblicken etwas Königliches gab, sodass er ein majestätischeres Ansehen hatte, als geborene Könige.
D’Artagnan näherte sich und sprach einige Worte des Dankes, welche bald unter dem düsteren Blick des Kardinals erloschen.
»Gleich viel, Messieurs«, fuhr der Kardinal fort, der sich, wie es schien, durch den von Athos benutzten Zwischenfall nicht im Geringsten von seiner ersten Ansicht abbringen ließ, »gleichviel, ich liebe es nicht, dass einfache Soldaten, weil sie den Vorzug haben, in einem privilegierten Korps zu dienen, auf diese Art die großen Herrn spielen, und die Disziplin ist für sie dieselbe, wie für die ganze Welt.«
Athos ließ den Kardinal ganz aussprechen, verbeugte sich sodann zum Zeichen der Beipflichtung und versetzte: »Die Disziplin, Monseigneur, ist, wie ich hoffe, von uns in keiner Beziehung vergessen worden. Wir sind nicht im Dienst und glaubten, da wir nicht im Dienst sind, über unsere Zeit nach unserem Gutdünken verfügen zu können. Sollte uns Eure Eminenz durch einige besondere Befehle beglücken wollen, so sind wir bereit, zu gehorchen. Monseigneur sieht«, fuhr Athos die Stirn runzelnd fort, denn dieses Verhör fing an, ihn ungeduldig zu machen, »dass wir, um auf den ersten Trommelschlag bereit zu sein, mit unseren Waffen ausgezogen sind.«
Er deutete mit dem Finger auf die vier Musketen, welche in der Nähe der Trommel, auf der die Würfel und Karten lagen, aufgepflanzt waren.
»Eure Eminenz wolle überzeugt sein«, fügte d’Artagnan bei, »dass wir ihr entgegengekommen wären, wenn wir hätten vermuten können, dass sie sich uns in so kleiner Gesellschaft näherte.«
Der Kardinal biss sich in den Schnurrbart und auch etwas in die Lippen.
»Wisst Ihr, wie Ihr ausseht, wenn Ihr, wie in diesem Augenblick, stets beisammen, stets bewaffnet und von Euren Bedienten bewacht seid?«, sprach der Kardinal. »Ihr seht aus wie Verschwörer.«
»Oh! Was das betrifft, Monseigneur, das ist wahr«, sprach Athos. »Wir konspirieren allerdings, wie Seine Eminenz an jenem Morgen sehen konnte, aber nur gegen die Rocheller.«
»Ei, Messieurs Politiker«, entgegnete der Kardinal, ebenfalls die Stirn faltend, »man würde vielleicht in Eurem Gehirn das Geheimnis von allerlei Dingen finden, wenn man darin lesen könnte, wie Ihr in dem Brief gelesen habt, den Ihr bei meiner Ankunft verbarget.«
Athos stieg das Blut ins Gesicht, er machte einen Schritt gegen Seine Eminenz.
»Man sollte glauben, Ihr hegtet wirklich einen Argwohn gegen uns, Monseigneur, und wir hätten ein wahres Verhör zu bestehen.«
»Und wenn es nun wirklich ein Verhör wäre?«, fragte der Kardinal.
»Monseigneur, ich habe Eurer Eminenz gesagt, dass sie nur zu fragen habe und dass wir zu antworten bereit seien.«
»Was für ein Brief war das, den Ihr vorhin gelesen habt, Monsieur Aramis, und was verbargt Ihr?«
»Einen Brief einer Frau, Monseigneur.«
»Oh, ich begreife«, sprach der Kardinal, »man muss bei solchen Briefen diskret sein; aber man kann sie doch einem Beichtiger zeigen, und Ihr wisst, ich gehöre dem geistlichen Stand an.«
»Monseigneur«, sagte Athos mit einer um so furchtbareren Ruhe, als er bei dieser Antwort um seinen Kopf spielte, »Monseigneur, der Brief ist von einer Frau, aber weder Marion Delorme noch Frau von Combalot noch Frau von Chaulnes unterzeichnet.
Der Kardinal wurde bleich wie der Tod. Ein wilder Blitz guckte aus seinen Augen. Er wandte sich um, als wollte er Cahusac und La Houdinière einen Befehl geben. Athos sah diese Bewegung und machte einen Schritt gegen die Musketen, auf welche die drei Freunde ihre Augen wie Männer gerichtet hielten, die sehr wenig Lust hatten, sich verhaften zu lassen. Der Kardinal war zu dritt, die Musketiere, ihre Bedienten mit einbegriffen, sieben. Er dachte, die Partie wäre umso weniger gleich, wenn Athos und seine Gefährten wirklich konspirieren, und vermöge einer der raschen Wendungen, über die er stets zu verfügen imstande war, verwandelte sich sein ganzer Zorn in ein Lächeln.
