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Diane Teil 2 – Kapitel 12

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Zwölftes Kapitel

Der unerwünschte Gast

In der Dorfschenke, die wir im siebenten Kapitel geschildert haben, kehrte wenige Stunden vor Eintritt des Abends, gerade an dem Tag, als der obige Spazierritt stattfand, ein Reisender ein, dessen Äußeres durchaus nichts Empfehlendes an sich hatte. Er war zerlumpt, hatte ein abgefallenes, wildes Ansehen, seine Blicke gingen lauernd und stier umher, sein schwarzer Bart hatte eine ungewöhnliche Länge erreicht und saß ihm struppig und unsauber um Kinn, Wange und Lippen. Der kleine rotnasige Wirt hatte große Lust, ihm die Tür vor der Nase zuzuschließen. Allein der Fremde war gewandt und behände hineingeschlüpft, saß nun auf einer der Holzbänke und schien zu erwarten, dass man daran gehen werde, ihm eine Mahlzeit, deren er sehr bedürftig schien, aufzutischen. Allein niemand rührte sich, ihm diesen Gefallen zu leisten. Aufwärter und Mägde, gewohnt, ärmliche und manchmal sogar verdächtige Gestalten in diesem Haus zu sehen, waren doch so entsetzt über die Mischung von Frechheit, Wildheit und Bettelhaftigkeit, welche dieses Prachtexemplar eines Vagabunden aufwies, dass sie sich ihm nur scheu und nach seinem wiederholten schreienden Ruf näherten.

»Die Speisekarte!«, schrie der zerlumpte Gast, indem er mit seinem Messer, das, wie es an diesen Tischen gebräuchlich, mit einer Kette befestigt war, hart anklopfte.

Die Magd sah verwundert den Wirt an. Dieser sagte, indem er dem Gast den Rücken zuwendete: »Wir führen keine Speisekarte, es ist nicht Sitte in meinem Gasthof.«

»Diable! So ist Ihr Gasthof eine erbärmliche Banditenkneipe!«, rief der Fremde. »Keine Speisekarte! Seht doch! Nun, so gebt mir ein boeuf à la mode und Spinat à la financière.«

»Wir haben nur Braunkohl und gekochte Schweineknöchel«, sagte der Wirt.

»God dam! Ich werde ein erbärmliches Abendessen haben. Nun, so gebt mir denn Eure Schweineknöchel! Es ist das erste Mal, dass ich dieses noble Gericht verspeise.«

Die Magd wollte sich entfernen, um die Bestellung auszurichten, allein ein Blick auf ihren Herrn hielt sie zurück. Sie setzte stillschweigend den Teller wieder hin und blieb am Fenster stehen. Der Fremde, da er sah, dass sich niemand bemühte, seine Befehle zu erfüllen, schlug nochmals heftig auf den Tisch, indem er rief: »He! Werde ich bald etwas bekommen? Werde ich noch länger warten müssen?«

Auf einen wiederholten Wink des Wirts musste die Magd an den Tisch treten und dem Fremden bemerklich machen, dass das bestellte Gericht erst bezahlt werden müsse, bevor es gebracht würde.

»Sacré dieu!«, schrie der aufgebrachte Gast. »In welche Höhle bin ich geraten? Ist das hierzulande Sitte, dass die Gäste gepfändet werden, bevor sie noch eine Brotkruste im Leib haben? He, Herr Wirt, Sie stehen am Fenster und gucken hinaus! Seien Sie doch so gütig, herzukommen und mir Rede zu stehen.«

Der Wirt wandte sich um, aber er kam nicht näher, sondern schritt zur Tür hinaus. Dies war eine Vorsicht, die er in ähnlichen Fällen beobachtete. An seiner Stelle schickte er seine Frau, und diese erschien auch jetzt, indem sie wie eine Furie auf den Tisch des Fremden zustürzte, und in einem Atemzug rief: »Wie, was unterfängt sich der Herr! Hör ich recht? Er will unseren Gasthof meistern! Ei, wenn man so aussieht, steht einem das Meistern gut. Der Herr hat keinen ganzen Fleck an seinem Rock und will uns Gesetze vorschreiben! Da ist die Tür! Niemand hindert ihn hinauszugehen! Ohne vorhergehende Zahlung aber keine Heringsrippe! O, seht doch! Mancher ist ein Lump, ein Vagabund, und weiß es selbst nicht.«

