Review: Tageslicht
Torsten Rybka
Tageslicht
Eine Horror-Kurzgeschichte
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 23. Oktober 2006
»Leben? Du willst so leben … wie früher?«
Eine Faust traf Helmut mitten ins Gesicht, die Wucht des Schlages schleuderte ihn durch den Raum.
»Leben, wieder als Mensch? So wie früher? Arbeiten … nach Hause kommen … Familie haben …? Das kannst du vergessen!«
»Aber …«
»Was aber? Nichts aber!«, zischte Helmuts Gegenüber.
Dieser war einen Kopf größer und weitaus älter. Mit seiner tief vibrierenden Stimme und dem stechenden, unausweichlichen Blick, ließ der Mann keinen Zweifel aufkommen, dass Widerspruch nicht geduldet wurde.
Helmut stand auf und setzte sich auf einen der Stühle, die am runden Tisch in der Mitte des ansonsten leeren Raumes standen.
»Aber ich will wieder menschlich sein. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist alles.«
»Menschlicher willst du sein? Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Nicht erst jetzt. Du wusstest, auf was du dich einlässt.«
Der junge Mann senkte demütig den Kopf. Er wusste, Meinhard hatte recht, er wollte es aber trotzdem probieren, wieder Mensch zu sein. Erinnerungen kamen in Helmut hoch, wie er alles Hab und Gut verloren hatte, allein durch die Stadt gestreift war und auf der Straße gelebt hatte. Eines Tages traf er auf Meinhard. Dieser gab ihm wieder das Gefühl, jemand zu sein. Und so ließ er sich schnell überzeugen, als Meinhard ihm anbot, einen neuen Erdenbürger aus ihm zu machen.
Das war lange her.
»Meinhard, ich will wieder ein ganz normaler Mensch sein!«
»Du weißt ganz genau, dass es unmöglich ist. Also, warum versuchst du, dich mir entgegenzusetzen?«
»Das Leben, das du mir gegeben hast, ist zwar voller Möglichkeiten und keine Frau kann mir widerstehen, doch ist dieses Leben eingegrenzt. Alles kann ich nicht machen.«
Der Ältere setzte sich auf den Tischrand.
»Nun, für alles zahlt man einen Preis, Helmut. Du kannst tun und lassen was du willst, aber eine eigene Familie und wieder normal leben, das ist ausgeschlossen. Es ist dein Preis.«
»Und wenn ich es doch versuche?« Helmut schaute Meinhard mit festem Blick an.
»Versuchen? Denk nicht mal dran. Du weißt, wie es Sandra erging!«
»Sandra?« Helmut erinnerte sich an das lebensbejahende Mädchen. Sie wollte ihren Kopf durchsetzen, ignorierte Meinhards Verbote. Und musste schmerzhaft feststellen, wie sich der Weg in ein altes, bekanntes Leben bei Tageslicht in wenigen Sekunden auflöste.
Helmuts Blick folgte der Kopfbewegung des Älteren und sah das erste Licht durch einen Spalt an den schweren Fenstervorhängen herankriechen.
»Wir reden heute Abend noch einmal darüber. Es ist Zeit zu gehen«, sagte Meinhard und ging mit schnellen Schritten zur Tür.
»Ja, heute Abend …«, murmelte Helmut verträumt und blieb am Tisch sitzen.
Ein kurzer durchdringender Schrei riss Meinhard aus dem Dämmerschlaf. Er wusste sofort, was passiert war.
Heute Abend, wenn er wieder auf Jagd ging, würde der Wind die Asche Helmuts schon längst verweht haben. Meinhard hoffte, der Nächste würde das ihm gebotene neue Leben in vollen Zügen genießen und nicht wieder den übrig gebliebenen Resten seiner Seele Glauben schenken.
Jetzt musste er schlafen.
Tageslicht ist sehr ungesund für einen wie Meinhard.
(tr)