»Gut, gut«, sprach er, »Ihr seid wackere junge Leute, stolz in der Sonne, getreu in der Dunkelheit, und es ist kein Fehler, über sich selbst zu wachen, wenn man so gut über andere wacht. Messieurs, ich habe die Nacht durchaus nicht vergessen, wo Ihr mir als Eskorte bei meinem Ritt zum roten Taubenschlag dientet. Wenn irgendeine Gefahr auf der Route, die ich zu machen habe, zu befürchten wäre, so würde ich Euch bitten, mich zu begleiten. Da aber dies nicht der Fall ist, so bleibt, wo Ihr seid, endiget Eure Flaschen, Eure Partie und Euern Brief. Gott befohlen, Messieurs!«
Hierauf bestieg er wieder sein Pferd, das ihm Cahusac entgegenbrachte, grüßte sie mit der Hand und entfernte sich.
Die vier jungen Leute standen unbeweglich und folgten ihm mit den Blicken, ohne ein einziges Wort zu sprechen, bis er verschwunden war.
Dann schauten sie sich an.
Alle sahen bestürzt aus, denn trotz des freundschaftlichen Abschiedes des Kardinals begriffen sie, dass Seine Eminenz mit Wut im Herzen wegging.
Athos allein lächelte verächtlich.
Als der Kardinal außer Hör- und Sehweite war, rief Porthos, welcher große Lust hatte, seine üble Laune auf einen anderen fallen zu lassen: »Dieser Grimaud hat sehr spät geschrien!«
Grimaud war im Begriff, zu antworten, um sich zu entschuldigen. Athos hob den Finger und Grimaud schwieg.
»Würdet Ihr den Brief abgegeben haben, Aramis?«, sagte d’Artagnan.
»Ich«, erwiderte Aramis mit seiner flötendsten Stimme, »ich war entschieden. Wenn er die Auslieferung verlangt hätte, so würde ich ihm mit einer Hand den Brief übergeben und mit der anderen den Degen durch den Leib gerannt haben.«
»Das erwartete ich«, sagte Athos, »und darum habe ich mich zwischen Euch und ihn geworfen. Dieser Mann ist in der Tat sehr unklug, dass er auf solche Art mit anderen Männern spricht. Man sollte glauben, er habe es sein Leben lang nur mit Weibern und Kindern zu tun gehabt.«
»Mein lieber Athos!«, rief d’Artagnan, »ich bewundere Euch, aber wir hatten im Ganzen doch unrecht.«
»Wie, unrecht?«, entgegnete Athos, »wem gehört denn diese Luft, die wir atmen? Wem dieses Meer, an welchem wir lagern? Wem dieser Brief Eurer Geliebten? Etwa dem Kardinal? Dieser Mensch bildet sich am Ende ein, die ganze Welt gehöre ihm. Ihr standet stammelnd, erstaunt, vernichtet da, als ob die Bastille vor Euch emporstarrte, und die eisige Medusa Euch in Stein verwandelte. Ist Verliebtheit eine Konspiration? Ihr seid in eine Frau verliebt, die der Kardinal einsperren ließ. Ihr wollt sie den Händen des Kardinals entziehen, das ist die Partie, die Ihr mit Seiner Eminenz spielt. Dieser Brief ist Euer Spiel. Warum solltet Ihr Euer Spiel Eurem Gegner zeigen? Er mag es erraten! Wir erraten das seine gar wohl.«
»Was Ihr da sagt, Athos, ist allerdings sehr vernünftig«, sprach d’Artagnan.
»Dann sei von dem ganzen Vorfall nicht mehr die Rede, und Aramis nehme den Brief seiner Base da auf, wo ihn der Monsieur Kardinal unterbrochen hat.«
Aramis zog den Brief aus seiner Tasche. Die drei Freunde näherten sich ihm und die drei Lakaien lagerten sich abermals um die Strohflasche.
»Ihr habt nur ein oder zwei Zeilen gelesen«, sagte d’Artagnan. »Lest also den Brief von Anfang an.«
»Gerne«, erwiderte Aramis.
