Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 8
Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.
Dritter Teil
Vertrauliche Mitteilungen
Gegen das Ende desselben Tages kamen der Baron und Leonce mit den Jägern und den Bergbewohnern, die sie mitgenommen hatten, sehr müde und erschöpft in der Meierei Motte Rouge wieder an. Ihre tätigen und gefährlichen Nachsuchungen waren vergeblich gewesen. Umsonst hatte man unter den größten Gefahren die Höhlen und Gebüsche des Wasserfalls durchwühlt. Die Leichen Fargeots und des Wolfmenschen hatten sich nicht wiedergefunden.
Dennoch aber zweifelte man nicht mehr, dass diese beiden Unglücklichen umgekommen sehen. In der Tat entdeckte mehre Monate nach diesen Ereignissen ein Hirt im Strom, weit unterhalb des Wasserfalles, zwei scheußliche Gerippe, die durch das Anschlagen an die Felsen zerschellt und gleichsam zermalmt waren, aber doch noch so fest aneinanderhafteten, dass man Mühe hatte, sie auseinanderzureißen.
Die Nacht war nahe. Der Schnee fiel in dichten Flocken, ohne jedoch von Wind und Sturm begleitet zu sein. Dieser Umstand machte die Ausführung des Projektes unmöglich, welches Leonce gefasst hatte, sich sofort zur Verfolgung des Wolfes wieder aufzumachen, denn der neue Schnee musste überall die Spuren verdecken. Übrigens brach auch die Nacht ein und der junge Mann, wie groß auch seine Kraft und sein Mut sein mochten, hatte sich während des so ereignisvollen Tages nicht geschont.
Seine Ermüdung war daher außerordentlich und er hatte Mühe, die Meierei Motte Rouge zu erreichen, wo er einen Teil seiner Leute wiederfinden sollte.
Leonce und der Baron gingen nebeneinander, ein wenig hinter dem anderen Trupp. Eine unverkennbare, wenn auch nicht herzliche Höflichkeit hatte trotz ihrer Nebenbuhlerschaft nicht aufgehört, zwischen ihnen zu herrschen. Der Neffe des Priors wollte aus Berechnung und auch seinem Charakter zufolge sich in diesem Kampf der Courtoisie nicht besiegen lassen und trug daher Sorge, dass keine Anspielung auf die Vergangenheit den Gefährten beleidige, welchen die Notwendigkeit ihm aufdrang.
Dennoch aber sehnte er sich vielleicht im Geheimen sehr, ihn zu verlassen und die Freiheit seines Handelns wiederzuerlangen.
Laroche-Boisseau war, nachdem er ihm eine Menge stets ein wenig ironischer Komplimente über seine Energie, seine Gewandtheit und über den Eifer gemacht, den er bei der Nachforschung nach den unglücklichen Verschwundenen entwickelte, sehr gedankenvoll geworden.