Diese energische Rede verfehlte auf das Jammerbild, an das sie gerichtet war, ihre Wirkung nicht. Der Fremde ging sofort von der äußersten Frechheit zur kriecherischen Demut über. Er strich sich die wild herabhängenden Haare aus der Stirn und versuchte ein verführerisches Lächeln anzunehmen, indem er zu gleicher Zeit nach der breiten fleischigen Hand der zürnenden Dame griff und sie eilfertig an seine Lippen führte, ehe die Wirtin diesen Akt chevaleresker Zuvorkommenheit verhindern konnte. »Ach«, rief er mit heiserer Stimme, »ich befehle nichts, meine liebe Frau, ich habe viel zu viel Lebensart, um in einem Haus zu befehlen, wo eine so artige und schöne Dame das Regiment führt.«

Die Wirtin sah verwundert auf und wusste nicht, was sie auf eine so plötzliche Änderung der Redeweise ihres Gastes erwidern sollte. Dieser benutzte die Momente der Verblüfftheit, um geschickt seine Hand in die Seitentasche der Dame zu leiten und ihr einige Groschen zu entwenden, die er dort hatte klappern hören, während er wie zufällig an die Tasche rührte. Mit dem eigenen Geld der Wirtin bezahlte er die geforderten Speisen und behielt noch etwas übrig, um eine kräftige Labung in Branntwein zu sich zu nehmen.

»Er wäre auch nicht so grob gewesen, wenn er kein Geld gehabt hätte«, murmelte die Wirtin für sich, als sie sich wieder in die Küche zurückbegab. »Man kann ihm ohne Gefahr borgen, obwohl er aussieht, als ob er nicht den Strick bezahlen könnte, an dem er aufgehängt werden soll.«

Der Fremde hatte kaum eine ihm günstige Stimmung wahrgenommen und zugleich bemerkt, dass die Dame des Hauses nicht unempfindlich für gewisse Aufmerksamkeiten war, als er diesen Weg sofort weiter verfolgte. Er fand sich in der Küche ein, schob einen schmutzigen Burschen von Handlanger auf die Seite und bot der Wirtin das gespaltene Holz an, mit einer Miene und Stellung, als wenn er sie gebeten hätte, ein Paar kostbare Diamant-Ohrringe von ihm anzunehmen. Er hob den Kessel vom Feuer mit einem schmachtenden Blick rückwärts gesendet und rührte den Milchbrei in einer Schüssel mit einem bezaubernden Lächeln und einer Haltung, wie man ein Spazierstöckchen handhabt. Ein solches Wesen war in dem dunklen Raum dieser Dorfküche noch nicht gesehen worden. Die Magd blieb mit offenem Mund im Hintergrund stehen, und der kleine Laufbursche in seiner zerrissenen, grünen Schürze und seinen Holzschuhen versuchte, auf der Türschwelle balancierend, die zierlichen Stellungen des zerlumpten Herrn nachzumachen, indem er vor sich hin kicherte und dem Haushund in die Ohren kniff.

»Ein verwettert schöner Aufenthalt! Ein wahres Feenschloss, dieser Gasthof!«. rief der Fremde, indem er der Wirtin half, eine Kanne Milch in den Brei auszuleeren. »Ich fand in den größten Residenzen Europas kein solches Hotel.«

»Es ist mein Eingebrachtes«, entgegnete die Wirtin. »Mein Mann hatte, als ich ihn heiratete, nichts als Schulden. Die jungen Burschen hier in dieser Gegend pflegen sehr locker zu leben.«

»Ah«, rief der zerlumpte Fremde, indem er wie von Erstaunen ergriffen den Brei umzurühren vergaß, »also dieses reiche Besitztum war Ihre dote?«

