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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 9

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Der Besuch

Der Winter hauste in den Gebirgen des Gévaudan und verödete ganz besonders die Umgebungen von Mercoire. Nicht, als ob die Kälte eine außerordentlich große gewesen wäre, wie in gewissen Jahren und namentlich im Jahre 1709, welches in ganz Frankreich seine furchtbaren Erinnerungen zurückließ, wohl aber hatten die fortwährenden Abwechslungen von Regen und Kälte, Stürme, Austreten der Flüsse und das Schmelzen des Schnees die Kommunikationen ungeheuer schwierig gemacht. Um das Unglück zu vervollständigen, brachen eine große Anzahl Wölfe, deren Wildheit durch den Hunger gesteigert worden war, in jenen Teil der Provinz ein. Mehr als alle anderen hatte die Bestie des Gévaudan, die kürzlich in den Wald von Mercoire, für welchen sie eine besondere Vorliebe zu haben schien, zurückgekehrt war, ihre furchtbaren Untaten in der Nachbarschaft wieder begonnen.

Man begreift, dass unter solchen Umständen die Besuche und Gäste sich in eben nicht großer Anzahl auf dem Schloss einfanden und nichts störte daher die tiefe Ruhe dieses alten Wohnsitzes.

Vom Beginn des Winters an hatte er einen Anstrich von Einsamkeit und Düsterheit angenommen. Die Fensterläden waren geschlossen, der Schnee türmte sich in den Höfen, die Raubvögel nisteten in den Mauerspalten, man hätte glauben können, das Schloss sei gar nicht von Menschen bewohnt. Einzelne Jäger, welche die Not gezwungen hatte, eine Nacht hier zu verweilen, waren vom Chevalier von Magnac im Namen der Schlossherrin mit gewissenhafter Höflichkeit empfangen worden, hatten aber wieder abreisen müssen, ohne Fräulein von Barjac selbst gesehen zu haben. Christine, die früher so lebendig und so tätig war, der man unaufhörlich begegnete, wenn sie in den Alleen des Schlossparkes oder in den langen Gängen des Waldes herumritt, verließ den Teil des Schlosses, welchen sie bewohnte, fast gar nicht mehr und alle ihre Ausflüge beschränkten sich auf kurze Spaziergänge im Garten.

An einem düsteren Januartag befand sich Fräulein von Barjac mit Schwester Magloire und dem Chevalier von Magnac im Salon des Schlosses. Obwohl ein ganzer Baumstamm im Hintergrund des Kamins von den Flammen verzehrt worden war, so strichen doch zuweilen eiskalte Luftströme durch dieses umfangreiche Zimmer. Die Fenstervorhänge, welche vollständig geöffnet waren, um das Licht frei durchzulassen, gestatteten draußen den trüben, nebligen Himmel und Wolken von seltsamen Formen, die sich schwerfällig am Abhang der Gebirge hinschleppten, und die alten kahlen Bäume, die schauerlichen Skelette des Waldes, zu sehen. Ein ungestümer Wind heulte um das Schloss herum und das Graupelwetter peitschte die Fensterscheiben mit trockenem, unregelmäßigem Geräusch.

Christine und die Nonne saßen zu beiden Seiten eines Arbeitstisches, auf welchem man Kittel, Hemden und Hauben von grober Leinwand sah, welche für die armen Kinder des Dorfes bestimmt waren. Schwester Magloire hatte gefunden, dass es nichts Besseres gab, als Handarbeit, um die Muße ihrer jungen Herrin zu beschäftigen. Christine hatte sich umso bereitwilliger diesem Wunsch gefügt, als sie, während sie für die Waisenkinder ihrer Herrschaft die Nadel führte, sich ohne Zwang ihren geheimen Gedanken hingeben konnte.

Auf diese Weise hatten die beiden unermüdlichen Arbeiterinnen während der langen Tage und der noch viel längeren Nächte dieses einsamen Winters eine große Masse Arbeit fertig gebracht und in den armseligen Hütten der Umgegend dankte man Gott dafür.

Christines äußere Erscheinung hatte sich seit einiger Zeit nicht weniger verändert wie ihr Charakter. Das braune, kräftige Kind von sonst existierte nicht mehr. Die Frische war mit den Farben der Gesundheit zugleich von ihren Wangen verschwunden. Dagegen verliehen ihre Blässe und eine leichte Abmagerung ihren Zügen eine außerordentliche Feinheit. Der Ausdruck ihres Gesichtes war gedankenvoll und schwermütig, obwohl ihr schwarzes, sanftes Auge zuweilen von einer lebhaften, aber rasch wieder erlöschenden Flamme erglänzte.