Leonce sagte seinerseits in höflichem Ton zu ihm: »Ihr scheint nicht mehr recht gut gelaunt zu sein, Herr Baron; dennoch hoffe ich, dass der Zustand eures Freundes nichts Beunruhigendes hat und dass man uns in der Meierei
zufriedenstellende Meldungen darüber machen wird.«
»Meines Freundes«, sagte Laroche-Boisseau in verächtlichem Ton. »Legris ist nicht mein Freund. Er ist der Sohn eines meiner Geschäftsagenten und in dieser Eigenschaft habe ich ihm ein wenig behilflich sein wollen. Seine Kontusionen sind durchaus nicht gefährlich. Ruhe und einige Tassen Wundfiebertee werden ihn bald wieder auf die Beine bringen. Ich glaubte aber, Monsieur Leonce, Ihr wüsstet, wie viel mir daran lag, wohlbehalten und unversehrt die beiden armen Teufel wiederzufinden, welche sich in Wasserdämpfe aufgelöst zu haben scheinen.«
»Der eine von ihnen war, wenn ich mich nicht irre, nachdem er lange in Fräulein von Barjacs Diensten gestanden hatte, in den Euren übergegangen. Was den anderen betrifft, so spricht man von diesem als von einem gefährlichen Tollhäusler.«
»Ist dem wirklich so, Monsieur?«, fragte der Baron, indem er ihn scharf ansah. »Wie Ihr wisst nicht, welch großes Interesse ich an dem Schicksal dieser beiden Männer haben muss, ja welches Interesse Ihr selbst daran haben müsst?«
»Ich, mein Herr? Noch einmal versichere ich Euch, dass ich sie nicht kannte und dass nur das Gefühl der Menschlichkeit …«
»Als Ihr Euch vorhin so eifrig zeigtet, diese Unglücklichen aufzufinden, die nur verwundet sein konnten, brachte ich Euren Eifer auf Rechnung von Gefühlen anderer Art, zum Beispiel auf Rechnung des Wunsches, endlich die Sonne der Wahrheit in einer Angelegenheit aufgehen zu sehen, welche Euch ebenso berührt wie mich, obschon aus verschiedenen Gründen.«
»Bei meiner Seele, Monsieur, ich verstehe Euch nicht.«
»Aber dennoch scheint es mir unmöglich zu sein, dass Ihr, der Zögling der Väter von Frontenac und Neffe ihres Priors, keine Kenntnis von dem Kriminalprozess habt, den ich gegen Eure Abtei und persönlich gegen euern Onkel wegen des Verschwindens des Vicomte von Varinas, meines Verwandten, anhängig gemacht habe. Nun aber waren der ehemalige Oberforsthüter von Mercoire und Jeannot die einzigen
Zeugen, welche ich zur Unterstützung der von mir geltend gemachten Tatsachen beibringen kann, und ihr Tod wird vielleicht das Fehlschlagen meiner Ansprüche zur Folge haben. Dieses Ereignis ist daher ein sehr glückliches für Eure Freunde, Monsieur Leonce, und Ihr könnet ihnen dazu Glück wünschen.«
Der arme Leonce versuchte umsonst, sich diese halb vertraulichen Mitteilungen zu erklären, die perfider Weise vielleicht darauf berechnet waren, ihn zu quälen und zu beunruhigen.
»Dies sind, Monsieur«, entgegnete er, »förmliche Rätsel für mich. Wohl habe ich von den früheren Rechten Eurer Familie auf die Domäne Varinas sprechen hören, aber diese Rechte sind schon seit langer Zeit durch richterlichen Spruch erloschen und man könnte sie daher doch auch heute nicht wieder vom Neuen zum Leben erwecken.«
Laroche-Boisseau nahm eine ernste Miene an. »Ihr könnt«, sagte er, »sehr ehrenwerte Beweggründe haben, um zu tun, als wüsstet Ihr nicht, wovon jetzt allgemein gesprochen wird. Es kommt mir nicht zu, diese Gründe zu ermitteln. Dennoch aber, Monsieur Leonce, werdet Ihr gestehen, dass Euch die Ankunft des Bischofs von Aleppo, des königlichen Kommissars, in der Abtei Frontenac ebenso bekannt ist, wie der über das ganze Kloster ausgesprochene Bann und der Zellenarrest des – kurz einer Person, die Euch sehr nahesteht.«
Diesmal sah Leonce, wenn auch noch unklar, die furchtbare Wahrheit.