»Mein Tod? Wo denkt Er hin? Was soll das heißen – mein Tod?«

»Sacré dieu! Nicht Ihr Tod«, schrie der Fremde. »Ich meine Ihre Aussteuer, Ihre dote, Ihr trousseau! Sie missverstehen mich, Dame. Also eine so reiche Erbin steht vor mir? Ich zweifle nicht, dass man sich um Sie gerissen haben wird, dass Sie sich vor dem Heer der Freier nicht haben retten können, Sie Penelope!«

»Ich heiße Trude.«

»O, welch ein himmlischer Name, Trude! Nenne mir, Welt, einen Namen, der süßer klänge!«

»Der Brei wird nun genug umgerührt sein.«

»So verwendet mich zu einem anderen Dienst, schöne Frau«, rief der Fremde. »Ich sage Ihnen, ich will nun einmal aus Ihrer Nähe nicht weichen.«

»Der Herr ist nicht recht gescheit. So etwas ist gar nicht Mode bei uns. Wie kommt es, dass der Herr in einem so zerlumpten Rock steckt, da er doch so feine Manieren hat?«

»Wie kommt es!«, schrie der Fremde. »Wie kommt es, dass Cäsars Mantel ein Loch hat? Dass Brutus Ellenbogen aus dem Ärmel guckt? Dass Catellinas Rockschöße auseinanderklaffen! Wie kommt es, wie kommt es? Wie kommt vieles in der Welt, was nicht kommen sollte? He! Dîtes moi ça, belle Euphrosine.«

»Gott steh mir bei!«, rief die Wirtin, »wie viel gelehrtes Zeug in einem Atemzug! Will der Herr vielleicht diese Kartoffeln schälen?«

»Gern, mein Engel. Nur her! Ich werde sie schälen und dann nachher an deiner Seite verzehren.«

»Der Herr hat ganz das Ansehen eines Vagabunden, ich kann mir nicht helfen.«

»O, still! Kommen auch so unholde Worte aus so holdem Mund? Ich – ein Vagabund! Ach, wenn Sie wüssten, Dame, wie hart das Schicksal oft die edelsten Naturen verfolgt! Ich sehe eben, dass Sie vortreffliche Würste im Rauchfang haben.«

»Ihr sollt sie kosten. Ich will Euch auch ein Stück Schinken geben. Aber was wollt Ihr eigentlich in unserer Gegend? Mein Mann sagt, Ihr kämet her, um zu betteln. Nehmt Euch in Acht, der Graf ist ein gestrenger Herr und könnte Euch mit Hunden von seinem Hof jagen lassen.«

»Mille tonnerres!«

»Was sagtet Ihr?«

»Ich wollte nur fragen, wie weit es zu dem Schloss ist?«

»Der Laufbursche wird Euch den Weg zeigen. Aber nochmals, nehmt Euch in Acht. Wenn Ihr nicht ein bestimmtes Geschäft dort abzumachen habt.«

»Aber solches habe ich, Dame.«

»Ihr? Ein Geschäft mit dem Grafen?«, rief die Wirtin und schlug ein höhnisches Gelächter auf.

»Knurre nicht, Pudel, zu den heiligsten Tönen!«, rief der Fremde, indem er die geschälten Kartoffeln in einen Napf schüttete. »Ich habe nicht mit dem Grafen, sondern mit seiner Tochter ein Geschäft.«

»Mit seiner Tochter, mit der jungen Gräfin, die jetzt Braut ist?«, rief die Wirtin.

»So ist es, große Königin!«, erwiderte der zerlumpte Gast.