Die Eleganz ihres Kostüms kontrastierte ebenfalls mit der Gleichgültigkeit, welche sie früher für ihre Toilette an den Tag legte. Trotz der tiefen Einsamkeit ihres Schlosses war sie nichtsdestoweniger allen Anforderungen der Mode entsprechend gepudert und frisiert. Sie trug ein prachtvolles seidenes Kleid mit Reifrock und ihre halb nackten Arme ragten aus ganzen Fluten von Spitzen hervor.

Trotz alledem aber bewahrte sie eine Miene der Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, einen gewissen Grad von Morbidezza, welcher bei der schönen und reichen jungen Dame geheime Leiden verriet.

In dem Augenblick, wo wir Christine von Barjac wiederfinden, schienen jedoch ihre Züge jene Belebtheit, jene leidenschaftliche Beweglichkeit wieder gewonnen zu haben, welche dieselben zu einer früheren Zeit charakterisierten. Sie hatte sich soeben in ihrer Näharbeit unterbrochen und die Nadel emporhaltend und die Stirn runzelnd, hörte sie ihren Ehrenkavalier an, welcher ihr wichtige Neuigkeiten mitteilte.

Magnac, der mit zierlich ausgestrecktem Fuß und eine Hand auf die Hüfte stemmend, während die andere seinen Bruststreifen zerknitterte, vor ihr stand, bemerkte mit Kummer diese Anzeichen einer Gereiztheit, welche seine Herrin seit langer Zeit nicht blicken lassen, und bereute schon vielleicht die Mitteilungen, welche einen solchen Eindruck auf Fräulein von Barjac machten, obwohl seine strenge Wahrheitsliebe und sein Stolz ihm nicht erlaubten, diese Nachrichten zu widerrufen.

»Noch einmal, Herr Chevalier«, sagte Christine in einem Ton, bei welchem selbst Schwester Magloire zusammenzuckte, »es ist dies eines jener lächerlichen Märchen, welche Euch die Dienstleute aufbinden und denen ihr stets Glauben beimesst. Es ist nicht möglich, sage ich Euch nochmals, und wenn es wäre …« Sie stockte, brach in Tränen aus und stammelte: »Dann würde ich vor Kummer sterben.«

Als Schwester Magloire Fräulein von Barjac ansah, empfand sie das Gefühl, welches bei einer so frommen Person am nächsten mit dem Zorn verwandt ist. Sie legte ihre Arbeit weg und sagte zu dem betroffenen Chevalier in bitterem Ton: »Jesus! Mein Gott! Woran denkt Ihr denn, Monsieur? Habt Ihr nötig, unserem lieben Fräulein dergleichen Dinge zu erzählen? Man hat Euch zum Besten gehabt und Ihr hättet Euch die Mühe ersparen können, dergleichen Abgeschmacktheiten zu wiederholen.«

Sie umarmte Christine und verschwendete die liebreichsten Tröstungen an sie. Gewisse Ausdrücke aber, deren sie sich bediente, hatten den empfindlichen Edelmann beleidigt. Er warf den Kopf zurück und sagte in nachdrücklichem Ton: »Abgeschmacktheiten sagt Ihr, Madame? Palsambleu! Wenn ich nicht darauf Rücksicht nähme, dass Ihr eine Frau und noch obendrein Nonne seid – dennoch wisset und seid überzeugt, dass man mich niemals zum Besten hat, versteht Ihr? Und wenn es jemand versuchen sollte, sei er Knecht oder Edelmann, so habe ich einen Degen, um von meinesgleichen Genugtuung zu fordern, und einen Stock, um gemeine Plebejer zu züchtigen. Habt die Güte, dies nicht zu vergessen, meine sehr geehrte Schwester!«

Unglücklicherweise war diese schöne Anrede nicht gehört worden. Die beiden ganz mit ihrem Schmerz beschäftigten Frauen sahen nicht aus, als wenn sie an den armen Magnac dächten, dessen Extravaganzen im Punkt der Ehre, wie groß auch übrigens seine guten Eigenschaften sein mochten, ihnen schon längst bekannt waren.