»Wartet!« sagte er mit Aufregung. »Allerdings erinnere ich mich, dass an dem Tag, wo ich die Abtei verließ, ein hochgestellter Geistlicher soeben eingetroffen war. Und dann die bestürzte Miene der frommen Väter, die augenscheinliche Unruhe meines Onkels und besonders seine Eile mich abreisen zu sehen. O, Herr Baron«, fuhr er in bittendem Ton fort, »verschweigt mir nichts! Welche Beweggründe haben den Bischof bestimmen können, auf so strenge Weise gegen die guten Väter und ganz besonders gegen meinen geliebten Onkel zu verfahren? Denn ohne Zweifel ist es dieser, von welchem Ihr sprechen wolltet.«
»Ich habe vielleicht schon zu viel gesagt«, antwortete Laroche-Boisseau, indem er heuchlerisch seufzte. »Ich wollte Euch nicht betrüben, Monsieur Leonce, denn Ihr seid ein wackerer junger Mann, und ich mische Euch nicht in meinen gerechten Hass gegen all diese verächtlichen Mönche. Lassen wir daher diese Sache ruhen, denn sie könnte für uns beide nur peinlich sein. Auch«, fuhr er mit wirklichem Kummer fort, »wird diesmal der Tod meiner beiden Zeugen wahrscheinlich der Sache eine andere Gestalt geben. Die Anklage, die nun nicht hinreichend bewiesen werden kann, wird von selbst zu Boden fallen und man wird mich vielleicht meinerseits des Betruges und der Verleumdung beschuldigen. Mordieu, wir werden ja sehen!«
»Herr Baron«, hob Leonce mit steigender Angst wieder an, »ich bin weder Euer Richter noch der Richter irgendjemandes, aber ich beschwöre Euch, mich von den Tatsachen zu unterrichten, welche in Frontenac seit meiner Abreise stattgefunden haben.«
»Ich hätte freilich gewünscht, dass lieber ein anderer als ich Euch diese Einzelheiten mitheilte«, entgegnete Laroche-Boisseau im Ton gut erheuchelten Widerstrebens.
»Wenn ich Euch aber beleidige, so werdet Ihr eingedenk sein, dass Ihr mich zu diesen Mitteilungen genötigt habt. Erfahrt denn, dass die Mönche von Frontenac angeklagt sind, meinen jungen Verwandten, den jungen Vicomte von Varinas, ermordet zu haben oder ermorden lassen zu haben, um sich seines reichen Erbteils zu bemächtigen.«
Leonce erschrak über die Größe dieser Beschuldigung, dennoch aber stammelte er: »Eine solche Anklage ist so wenig glaubhaft, so ungereimt …«
»Es steht Euch frei, dies zu denken, aber dennoch wird sie durch zahlreiche Beweise unterstützt und ist ohne Zweifel nicht jedermann ungereimt erschienen, da der König es angemessen gefunden hat, einen ausgezeichneten Prälaten abzusenden, um eine Untersuchung in der Abtei vorzunehmen, und da der königliche Kommissar, nachdem er die erforderlichen Erkundigungen eingezogen hatte, das Kloster mit dem Interdikt belegt und den Prior zu strenger Einsperrung verurteilt hat.«
»Meinen Onkel!«, rief Leonce mit erstickter Stimme. »Mein Onkel ist also wirklich in diese Sache mit verwickelt?«
»Es wäre vergeblich, es Euch verschweigen zu wollen, mein lieber junger Freund. Der Prior von Frontenac ist auf die stärkste Weise kompromittiert. Er scheint der Haupturheber des Todes des jungen Vicomte von Varinas gewesen zu sein. Wie kann man daran zweifeln, wenn Jeannot, einer der beiden Unglücklichen, die soeben ihren Tod gefunden haben, den Pater Bonaventura verkleidet in der Nähe des Schlosses Varinas wenige Augenblicke vor dem tragischen Ende des armen Kleinen begegnet ist?«
»Das ist nicht wahr, Herr Baron, das ist ganz gewiss nicht wahr!«, rief Leonce erbleichend, aber mit außerordentlicher Energie. »Der gute, weise, edelmütige Prior sollte sich eines solchen Verbrechens schuldig machen? Das ist Unsinn, sage ich Euch! Euer Hass gegen sämtliche Väter von Frontenac und ganz besonders gegen meinen ehrwürdigen Onkel hat Euch vollständig verblendet, sodass Ihr dieser Nichtswürdigkeit Glauben beimesst.«
