Bernhard Jaumann – Der Turm der blauen Pferde
Bernhard Jaumann – Der Turm der blauen Pferde
Ludwig und Xaver, zwei deutsche Jungen in der Pubertät, betreten am 5. Mai 1945 einen Eisenbahntunnel im Berchtesgadener Land. In dem Tunnel befindet sich ein Zug, der – wie die Jungen beobachtet haben – seit Wochen rund um die Uhr von SS-Männern bewacht wurde, bevor diese am Tag zuvor spurlos verschwanden.
Xaver, noch ganz Hitlerjunge, vermutet in den verlassenen Waggons die Wunderwaffen des Führers zur Verteidigung der Alpenfestung gegen Amerikaner und Russen. So kann man seiner Meinung nach mit jenen den verheißenen Endsieg doch noch erreichen.
Xaver hat ein Brecheisen dabei, und als die Jungen sicher sind, dass niemand in der Nähe ist, brechen sie einen der acht Waggons auf, die – wie man munkelt – von Reichsmarschall Göring persönlich dorthin befohlen wurden.
Sie finden in dem Waggon Kisten und Transportbehälter aus Sperrholz. Xaver bricht den ersten Behälter auf und findet darin ein zwei auf eineinhalb Meter messendes, in Packpapier eingewickeltes Ding. Er reißt die Verpackung weiter auf und entdeckt, dass es sich bei dem Inhalt um ein Gemälde handelt, das einen Turm von vier blauen Pferden zeigt. Während Xaver weiter sucht und in einer anderen Kiste eine Madonna findet, beschäftigt sich Ludwig intensiv mit dem Bild und wird auf der Stelle in seinen Bann gezogen.
Mit dem Fund dieses Bildes – so scheint es dem Jungen – beginnt sein Leben neu. Das Nazireich, basierend auf Schwachsinn und Lüge, bricht gerade zusammen, und eine neue Zeit beginnt. Als er diese Meinung jedoch gegenüber Xaver äußert, will dieser offenbar das Bild mit seinem Brecheisen zerstören.
Im Sommer 2017 suchen Klara Ivanovic und Rupert von Schleewitz vom Ermittlerteam einer Münchener Kunstdetektei eine Villa am Starnberger See auf. Egon Schwarzer, Hausherr, reich geworden als Schraubenfabrikant und nun Kunstsammler, der die bedeutendste Privatsammlung der klassischen Moderne in Deutschland, vielleicht sogar in Europa besitzt, hat die beiden Ermittler eingeladen.
Rupert teilt Schwarzer mit, dass die Detektei nicht auf Schatzsuche, sondern auf Provenienzforschung, also die Erforschung der Herkunft von Kunstwerken, spezialisiert ist. Sie arbeitet Kanzleien zu, die Restitutionsforderungen im Bereich Raubkunst vertreten und versucht, Fälschungen aufzufinden, die dann entlarvt werden können.
Während Rupert noch redet, fordert der Gastgeber ihn und Klara auf, mitzukommen. Er führt beide in den Salon und zeigt ihnen dort ein Bild, das auf einer Staffelei steht. Es handelt sich dabei um das Gemälde Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc, das seit Kriegsende verschollen ist. Er hat es in den letzten Tagen für drei Millionen Euro gekauft und von einem renommierten Franz-Marc-Spezialisten namens Baumgartner auf seine Echtheit prüfen lassen.
Der Gutachter hat bestätigt, dass es sich um das Original handelt. Die Detektei soll nun seine Provenienzgeschichte herausfinden, nachdem es von Göring persönlich 1937 als entartete Kunst in Besitz genommen wurde und seit 1945 verschollen war.
Handelt es sich tatsächlich um das Original, und was geschah damit zwischen 1945 und 2017? Eine spannende Spurensuche beginnt.
Das Gemälde Der Turm der blauen Pferde, gemalt 1913 von Franz Marc, der 1916 im ersten Weltkrieg fiel, gehört zu den bedeutendsten Bildern sogenannter entarteter Kunst, die die Nazis beschlagnahmten. Es ist tatsächlich bis heute verschollen, nachdem es Reichsmarschall Göring zeitweilig in Besitz genommen hatte.
Der Autor erfindet in seinem Roman eine verwickelte, ausgesprochen interessante und zudem sehr spannende Geschichte um dieses Bild und die Personen, die seit Kriegsende 1945 damit zu tun haben.
Das Ermittlerteam der mit der Herkunftsforschung beauftragten Kunstdetektei besteht aus drei intensiv beschriebenen, sehr verschiedenen Personen mit ebenso unterschiedlichen Privatleben. Während Rupert von Schleewitz, der Namensgeber und Chef der Detektei eine unvorsichtige Affäre mit einer Verdächtigen zu beginnen scheint, hat Max Müller, der Technokrat des Teams, zwei Töchter im Pubertätsalter und Klara Ivanovic, die Kunstexpertin, einen Vater, der als alternder Aktionskünstler in einem bayerischen Dorf für Ärger sorgt.
Aber nicht nur die Ermittler werden interessant beschrieben, sondern auch die wechselnden Besitzer des Gemäldes und ihr Umgang mit dem Kunstwerk. Außerdem spielt das Ringen um den aktuellen Besitz des Bildes und die Antwort auf die Frage, ob es echt oder falsch ist, Original oder Kopie, Lüge oder Wahrheit, eine gewichtige Rolle. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegsjahre sowie die bayerische Provinz in diesem Roman kompetent beschrieben werden.
Nach einem langen Weg voller unvermuteter Wendungen liefert uns der Autor schließlich ein sehr überraschendes Ende, das durchaus nicht ganz unblutig zustande kommt, aber mit einem Augenzwinkern gegenüber der in seinem Buch doch recht verbissen erscheinenden Kunstszene in unserem Land einhergeht.
Fazit:
Bernhard Jaumann hat mit Der Turm der blauen Pferde einen sehr phantasievollen, dennoch an der Realität orientierten und sehr spannenden Romanen und Kunst und seine Besitzer geschaffen, den ich bis zu seinem Ende verschlungen habe.
Ich kann dieses Buch jeden Liebhaber intelligenter Kriminalliteratur empfehlen, der zudem ein wenig Interesse an Kunst mitbringt.
Bernhard Jaumann wurde 1957 in Augsburg geboren. Er arbeitete nach dem Studium in München als Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Italienisch. Seine Arbeit wurde von Aufenthalten in Italien, Australien, Mexiko und Windhoek/Namibia unterbrochen. Heute lebt er in Bad Aiblingen, Bayern und Montesecco, Italien.
Im Lauf der Zeit verfasste er mehrere Krimiserien, für welche er häufig ausgezeichnet wurde. Er bekam z.B. 2003 den Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman und 2009 denselben Preis für die beste Krimi-Kurzgeschichte.
Für Die Stunde des Schakals verlieh man ihm 2011 den Deutschen Krimipreis.
Verschiedene seiner Romane sind ins Englische, Französische, Polnische und Japanische übersetzt worden.
Quellen:
- Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde, Verlag Galiani Berlin, 1. Auflage 2019.
- bernhard-jaumann.de
- www.galiani.de
- de.wikipedia.org
Bilder:
- Cover des Romans. Mit freundlicher Genehmigung des Galiani-Verlags.
- Foto des Autors. Copyright: Heike Bogenberger. Ebenfalls mit freundlicher Genehmigung des Galiani-Verlags.
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