Mittlerweile hatte der Chevalier, zufrieden mit sich selbst, seine herausfordernde Stellung aufgegeben, als Christine sich aus den Umarmungen ihrer Gouvernante losmachend, in ruhigerem Ton wieder anhob: »Verzeiht mir, meine Freunde. Dadurch, dass man die Gefahr leugnet, wird dieselbe nicht vermindert. Herr von Magnac, erzählt mir noch einmal diese ernste Nachricht, welche mich vielleicht erfreuen sollte und die mich dennoch mit Schrecken erfüllt. Ist es wirklich wahr, dass die Bestie des Gévaudan gestern Abend im Wald von Labeyssère drei Meilen von hier getötet worden ist?«

»Mit meinem Wort als Edelmann kann ich freilich nicht eine Tatsache verbürgen, deren Augenzeuge ich nicht gewesen bin. Ich beschränke mich darauf, genau das zu berichten, was mir soeben der Forsthüter Jerome erzählt hat. Heute Morgen ist im Wirtshaus Zum Cransac ein Forsthüter von Labeyssère erschienen, um auf die allerbestimmteste Weise den Tod des Tieres zu verkünden. Es soll gestern Abend von der Kugel eines Jägers gefallen sein, der ihm schon seit mehreren Stunden auflauerte und es mitten durchs Herz geschossen hat. Es war so ganz gewiss tot, dass man ihm den rechten Fuß und den Kopf abgeschnitten hat, um eine Trophäe daraus zu machen. Das ist treulich das, was mir erzählt worden ist. Übrigens kann ja Fräulein Christine den Forsthüter Jerome rufen lassen und ihn selbst befragen.«

»Das ist nicht nötig, Chevalier. Und den Namen dieses Jägers weiß man noch nicht?«

»Der Forsthüter von Labeyssère hat über diesen Punkt keinen Aufschluss geben können. Er hat bloß bemerkt, dass dieser glückliche Jäger von Leuten begleitet war, die seinen Befehlen zu gehorchen schienen, was auf einen Mann von Stand schließen ließe.«

»Wohlan, mein lieber Chevalier«, sagte Christine mit erstickter und beinahe unverständlicher Stimme, »hat man Grund zu glauben, dass er Kenntnis von dem verhängnisvollen Schwur, von dem voreiligen Gelübde habe, welches …« Sie konnte nicht ausreden.

»Ich will Euch nicht täuschen, Fräulein. Die Vorsicht, welche er gebraucht hat, den Kopf und den Fuß des Tieres abzuschneiden, um den Sieg zu beweisen, scheint mir von ziemlich schlimmer Vorbedeutung zu sein.«

»O, sagt das nicht! Sagt das nicht!«, rief Christine mit Verzweiflung. »Gott wird meine Torheit, meine Verwegenheit nicht so hart strafen wollen!« Nach einer Pause hob sie mit verlegener Miene wieder an: »Meine Freunde, gibt es nicht in der Umgegend Jäger von unserer Bekanntschaft, welche diese Tat hätten vollführen können?«

»O ja, allerdings gibt es deren mehrere«, antwortete Magnac.

Er zählte die Edelleute der Umgegend auf, welche sich zur Verfolgung des reißenden Tieres aufgemacht hatten.

Fräulein von Barjac horchte mit außerordentlicher Aufmerksamkeit und schien einen Namen zu erwarten, der gleichwohl nicht zum Vorschein kam.

»Sind sie das alle?«, fragte sie ungeduldig. »Wollt Ihr mich denn mit Eurer abgeschmackten Schonung zu Tode quälen? Ich weiß, dass es noch andere Jäger gibt, von welchen Ihr nicht sprecht.«

» Wohlan, Fräulein«, entgegnete Magnac mit einem gewissen Grad von militärischer Schroffheit, welche sich allemal kundgab, wenn er aufs Äußerste gebracht worden war, »man behauptet auch, dass der Baron von Laroche-Boisseau und sein Freund Legris seit einigen Tagen in die Umgegend von Mercoire zurückgekehrt seien. Ich habe aber die Gewissheit, dass dem nicht so ist.«

»Also ist es unmöglich, dass dieser verhasste Baron den Wolf erlegt habe?«

Eben als der Chevalier antworten wollte, kam Schwester Magloire ihm zuvor.