Dieser eifrige Protest konnte nicht verfehlen, Laroche-Boisseaus Zorn zu erwecken, aber er hielt an sich und entgegnete in nachsichtigem Ton: »Ich will Euch gewisse nicht sehr gemessene Worte, die Euch soeben entschlüpften, Monsieur Leonce, nicht übelnehmen. Es ist ganz natürlich, dass Ihr einen nahen Verwandten, der Euch ernährt und erzogen hatte, verteidigt, wäre er auch in den Augen der ganzen Welt schuldig. Übrigens werdet Ihr nun vielleicht auch bald gutes Spiel haben. Ich sagte es Euch schon: Die Unmöglichkeit, in welche ich mich jetzt versetzt sehe, zwei wichtige Zeugen zu produzieren, wird vielleicht der Sache eine andere Gestalt geben, und die Mönche, denen es weder an Gewandtheit noch an Ansehen fehlt, werden sich weiß wie der Schnee herausziehen – obschon ich mich jetzt noch nicht überwunden gebe.«
Diese letzteren Worte wurden in drohendem Ton gesprochen, denn Laroche-Boisseau konnte, während er seine grausame Absicht verfolgte, den Neffen des Priors zu martern, sich doch nicht enthalten, einige seiner wirklichen Eindrücke sehen zu lassen. Übrigens war ihm sein geheimer Plan nur zu gut gelungen. Der unglückliche Leonce war durch diese furchtbaren Mitteilungen wie vernichtet. Nichtsdestoweniger richtete er plötzlich wieder den Kopf empor.
»Herr Baron«, hob er mit Heftigkeit wieder an, »ich beharre dabei, zu sagen und zu glauben, dass diese Anklage falsch, erlogen und verleumderisch ist – und wenn die Gerechtigkeit ihren Spruch darüber gefällt haben wird, hoffe ich meinerseits den Verleumder zur Rede zu stellen.«
Er begann zu laufen wie ein Betrunkener, um den Trupp einzuholen, der ihm voranging, während Laroche-Boisseau mit der Miene befriedigter Rache vor sich hinlächelte.
Mittlerweile näherte man sich der Meierei, deren Gebäude von Weitem im Abendnebel zum Vorschein kamen. Sobald die Jäger sichtbar wurden, trat ein Mann aus dem Haus und kam ihnen entgegengelaufen.
Es war Labranche, der vertraute Diener des Barons. Er näherte sich seinem Herrn und sagte hastig zu ihm: »Soeben sind Briefe für Euch angekommen, Herr Baron. Der Stallknecht der Madame Richard in Langogne brachte sie. Dieser arme Teufel verfolgt unsere Spur schon seit zwei Tagen und hat die größte Mühe gehabt, uns zu entdecken. Da ich weiß, wie viel Euch daran liegt, Nachrichten zu bekommen, so habe ich mich beeilt …«
»Gut, gut, Labranche. Diese Aufmerksamkeit wird dir, sobald ich wieder bei Kasse bin, einen guten Louis dʹor eintragen. Aber wo sind denn diese Briefe?«
»Der Bote will sie Euch selbst übergeben. Der eine ist von Florac, der andere von Mercoire.«
»Von Mercoire?«, wiederholte Laroche-Boisseau mit Erstaunen. »Wer Teufel kann mir denn von dort schreiben? Was den anderen Brief betrifft, so ist er ohne Zweifel von Legris, dem Vater, meinem Anwalt, und muss sehr wichtige Dinge enthalten. Sehen wir also rasch.«
Er verdoppelte den Schritt und sah sich bald wieder neben Leonce, der düster und niedergeschlagen mit gesenktem Haupt und tränenfeuchten Augen einherging.
Er redete ihn, indem er lebhafte Teilnahme an seinem Kummer heuchelte, an. Der junge Mann wendete sich mit schroffer Bewegung ab.
»Ihr zürnt mir, Monsieur Leonce«, hob der Baron im Ton freundschaftlichen Vorwurfes an, »und dennoch habe ich Euch keinen Grund dazu gegeben. Hört. Soeben habt Ihr gewisse Tatsachen, die ich Euch berichtete, in Zweifel gezogen.