»Nun sehe ich, dass Ihr Spaß treibt«, rief die Wirtin. »Was könntet Ihr mit einer so jungen, reichen und schönen Dame zu sprechen haben? Ihr? Hahaha. Ihr wollt sie anbetteln, weil Ihr gehört habt, dass sie die Wohltätigkeit und Milde selbst ist.«

Der Fremde murmelte etwas in sich hinein, das die Wirtin nicht verstand, dann erhob er sein Haupt und sagte: »Ja, Ihr habt es erraten, Frau, ich will die Mildtätigkeit der Gräfin ansprechen. Man sagt, sie sei ja auch einmal arm und verstoßen gewesen, sie wird wissen, wie weh Elend tut. Übrigens dient eine Verwandte von mir bei ihr als Kammermädchen.«

»Ja«, entgegnete die Wirtin, »es geht ein Gerücht, dass sie von ihrer Stiefmutter grausam verstoßen sei, um die reiche Erbschaft ihr zu entziehen. Allein daran ist kein Wort Wahrheit. Der alte Graf hat es gesagt, und der Pfarrer hat es uns erklärt. Das Mädchen ist auf des Grafen Wunsch in der Einsamkeit erzogen, und das Erbe ist ihr nicht genommen worden. Aber über die großen Herren wird immer Böses gesprochen, und Lügen werden verbreitet.«

»Könnt Ihr mir Euren Buben noch heute Abend mitgeben, um mich zum Schloss zu führen?«, fragte der Fremde, indem er die Erklärung der Wirtin überhörte.

»Noch heute Abend? Da werdet Ihr niemand von der Herrschaft zu sehen bekommen.«

»Wer weiß. Ich will einen Versuch machen. Es ist noch nicht Nacht.«

»Nun, meinethalben«, rief die Wirtin. »Klaus, zieh deine Frießjacke an und bringe den Herrn auf dem Fußpfad hinauf. Da könnt ihr vor Dunkelwerden noch oben sein. Ruf dem Hundewärter zu, dass er die Bestien zurückhält und mach das Feldtor hübsch sorgsam hinter dir zu. Neulich kam der Schlossvogt und zankte, dass wir es offen gelassen hätten.«

Der Fremde machte sich mit seinem Führer auf den Weg. Als er den Gasthof aus dem Blickfeld hatte, lief er eilig, sodass der Knabe ihm kaum folgen konnte. Als er die Höhe überschritt, erschien seine lange, dünne Gestalt, in dem flatternden Röckchen, gegen den dunkelnden Abendhimmel wie ein unheimlicher Schatten, der schnell und scheu über die Erde huscht, fürchtend, dass das wiederkehrende Licht ihn erreiche, bevor er seine dunkle Grabeshöhle wieder betreten hatte. Als die Wanderer aus einer kleinen Waldung hervortraten und die Zinnen des alten Schlosses plötzlich vor ihnen standen, streckte der Fremde die langen, dürren Arme dorthin aus und ließ einen bangen, heulenden Laut durch die einsamen Lüfte schallen.

»Hier sind wir am Feldtor«, rief der Führer, ein niedriges Gitter öffnend. »Bleibt hier stehen, Herr, denn ich muss den Wächter anrufen, dass er die Hunde zurückhält.«

»Tu das, süßer Knabe!«, rief der Fremde und blieb, sein Röckchen fester knöpfend, zitternd vor Frost stehen, indem er verlangend und mit starrem Blick in die hohen Fenster des Schlosses aufschaute.

Der Knabe kam zurück und sagte: »Die Hunde sind nicht freigegeben, weil der Graf und die Gräfin von ihrem Ritt noch nicht heimgekommen sind. Ah, dort den Hügel herab, vom Meer her kommen sie.«

Der Fremde wandte sich hin und erblickte die Gestalten der Reitenden, wie sie sich dem Schloss näherten. Er fasste krampfhaft den Arm des Knaben, und flüsterte: »Kann ich nicht irgendwo stehen, wo ich sie vorbeikommen sehe?«

»Stellt Euch dort in den Torweg. Dort müssen sie durch«, entgegnete der Führer. »Aber, Ihr dürft den Pferden nicht zu nahekommen, sonst scheuen sie vor Euch. Und dann müsst Ihr schnell zurückkehren, denn die Hunde werden gleich darauf freigelassen.«

Der Fremde schlüpfte, ohne auf die letzten Worte zu hören, eilig in den bezeichneten Torweg.