»Ganz gewiss ist das unmöglich«, hob sie mit Lebhaftigkeit an. »Wisset, mein liebes Kind, dass ein Bote von Sr. Hochwürden dem Abt von Frontenac diese letzten Tage im Schloss einkehrte, um einen Augenblick auszuruhen, und auch um Erkundigungen über das Ziel seiner Botschaft einzuziehen. Er war von Sr. Hochwürden und von Monseigneur dem Bischof von Aleppo, dem königlichen Kommissar, beauftragt, Herrn von Laroche-Boisseau aufzusuchen und ihn aufzufordern, sich sofort in Frontenac einzufinden, wo die Eröffnung des Codicills zum Testament seines Verwandten, des verstorbenen Grafen von Varinas, stattfinden sollte. Da der Bote nicht wieder hier durchpassiert ist, so kann man annehmen, dass er den Baron getroffen hat und dass sie beide zusammen zu der Abtei gereist sind. Nun aber war der Eröffnungstermin auf den gestrigen Tag festgesetzt und Herr von Laroche-Boisseau muss sich daher in dem Augenblick, wo die Bestie im Walde von Labeyssère erlegt wurde, in Frontenac befunden haben.«

Magnac runzelte die Stirn.

»Sehr gut, fromme Schwester«, sagte er trocken, »da ich aber den Boten selbst mit einem Brief beauftragt habe, welcher den Baron, wenn er nur noch einen Tropfen edles Blut in seinen Adern hat, bewegen müsste, so schnell wie möglich hierherzueilen, so muss ich annehmen, dass man nicht imstande gewesen ist, ihn ausfindig zu machen. Keine Rücksicht auf Interesse oder Familie wäre imstande gewesen, einen Edelmann zu hindern, sich auf meinen letzten Ruf einzufinden.

Übrigens wisst Ihr wohl, meine Schwester, dass der Bote auch noch mit einem ähnlichen Auftrag an eine andere Person versehen war, die ebenso wenig dieser Einladung gefolgt ist, weil …«

Der Chevalier schwieg, als er sah, dass Schwester Magloire ihm einen geheimnisvollen Wink zuwarf.

»Und diese Person«, rief Christine mit plötzlicher Aufregung, »war Leonce, nicht wahr? Versucht nicht, es mir zu verschweigen! Er ist in dieser Gegend; ich weiß es, ich habe ihn gesehen!«

»Ihr, Fräulein?«, fragte die Nonne mit Erstaunen.

»Dort – dort – auf dem Berg uns gegenüber gewahre ich oft, wenn ich im Garten spazieren gehe, einen Jäger, der auf einer Felsenspitze stehen bleibt und die Blicke zum Schloss wendet. Ich habe ihn trotz der Entfernung im ersten Augenblick erraten. Aber wenn er es ist, warum kommt er nicht? Was hätte er von mir zu fürchten?«

»Vielleicht lässt er sich Gerechtigkeit widerfahren, Fräulein«, entgegnete Magnac steif. »Da Ihr seine Rückkehr wisst, so kann Euch auch nicht unbekannt sein, dass das von seinem Onkel begangene abscheuliche Verbrechen ihm verbietet …«

»O, pfui doch! Pfui doch, Monsieur!« unterbrach ihn Schwester Magloire mit Entrüstung. »Wagt Ihr, der Ihr so viele Wohltaten vom Prior empfangen habt, an diese Verleumdungen zu glauben? Was Monsieur Leonce betrifft, so frage ich, wer ihn für die Fehler eines anderen verantwortlich machen wollte, selbst wenn diese Fehler gegründet wären? Er ist so sanft, so gut, so edelmütig! Kürzlich, als Monsieur Leonce die Anklage, welche auf seinem Onkel lastet, und die gegen denselben in Anwendung gebrachte Strenge erfahren hat, ist er sogleich nach Frontenac geeilt, um ihn zu trösten und zu verteidigen. Man hat ihm nicht erlaubt, den Pater Bonaventura zu sehen, welcher sich in der strengsten Abgeschiedenheit in seiner Zelle befindet. Nun hat der wackere junge Mann beschlossen, seinem Onkel zur Flucht zu verhelfen. Alles ist dazu schon in Bereitschaft gewesen, als man das Komplott entdeckt hat. Er würde deswegen noch nicht den Mut verloren und vielleicht der weltlichen und geistlichen Macht die Spitze geboten haben, um seinem unglücklichen Verwandten zu Hilfe zu kommen, wenn nicht der von diesen verwegenen Versuchen in Kenntnis gesetzte Prior selbst ihm den ausdrücklichen Befehl zugesendet hätte, sich ruhig zu verhalten und den Willen Gottes abzuwarten.«

»Ja, Leonce hat so handeln müssen«, rief Christine mit Wärme, »aber ich bitte Euch, meine Schwester, erzählt mir ausführlicher …«