Es liegt mir daran, Euch die vollkommene Richtigkeit derselben zu beweisen. Man meldet mir soeben, dass Briefe für mich von Florac und Mercoire eingetroffen sind. Habt die Güte, einen Augenblick in dieser Meierei zu verweilen und ich werde Euch den Teil meiner Korrespondenz mitteilen, welcher sich auf die Ereignisse bezieht, um welche es sich handelt.
Ich müsste mich sehr irren, wenn Ihr nicht darin den Beweis fändet, dass ich nur die Wahrheit gesprochen habe.«
Leonce hatte allerdings seine Gründe, um gegen die schnelle Zuneigung und das unbedingte Vertrauen, welches Laroche-Boisseau ihm bewies, argwöhnisch zu sehen. Dennoch aber empfand er einen eifrigen Wunsch, die soeben eingetroffenen Nachrichten kenne zulernen. Der Brief von Mercoire erregte seine Neugier ganz besonders lebhaft, denn ganz gewiss war darin von Christine von Barjac die Rede, welche er seit so langer Zeit nicht gesehen hatte.
Nach kurzem Zögern antwortete er daher mit erstickter Stimme: »Es sei, Herr Baron. Ich werde die Mitteilungen empfangen, welche es Euch belieben wird, mir zu machen. Und dennoch ist Gott mein Zeuge, dass ich mit Freude mein Leben für die Gewissheit hingeben würde, dass Ihr mich getäuscht habt.«
Sie erreichten die Meierei. Martin und die andern Bergbewohner weigerten sich, bei Fereol einzutreten, der ihr Feind geworden war. Lieber wollten sie, der Abendkälte ausgesetzt und in Schnee stehend, Leonce vor der Tür erwarten.
Fereol seinerseits lud sie auch nicht ein, an seinem Herd auszuruhen, sondern warf ihnen finstere Blicke zu.
Seitdem er den tragischen Ausgang seines Unternehmens in Bezug auf seinen Verwandten Jeannot kannte, wurde er wie von geheimen Gewissensbissen gequält; zu stolz aber, sein persönliches Unrecht anzuerkennen und nicht wagend, sich deswegen an den Baron, die erste Ursache des Unglücks, zu halten, bewahrte er einen tödlichen Groll gegen Martin, seinen Nachbarn und Standesgenossen.
Diese Angelegenheit musste sofort nach Abreise der Fremden der Ursprung eines langen erbitterten Zwistes werden, in welchem die Messer und Kugelbüchsen ohne Zweifel berufen waren, eine blutige Rolle zu spielen.
Das große Zimmer der Meierei war schon erleuchtet, obwohl noch einiges Dämmerlicht herrschte. Vor dem Feuer wärmte sich der Bote.
In dem großen Bett, welches in dem einen Winkel des Zimmers stand, lag Legris mit Tüchern und Bandagen umschnürt. Die Meierin und ihre Tochter waren um den Verwundeten beschäftigt. Ein starker Medizingeruch verriet, dass alle Hausmittel gegen Quetschungen und Beulen bereits in Anwendung gebracht worden waren.
Laroche-Boisseau ging stracks auf den Boten zu, der, als er ihn sah, sich beeilte, aufzustehen und ihm seine Depeschen zu übergeben.
Er ergriff sie begierig und stand schon im Begriff, sie zu lesen, als Legris sich auf dem Ellbogen emporrichtend ihn in kläglichem Tone fragte:
»Ah, lieber Baron, da sind Sie ja endlich! Ist die Bestie des Gévaudan tot?«
Ohne zu antworten riss Laroche-Boisseau das Kuvert eines seiner Briefe auf. Plötzlich stieß er einen Freuden ruf aus.
»Victoria!« sagte er, indem er das Papier schwenkte, welches er in der Hand hielt. »Ich wagte schon nicht mehr einen solchen Ausgang zu hoffen. Wünscht mir alle Glück. Ich bin von nun an Graf und Herr von Varinas.«
Die Anwesenden betrachteten ihn mit erstauntem Blick.