Mein lieber Vetter,
ich glaube wohl, dass ich mich entschließen werde, nach Bethune abzureisen, wo meine Schwester unsere kleine Magd in eine Karmeliterinnenkloster gebracht hat. Dieses arme Kind hat sich darein ergeben. Es weiß, dass es nicht anderswo leben kann, ohne dass das Heil seiner Seele gefährdet wäre. Wenn jedoch unsere Familienangelegenheiten sich ordnen, wie wir es wünschen, so glaube ich, dass die Arme auf die Gefahr ihres Seelenheiles hin zu demjenigen zurückkehren wird, nach welchen sie sich um so mehr sehnt, als sie weiß, dass man stets an sie denkt. Einstweilen ist sie nicht zu unglücklich. Ihr einziger Wunsch ist ein Brief ihres Bräutigams. Ich weiß sehr wohl, dass solche Waren schwer durch die Gitter gehen, aber im Ganzen, mein lieber Vetter, bin ich – und ich habe Euch hiervon Beweise gegeben – nicht gar zu ungeschickt und ich übernehme diesen Auftrag. Meine Schwester dankt Euch für Eure beständige Erinnerung. Sie schwebte einen Augenblick in großer Unruhe, aber nun ist sie ein wenig beruhigt, weil sie ihren Gehilfen hinuntergeschickt hat, damit nichts Unvorhergesehenes vorfallen kann.
Adieu, mein lieber Vetter, gebt so oft wie möglich Nachricht von Euch, das heißt, so oft, wie Ihr es sicher tun zu können glaubt. Ich küsse Euch.
Marie Michon
»O wie viel Dank bin ich Euch schuldig, Aramis«, rief d’Artagnan. »Die teure Constance! Endlich habe ich also Kunde von ihr! Sie lebt, sie ist in Sicherheit in einem Kloster. Sie ist in Bethune! Wo liegt Bethune, Athos?«
»Auf der Grenze von Artois und Flandern. Ist die Belagerung einmal aufgehoben, so können wir eine Reise dahin machen.«
»Und das wird hoffentlich nicht mehr lange währen«, sprach Porthos, »denn man hat diesen Morgen wieder einen Spion gehängt, welcher behauptete, die Rocheller seien am Oberleder ihrer Stiefel. Nehme ich nun an, dass sie die Sohlen essen, wenn sie das Oberleder verzehrt haben, so sehe ich nicht ein, was ihnen nachher noch übrig bleiben soll, wenn sie nicht einander selber verspeisen wollen.«
»Arme Tröpfe!«, sprach Athos und leerte ein Glas vortrefflichen Bordeauxweins, der, ohne damals schon seinen heutigen Ruf zu besitzen, ihn doch wenigstens verdiente. »Arme Tröpfe, als ob die katholische Religion nicht die vorteilhafteste und angenehmste der Religionen wäre. Doch gleich viel«, fuhr er fort, nachdem er mit der Zunge am Gaumen geschnalzt hatte, »es sind brave Leute. Aber was zum Teufel macht Ihr denn, Aramis, Ihr steckt diesen Brief in Eure Tasche?«
»Ja«, sagte d’Artagnan, »Athos hat recht, man muss ihn verbrennen. Wer weiß jedoch, ob der Monsieur Kardinal nicht ein Geheimnis besitzt, um die Asche zu befragen.«
»Er muss wohl eins besitzen«, erwiderte Athos.
»Aber, was wollt Ihr denn mit dem Brief machen?«, fragte Porthos.
»Kommt hierher, Grimaud«, sagte Athos.
Grimaud stand auf und gehorchte.
»Zur Strafe dafür, dass Ihr ohne Erlaubnis gesprochen habt, mein Freund, werdet ihr das Stück Papier essen, und für den Dienst, den Ihr uns leistet, trinkt ihr sodann dieses Glas Wein. Hier, nehmt zuerst den Brief, kaut kräftig.«
Grimaud lächelte. Die Augen auf das Glas gerichtet, das Athos bis auf den Rand gefüllt hatte, zerkaute er das Papier und verschlang es.
»Bravo, Meister Grimaud!«, rief Athos, »und nun dieses. Gut, ich entbinde Euch der Verpflichtung, Dank zu sagen.«
Grimaud trank stillschweigend das Glas Bordeauxwein, aber seine zum Himmel aufgeschlagenen Augen sprachen, so lange diese süße Beschäftigung dauerte, eine Sprache, die, obwohl stumm, darum doch nicht minder ausdrucksvoll war.
»Und nun«, sagte Athos, »wenn nicht der Monsieur Kardinal den geistreichen Gedanken hat, Grimaud den Bauch öffnen zu lassen, können wir, glaube ich, beinahe beruhig sein.«
Während dieser Zeit setzte Seine Eminenz ihren schwermütigen Spazierritt fort und brummte wiederholt in seinen Schnurrbart: »Diese vier Bursche müssen um jeden Preis mein werden.«