»Ich weiß nicht viel, mein teures Fräulein, denn es verlautet nichts von dem, was da drüben vorgeht, weil die Abtei mit dem Interdikt belegt ist. Ich habe diese Mitteilungen von dem letzten Boten von Frontenac, einem sehr schüchternen Laienbruder, den ich ein wenig ausfragte, während er in der Küche ausruhte. Aber man musste ihm jedes Wort einzeln auspressen. So viel ist gewiss, dass Monsieur Leonce seinen verzweifelten Versuchen hat entsagen müssen und dem Wunsch des Priors nachgebend, nach Mercoire zurückgekehrt ist, um die Bestie des Gévaudan zu jagen, während der Prozess in der Abtei vollends instruiert werden wird.«

»Aha!«, sagte Christine mit bitterem Lächeln, »der Prior verliert trotz der tödlichen Verlegenheit, in der er sich befindet, wie es scheint, seine früheren Projekte doch nicht aus den Augen. Doch gleichviel, Schwester Magloire, wäre es nicht seltsam, wenn Leonce der Sieger der Bestie des Gévaudan wäre?«

»Und warum sollte er es nicht sein, Fräulein? Er ist gewandt, mutig, unermüdlich …«

»Wie, Ihr glaubt – und Ihr, Chevalier, Ihr seid in dergleichen Dingen urteilsfähiger als wir, schiene Euch meine Vermutung unzulässig?«

Magnac dachte nach.

»Unglücklicherweise nicht, Fräulein«, antwortete er endlich mit augenscheinlichem Ärger. »Monsieur Leonce hat, wie ich gewiss weiß, trotz der Aufforderung, die er erhalten hat, sich nicht zur Abtei begeben. Er ist auf der Meierei Cransac geblieben, wo er seinen Wohnsitz genommen hat. Ich würde nichts Unmögliches darin sehen, dass ihm die Bestie in den Weg gekommen wäre. Noch einmal sage ich, es wäre dies ein großes Unglück, denn ein Mensch von bürgerlicher Herkunft, der Neffe eines Mönches, dem man ein so abscheuliches Verbrechen zur Last legt …«

Fräulein von Barjac hörte diese letztere Bemerkung nicht. Sie hatte sich ungestüm erhoben.

»O«, sagte sie mit zitternder Stimme, »wenn das wäre, wenn das so sein könnte – aber in diesem Fall hätte er ja schon hier erscheinen müssen. Warum ist er nicht gekommen?«

Während sie diese Worte noch sprach, trat eiligst ein Diener herein.

»Gnädiges Fräulein«, sagte er, »soeben kommt Monsieur Leonce und bittet um Erlaubnis, Euch begrüßen zu dürfen.«

Wenn das Schloss plötzlich von einer übernatürlichen Gewalt in den Lüften hinweggeführt worden wäre, so wäre das Erstaunen der drei in dem Salon versammelten Personen nicht größer gewesen. Niemanden fiel es ein, dem Diener zu antworten.

Endlich murmelte Christine in unaussprechlicher Aufregung: »Er! Also er ist es? Ich danke dir, mein Gott! Du hast mich nicht für meine Unklugheit, für meine Torheit strafen wollen!«

»Mein Fräulein, ich bitte Euch zu bedenken …«

»Christine, teures Kind, bedenkt, dass Ihr Euch noch irren könntet!«

Fräulein von Barjac dankte, sich ermannend, ihren beiden Ratgebern durch ein Lächeln, dann setzte sie sich nieder und sagte zu ihnen: »Bleibet bei mir! Ich werde ihn empfangen, wie es einem Fräulein von Barjac geziemt. François«, setzte sie zu dem Diener gewendet hinzu, »führe Monsieur Leonce herein.«

Einige Minuten später durchschritt ein schüchterner Tritt das Vorzimmer und Leonce trat ein.

Er war mit außerordentlicher Einfachheit gekleidet und es lag in seiner Miene etwas Trauriges, Gezwungenes, Gedemütigtes. Dennoch aber färbte beim Anblick des Fräuleins von Barjac eine dunkle Röte seine Wangen. Es schien, als ob gewaltiges Erstaunen sich mit den stürmischen Gefühlen mischte, welche er empfand.

Er hatte sich Christine immer noch stolz und kühn in Amazonentracht wie früher vorgestellt. Es war, als wenn es ihm Mühe machte, sie in dieser eleganten, graziösen Person wiederzuerkennen, welche bescheiden und sittsam zwischen ihrer Gouvernante und ihrem alten Stallmeister saß.

Wie dem aber auch sein mochte, so war keine der Redensarten, welche er ohne Zweifel im Voraus überlegte, in diesem Augenblick seiner Erinnerung gegenwärtig. Er blieb stumm und zitternd einige Schritte vor der schönen Schlossherrin stehen und begnügte sich damit, dass er sich tief verneigte.