»Was sagt Ihr, Baron?«, fragte Legris. »Wenn dies wäre, dann würdet Ihr mich ohne Erbarmen verlassen – ich kenne Euch!«
Laroche-Boisseau wandte sich gegen Leonce. »Ihr verlangtet Beweise«, sagte er. »Ihr hättet es gar nicht besser treffen können. Kommt mit mir.«
Er nahm ein Licht vom Tisch und führte den Neffen des Priors in ein kleines Nebengemach, wo sie gegen zudringliche Neugier geschützt waren.
»Lest, Monsieur«, sagte er mit boshafter Freude, indem er Leonce den geöffneten Brief überreichte.
Dieser von Florac datierte Brief war von Legris dem Älteren, der, wie wir wissen, als Bevollmächtigter des Barons handelte. Der Brief lautete folgendermaßen:
Mein Herr Baron!
Eure Sache geht nach Wunsch. Es ist nicht mehr nötig, dass Ihr über Berg und Tal Jagd auf jenen Jeannot mit den großen Zähnen macht, dessen Zeugnis Euch überdies in Anbetracht seines notorischen Wahnsinnes nicht viel genützt haben würde. Sogar die Bestätigungen Fargeots sind nicht mehr unumgänglich notwendig, denn der Prior, unser gefährlichster Gegner, hat vor Seiner Eminenz, dem Bischof von Aleppo, alles bekannt. Diese Tatsache ist außerordentlich und ich könnte nicht glauben, dass dieser schlaue Bonaventura sich ein solches Geständnis hätte entschlüpfen lassen, wenn nicht Monseigneur, den ich soeben in Eurem Interesse gesprochen habe, mir selbst die Gewissheit davon gegeben hätte. Ihr erratet ohne Zweifel, Herr Baron, die Folgen dieser neuen Tatsachen mit leichter Mühe. Der Bischof ist, von der Strafbarkeit der Mönche von Frontenac überzeugt, vollkommen bereit, Euch die Domaine Varinas herauszugeben, sobald Ihr die Beweise geliefert haben werdet, dass Ihr der nächste Verwandte und Erbe des verstorbenen Grafen und des kleinen Vicomte seid. Ich bin eben beschäftigt, diese Beweisstücke aufzusuchen, welche sich unter Euren Familienpapieren befinden müssen, und werde sie dann in legaler Form produzieren. Dennoch aber wäre Eure Anwesenheit hier uns sehr notwendig und wenn Ihr uns einige Tage widmen könntet, so zweifle ich nicht, dass dies Euren Interessen im höchsten Grad förderlich sein würde. Mittlerweile ist der Bischof, der königliche Kommissar, gegen die Mönche von Frontenac noch immer heftig erbittert und regiert sie mit eiserner Rute. Wie Ihr denken könnt, schwatzt man in der Umgegend sehr viel, man glaubt aber, um der Ehre der Geistlichkeit willen werde man den Abt und die Mönche für unschuldig erklären. Die ganze Züchtigung wird den Prior allein treffen, der auch in der Tat in dieser Angelegenheit der Strafbarste ist. Wahrscheinlich wird man ihn ohne weiteres Geräusch in einen jener unterirdischen Kerker werfen, mit welchen alle Klöster versehen sind, usw.
Der übrige Teil des Briefes bestand aus dem Leser bereits bekannten Einzelheiten und Empfehlungen für Legris den Jüngern.
Man denke sich Leonces Schmerz! Nun war kein Zweifel mehr übrig. Der Prior hatte sein Verbrechen gestanden und der mit der Untersuchung beauftragte Prälat war von seiner Schuld überzeugt.
Der arme junge Mann ließ das verhängnisvolle Papier aus der Hand fallen und verhielt schluchzend das Gesicht.
Mittlerweile hatte der Baron die Depesche von Mercoire geöffnet und rasch durchflogen. Ohne Zweifel war der Inhalt dieser von weniger ernster Art, denn Laroche-Boisseau schien eine lebhafte Heiterkeit zu empfinden, als der Ausbruch von Schmerz, welchen Leonce nicht zurückdrängen konnte, seine Aufmerksamkeit teilte.