Christine dagegen verstand nicht jene kalte Würde zu bewahren, mit welcher sie paradieren wollte. Einem Gefühl nachgebend, welches stärker war als ihr Wille, eilte sie dem Freund ihrer Kindheit entgegen, bot ihm die Hand und sagte in sanftem Ton: »Leonce, mein lieber Leonce, ich heiße Euch in Mercoire willkommen.«

Dieser liebreiche Empfang, den er vielleicht nicht erwartet hatte, brachte in dem niedergebeugten Gemüt des armen jungen Mannes eine Explosion hervor. Er ergriff die Hand, die ihm geboten wurde, und murmelte mit von Schluchzen unterbrochener Stimme: »Ach Fräulein, wie gut seid Ihr! Ihr verachtet mich also nicht? Ihr hasst mich nicht?«

»Ich sollte Euch hassen? Ich sollte Euch verachten, mein Freund? Was denkt Ihr? Armer Leonce, ich kenne Euren Kummer und ich teile ihn. Aber wo ist nun jene Seelenstärke, jener hohe Verstand, jenes Vertrauen auf Gott, welches ich sonst an Euch bewunderte?«

Sie setzten sich nebeneinander. Die Schwester Magloire erschöpfte sich in Reverenzen vor dem Neffen des Priors, während der Chevalier, zurückhaltender, ein wenig kalte Komplimente an ihn richtete. Leonce gelang es bald, sich zu fassen.

»Verzeiht mir, Fräulein«, hob er wieder an, »eine Bewegung, die Ihr ohne Mühe verstehen werdet. Konnte ich glauben, dass Ihr mich so empfangen würdet, trotz der Erniedrigung, in die ich gesunken bin, während Ihr mir früher mitten in meinen Freuden und in meinem Glück so hart begegnetet!«

»Das ist ein Vorwurf, Leonce, und vielleicht ist er zum Teil verdient. Wenn aber meine Seltsamkeiten sich zuweilen gegen Menschen richten, welche glücklich und stolz sind, so schonen sie dagegen diejenigen, welche schwach und unglücklich sind. Verzeiht mir Eurerseits mein früheres Unrecht. Ich habe es grausamer gebüßt, als Ihr glaubt.«

Nachdem die Konversation einmal auf diesem Fuß freundschaftlicher Vertraulichkeit hergestellt war, zögerten Schwester Magloire und der Chevalier nicht, daran teilzunehmen.

Leonce aber blieb immer noch düster und beengt. Christine beobachtete ihn verstohlen und schien von einer immer höher steigenden Ungeduld gemartert zu werden.

Endlich unterbrach sie Magnac mitten in einer salbungsvollen Tirade, um plötzlich zu fragen: »Ich weiß, Monsieur Leonce, dass Ihr seit einiger Zeit der Bestie des Gévaudan nachstellt. Habt Ihr bei dieser gefährlichen Jagd viele Konkurrenten?«

»Nur zu viel, Fräulein. Der Lohn des Siegers soll ja so groß sein!«

»Aber gibt es unter diesen Konkurrenten wirklich deren, welche von jenem wahnsinnigen, in einem Augenblick von Geistesabwesenheit ausgesprochenen Schwur Kenntnis haben?«

»Ich weiß es nicht, Christine, aber welcher rechtschaffene Mann würde sich ein so übereiltes Versprechen zu Nutzen machen und Euch eine Eurer unwürdige Wahl aufzwingen wollen? Um die Hand der schönen und edlen Christine von Barjac zu verdienen, würde es nicht genügen, ein tadelloses Leben geführt zu haben. Dazu bedürfte es auch noch eines reinen Namens, einer hohen Geburt und aller äußeren Vorzüge, welche die Rücksicht der Welt verdienen. Jeder, der nicht mit diesen Vorzügen ausgestattet wäre und ein unüberlegtes Gelübde missbrauchen wollte, wäre ein Erbärmlicher, den jeder Mann von Mut und Herz mit Entrüstung von sich stoßen müsste. Nur Eure freie und überlegte Wahl könnte einem solchen Sieg Wert verleihen.«

Als Christine diese mit leidenschaftlichem Ton gesprochenen Worte hörte, konnte sie sich eines freudigen Schauers nicht erwehren. Augenscheinlich war Leonce der Besieger des wilden Tieres, aber ein übertriebenes Zartgefühl, welches seinen Grund ganz besonders in der entehrenden Lage seines Onkels hatte, hielt ihn ab, sich zu erklären.