»Na, na, Mut, mein Freund«, hob er in schmeichelndem Ton wieder an. »Einen Mann, der Euch verzogen und der Euch so viel Zuneigung und Achtung eingeflößt hat, hassen und verachten zu müssen, dies ist grausam, das gebe ich zu. Indessen grämt Euch nicht zu sehr. Monseigneur, der Bischof von Aleppo, wird die Sache nicht zu weit treiben und ich meinerseits, wenn ich friedlich in den Besitz meiner Familiengüter gelange, werde diese Angelegenheit nicht streng weiterverfolgen. Sie ist schon so alt, dass ich in vielen Punkten Billigkeitsrücksichten eintreten lassen werde, und wenn ich es sagen soll, Monsieur Leonce, so wird die Zuneigung, welche Ihr mir einflößt, mich sicherlich zur Nachsicht geneigt machen.«
Diese Tröstungen äußerten auf Leonce eine Wirkung, welche der, die der Baron davon zu erwarten schien, geradezu entgegengesetzt war.
»Ha, was kommt auf die Züchtigung an?«, hob der Neffe des Priors mit Verzweiflung wieder an, »das Verbrechen, nur das Verbrechen ist es, welches mich beschäftigt. Je mehr ich aber daran denke«, fuhr er sich ermannend weiter fort, »desto mehr scheint es mir, dass dieses empörende, entsetzliche Verbrechen ganz und gar unmöglich ist. Der Schein trügt, die Beweise sind falsch, alle Welt irrt sich. Es liegt hier ein Missverständnis, ein Geheimnis zugrunde, welches sich, wie ich fest überzeugt bin, später aufklären wird.«
»Lassen wir diesen Gegenstand, der Euch bekümmert, Monsieur Leonce. Es steht Euch frei, die Voraussetzungen, welche Euch die angenehmsten sind, als Wirklichkeiten zu betrachten. Wollt Ihr, um Euch zu zerstreuen, nicht auch einen Blick auf diesen Brief werfen, welcher mir von Mercoire zugeht? Er ist sehr amüsant – das kann ich Euch versichern.«
»Von Mercoire?«, wiederholte Leonce, der diesen Umstand vergessen hatte.
»Ja, lest ihn. Er enthält nichts von dem, was Ihr vielleicht erwartet. aber er wird Euch aufheitern, hoffe ich.«
Diese zweite Depesche war von dem Chevalier von Magnac unterzeichnet und der Stil derselben besaß die ganze Steifheit dieser ernsthaften Personage.
Herr Baron, schrieb der Ehrenkavalier Christines von Barjac, es ist mir gemeldet worden, dass Ihr kürzlich einen ehemaligen Forsthüter der Herrschaft Mercoire, namens Fargeot, in Euren Dienst genommen habt. Sintemalen Ihr nun in dieser Angelegenheit nicht für nötig gefunden, meine edle Herrin, das mächtige und hochangesehene Fräulein Christine von Barjac, Gräfin von Mercoire und andern Orten, um ihre Erlaubnis anzugehen, so behaupte ich, Anton Leonard Ritter von Magnac und Ehrenkavalier des genannten Fräuleins, dass Ihr nicht als wahrer Edelmann gehandelt habt. Wenn Ihr anderer Meinung seid, Herr Baron, so bitte ich Euch, mir sobald als möglich einen Ort zu bezeichnen, wo ich mich sodann beeilen werde, Euch mit einem verschwiegenen Freund zu treffen und wo wir diesen Streit schlichten werden, wie es unter Leuten vom Stande Brauch und Sitte ist. Ihr könntet glauben, dass der Anlass zu diesem Streit ein sehr geringfügiger sei und dass ich, indem ich Euch um die Gunst einer Begegnung bitte, an gewisse ältere und schwerere Beleidigungen denke. Dem ist aber nicht so, Herr Baron. Während Eures kurzen Aufenthalts auf dem Schloss Mercoire habet Ihr Euch nicht gegen die Pflichten vergangen, welche die Gastfreundschaft Euch auflegte, und wenn törichte Menschen wagen sollten das Gegenteil zu behaupten, so glaube ich, dass Ihr ebenso wie ich, Herr Baron, bereit sein würdet, ihnen auf nachdrückliche Weise Schweigen zu gebieten. In der Hoffnung einer baldigen Antwort bin ich usw.