Mit gesenkten Augen hob Fräulein von Barjac wieder an: »Ich habe keinen Vorbehalt gestellt, Leonce, als ich jenes furchtbare und feierliche Versprechen gab. Jeder, der

die gestellte Bedingung erfüllt haben wird, wird das Recht haben, die Erfüllung meines Versprechens zu verlangen. Möge er sein, wer er wolle. Wie bescheiden und sogar wie niedrig seine Herkunft sein möge, so werde ich mich, wenn auch nicht ohne Bedauern, doch ohne Klage und ohne Murren in mein Schicksal fügen.«

Leonce versank einen Augenblick lang in Nachdenken.

»Dies würde«, hob er wieder an, »nicht dem Mann genügen, der Euch mit tiefer und uneigennütziger Liebe zugetan wäre. Er müsste sich auch noch überzeugen, ob Ihr für ihn Achtung und Zuneigung empfindet.«

»Nun, es würde ihm ja freistehen, sich danach zu erkundigen!«, rief Christine mit einem gewissen Grad von Zorn.

Da Leonce nicht antwortete und in sein Hinbrüten versenkt blieb, so fragte sie, indem sie einen gleichgültigen Ton affektierte: »Habt Ihr, Monsieur Leonce, auch davon gehört, dass die Bestie des Gévaudan gestern Abend im Wald von Labeyssère erlegt worden sein soll?«

Der junge Mann richtete sich lebhaft in die Höhe. »Was sagt Ihr, Fräulein? Die Bestie des Gévaudan wäre im Wald von Labeyssère erlegt worden? Das ist ja unmöglich!«

»Und warum denn, Leonce?«

»Weil in dem gegenwärtigen Augenblick, wo ich mit Euch spreche, mein Piqueur Denis im Begriff ist, den Wolf in den Schluchten der Monadière, kaum eine Wegstunde von hier, aufzuspüren, und Hoffnung hat, ihn aufzuscheuchen.«

Christine wusste anfangs nicht, ob sie über diese Nachricht erschrecken oder sich freuen sollte.

»Hört Ihr es, Chevalier?«, hob sie an. »Was sagtet Ihr uns denn?«

Magnac wiederholte Wort für Wort die Mitteilung, die er vom Forsthüter Jerome erhalten hatte.

Leonce hörte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit an. »Das ist unbegreiflich!«, sagte er endlich mit dem Ausdruck der größten Unruhe. »Denis, der stets so klug und in seiner Kunst so erfahren ist, sollte sich getäuscht haben? Sollte er die Spur eines jener großen Wölfe, von welchen es jetzt in der Umgegend wimmelt, für die Spur der Bestie angesehen haben? Aber dann, Fräulein«, fuhr er mit Aufregung fort, »wenn man die Wahrheit gesprochen hat, dann müsstet Ihr ja von einem Augenblick zum anderen erwarten, irgendeinen zudringlichen Jäger hier erscheinen zu sehen, welcher den Preis seines Sieges zu beanspruchen käme.«

»Ich fürchte das auch, Leonce, ich fürchte es auch. Als ich Euch hier eintreten sah, hoffte ich. Da Ihr es aber nicht seid, der die Bestie erlegt hat, dann in des Himmels Namen, welcher Beweggrund führt Euch jetzt nach Mercoire, nachdem Ihr so lange in der Nachbarschaft verweilt habt, ohne dieses befreundete Haus eines Besuches zu würdigen?«

Leonce schlug sich vor die Stirn. »Das ist richtig. Ich danke Euch, dass Ihr mich daran erinnert, weshalb ich gekommen bin, während das Bewusstsein meiner Unwürdigkeit mich vielleicht hätte abhalten sollen, die Schwelle Eurer Wohnung zu überschreiten. Wisset denn, dass der Bischof von Aleppo mir kürzlich schrieb, um mich aufzufordern, in Frontenac zu erscheinen, wo man mir, wie das Schreiben sagte, Dinge von größter Wichtigkeit mitteilen würde. Ich bin sehr gleichgültig gegen mein eigenes Schicksal geworden, an welchem ich verzweifle. Übrigens wollte ich nicht den Befehlen jenes übermütigen Priesters, des ergrimmten Verfolgers meiner Freunde, gehorchen. Deshalb ließ ich antworten, dass es mir unmöglich sei, in der Abtei zu erscheinen. Seit diesem Tag hat man mir eine neue Aufforderung zugesendet, die diesmal von einer Person herrührt, welche ich trotz ihres anscheinenden Unrechtes noch liebe. Diese Nachricht fordert mich auf, mich noch heute im Schloss Mercoire einzufinden, wo ich gewisse Mitteilungen erwarten soll. Ich bin der Person, um welche es sich handelt, niemals ungehorsam gewesen, und ich werde ihr auch nie ungehorsam sein, besonders wenn sie unglücklich ist. Deshalb bin ich trotz des schlimmen Empfanges, den ich fürchtete, und den Eure Güte mir erspart hat, Fräulein, hierhergeeilt und komme Euch zu fragen, ob nicht vielleicht ein Brief oder irgendeine andere Botschaft für mich eingetroffen ist?«

Christine sah ihre beiden Ratgeber fragend an.

»Es ist niemand da gewesen«, sagte Magnac.

»Ich weiß auch von nichts«, sagte Schwester Magloire, »aber es ist noch früh am Tage und vielleicht …«

»In diesem Fall«, hob Leonce wieder an, »wird Fräulein von Barjac mir hoffentlich in ihrem Haus einen kleinen Winkel einräumen wo ich bis heute Abend die Nachrichten abwarten kann, welche mir angekündigt sind. Ich brauche sehr wenig Platz. Sobald die Nacht einbricht und bis dahin nichts für mich angekommen ist, gedenke ich meine Zudringlichkeiten zu entschuldigen und mich wieder zu entfernen.«

Diese Demut verletzte Christine tief.

»Leonce, mein Freund, mein Bruder«, hob sie an, »könnt Ihr wirklich so mit mir sprechen? Bleibt in diesem Salon bei mir. Wir wollen von unseren frohen Kinderjahren sprechen. Es ist so lange her, dass ich diesen Genuss habe entbehren müssen.« Dann setzte sie im Ton der Unruhe hinzu: »Trotz meiner selbst kommt mir diese dumme Geschichte, welche uns der Chevalier erzählt hat, nicht aus dem Kopf. Wenn meine ohne Zweifel ungereimten Befürchtungen sich verwirklichen sollten, so wäre es wenigstens ein Trost, einen treuen, ergebenen Freund in meiner Nähe zu haben, der mich tröstet und beklagt.«

»Mein Fräulein«, sagte Magnac mit der Miene beleidigter Würde, »habt Ihr nicht Euren Ehrenkavalier, der sich sehr wohl imstande glaubt, Euch gegen alles zu schützen?«

Christine neigte sich zu Leonce und begann leise mit ihm zu sprechen. Der durch diesen Tausch der Rollen vielleicht verlegen gemachte junge Mann gab einsilbige Antworten. Christine aber, welche eine bald lächelnde, bald schwermütige Miene zeigte, verlor deshalb den Mut nicht, und unmerklich vergaß Leonce seine schmerzlichen Gedanken. Es dauerte nicht lange, so schienen beide übereinzustimmen. Sie sprachen immer leiser, aber mit steigender Lebhaftigkeit, und mitfühlende Tränen benetzten ihre Augen.

Dieses Murmeln einer redlichen Liebe machte auf den Chevalier und auf Schwester Magloire einen ganz verschiedenen Eindruck. Die gute Schwester, welche in ihrer Jugend vielleicht auch einmal geliebt hatte, lächelte nachsichtig. Der Chevalier dagegen rückte auf seinem Stuhl hin und her, nahm eine Prise nach der anderen und ließ von Zeit zu Zeit ein sonores »Hm! hm!« hören, um welches sich aber niemand kümmerte.

Vielleicht hatten die poetischen Erinnerungen an die Vergangenheit die armen Kinder nach den unbestimmten Bestrebungen der Zukunft hingeleitet, vielleicht begann diese Zukunft ihnen weniger umwölkt und düster zu erscheinen, als man plötzlich in dem Ehrenhof rasche Hufschläge hörte.

Beinahe gleichzeitig riefen laute Jagdfanfaren das Echo des alten Schlosses auf fürchterliche Weise wach.

Die jungen Leute fuhren zusammen. Sie hörten diese Töne, welche sich drohend und gebieterisch in den Korridoren und in den Höfen verlängerten.

»Herr, mein Gott, was ist das?«, rief Schwester Magloire die Hände faltend.

»Wer wagt denn«, rief der Chevalier, »sich auf diese kecke Weise im Schloss Mercoire anzukündigen?«

Rasche Schritte dröhnten in dem Vorzimmer, dann öffnete sich geräuschvoll die Thür und der Diener verkündete: »Der Herr Graf von Varinas!«

Der Baron von Laroche-Boisseau trat ein.