Anton, Chevalier von Magnac.
Diese eigentümliche, mit zahlreichen Schreibfehlern geschmückte Epistel endete mit einer Nachschrift, welche folgendermaßen lautete:
»Man versichert mir, dass Ihr bei dieser unhöflichen Abwendigmachung eines Dieners von Mercoire von einem gewissen Sieur Legris unterstützt worden seid, der sich Euer Freund nennt. Da es nicht nötig ist, viel Schonung gegen einen Menschen dieser Art zu beobachten, so bitte ich Euch, Herr Baron, dem Sieur Legris sagen zu wollen, dass ich ihn überall, wo ich ihn finde, durchprügeln werde.«
Leonce stand, nachdem er diesen Brief gelesen, gedankenvoll da.
»Nun, was sagt Ihr zu der Herausforderung dieses Originals?«, fragte Laroche-Boisseau, indem er ein lautes Gelächter aufschlug. »Hat man jemals etwas Drolligeres gesehen?«
»Der Chevalier schreibt nichts von Christine«, murmelte Leonce zerstreut.
Gleich darauf aber hob er, sich schämend, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen, mit Nachdruck wieder an: »Wohlan, Monsieur, habt Ihr die Absicht, der Aufforderung des Herrn von Magnac zu entsprechen?«
»Ich? Pfui doch! Ich sollte mich mit diesem schwermütigen Narren, mit diesem blödsinnigen Rächer vermeintlichen Unrechtes schlagen? Da würde ich mich ebenso lächerlich machen, wie er ist. Übrigens habe ich auch ganz andere Dinge zu tun. Ihr seht, dass mein Anwalt meine Gegenwart für notwendig hält, und ich werde morgen Früh nach Florac abreisen. Auf diese Weise sehe ich mich gezwungen, diesen armen Legris in diesem Haus der Gefahr preisgegeben zu lassen, dass er von unserem tapferen Chevalier durchgeprügelt werde. Wohlan, und Ihr, Monsieur Leonce«, fuhr er fort, »gedenkt Ihr nicht auch, Euch nach Frontenac zu begeben? Wir könnten die Reise gemeinschaftlich machen.«
Trotz des anscheinenden Wohlwollens hatte Leonce endlich bemerkt, dass jede Minute, seitdem sie beieinander waren, ihm eine neue Qual bereitete. Er erhob sich daher rasch.
»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, sagte er mit verstörter Miene. »Ich habe Gründe zu glauben, dass mein armer Onkel, indem er mich mit so großer Hast entfernte, mir ganz besonders seine Demütigung verbergen wollte und vielleicht würde daher meine Gegenwart seinen Kummer vermehren. Ich danke Euch daher für Euer Anerbieten, Herr Baron, und kann es nicht annehmen. Wir müssen uns jetzt trennen und zwar ohne Zweifel auf lange Zeit, denn unsere Wege können nicht dieselben sein.«
»Wie Ihr wollt«, entgegnete Laroche-Boisseau mit spöttischem Lächeln, indem er sich ebenfalls erhob. »Ich sehe, Monsieur Leonce, dass eine gewisse Belohnung, welche dem glücklichen Jäger versprochen worden war, der die Bestie des Gévaudan erlegen wird, Euch noch mehr beschäftigt, als das Schicksal Eures geliebten Onkels. Geht daher und fasst Mut! Hofft aber nicht allzu sehr, dass wir uns nicht wieder begegnen werden, trotz der Verschiedenheit unserer Wege. Ich glaube im Gegenteil, dass Ihr mich auf Eurem Weg wiederfinden werdet. Adieu!«
Sie wechselten einen von der einen Seite ironischen, von der anderen eisig kalten Gruß und Leonce verließ das Zimmer. Wenige Minuten darauf hörte man ihn sich mit seinen Leuten von der Meierei entfernen.