Fantômas – Kapitel 31
Die Rue Messier 22 war ein verkommenes einstöckiges Haus, das einem Winzer gehörte, der selten nach Paris kam. Sie war feucht, schmutzig, verfallen und hätte von oben nach unten saniert werden müssen, wenn sie bewohnbar gemacht werden sollte. Es gab eine lange Folge von sogenannten Bewohnern dieser Bruchbude, dubiose, verruchte Typen, die größtenteils, ohne Miete zu zahlen, gingen, wobei der sich der Hausverwalter nur zu sehr freute, wenn diese gelegentlich ein paar miserable Möbel oder abgenutzte Küchenutensilien hinterließen. Er fand es immer schwieriger, das erbärmliche Haus zu vermieten, und es stand wochenlang unbewohnt da. Aber eines Tages, vor etwa einem Monat, war er erstaunt, als er ein Mietgesuch von jemandem erhielt, das kaum leserlich mit Durand unterzeichnet war. Er war noch mehr erstaunt, als er im Umschlag Banknoten fand, welche die Miete für ein Jahr im Voraus ausmachten. Erfreut über diesen unerwarteten Glücksfall und sich selbst beglückwünschend, erachtete er es nicht mehr für notwendig, das Haus auf eigene Kosten zu reparieren – jetzt, da er einen Mieter und einen guten noch dazu für mindestens zwölf Monate gewonnen hatte. Der Hausverwalter schickte unverzüglich eine Quittung an diesen Durand mit den Schlüsseln und dachte nicht mehr über die Sache nach.
Im ersten Stock dieser armseligen Behausung waren im ersten Zimmer ein paar minderwertige Möbel aufgestellt worden; ein schäbiges Kanapee, ein ebenso schäbiger Sessel, ein paar Rohrstühle und ein Tisch zum Kartenspielen. Auf dem Tisch standen eine Teekanne, ein kleiner Wasserkessel über einem Spirituskocher und ein paar Tassen und kleine Kuchen. Eine rauchige Lampe warf ein schwaches Licht über dieses deprimierende Innere. Eine Handvoll Kohle schwelte im zerbrochenen Feuerrost.
An diesem 18. Dezember richtete sich Lady Beltham in dieser erbärmlichen Umgebung ein.
Die Dame von Welt war noch blasser als sonst und ihre Augen strahlten mit einem seltsamen Glanz. Dass sie unter der akutesten und fiebrigsten nervösen Erregung litt, war ein Indiz dafür, dass sie ihre Hände immer wieder an ihr Herz legte, als ob die Gewalt des Pochens unerträglich wäre, und für die rastlose Art und Weise, wie sie den Raum durchlief, indem sie bei jedem zweiten Schritt anhielt, um darauf zu hören, dass irgendein Geräusch sie durch die Stille der Nacht erreichte. Einmal trat sie schnell von der Mitte des Raumes zur Wand gegenüber der Tür, die sich zur Treppe hin öffnen ließ. Sie stieß die halb offene Tür eines kleinen Schranks an und murmelte »leise« und machte eine warnende Bewegung mit den Händen, als ob sie jemanden ansprach, der dort versteckt war. Dann ging sie wieder weiter, sank auf das Sofa und drückte ihre Hände gegen ihre pochenden Schläfen.
»Noch niemand!«, murmelte sie kurz darauf. »Oh, ich würde zehn Jahre meines Lebens dafür geben …! Ist wirklich alles verloren?« Ihre Blicke wanderten durch den Raum. »Was für ein abstoßender, schmutziger Ort!« Erneut stand sie auf und ging durch den Raum. Durch die verdreckten Fensterscheiben konnte sie nur eine lange Reihe von Dächern und Schornsteinen sehen, die zum Himmel ragten. »Oh, diese schwarzen Dächer, diese schrecklichen schwarzen Dächer!«, murmelte sie. Das dürftige Licht im dem trostlosen Raum wurde immer düsterer. Lady Beltham drehte den Docht der Lampe auf. Als sie das tat, nahm sie ein Geräusch wahr und blieb stehen. »Kann er das sein?«, rief sie aus und eilte zur Tür. »Schritte – die eines Mannes!«
Im nächsten Moment war sie sich sicher. Jemand stolperte in den Gang darunter, kam langsam die Treppe hinauf, war auf dem Treppenabsatz. Lady Beltham zog sich auf das Sofa zurück und sank darauf, drehte ihren Rücken zur Tür und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
»Valgrand!«
*
Valgrand war ein Mann mit einer Leidenschaft für Abenteuer. Aber beständige Erfolge in seinen Liebeleien hatten ihn hochnäsig gemacht. Nun war es nur noch das absolut Neue, was ihn ansprechen konnte. Es konnte sicherlich keine Frage sein, dass die Frau, die ihm die vorliegende Einladung geschickt hatte, alles andere als eine gewöhnliche war! Außerdem war es nicht nur irgendeine Frau, die ihn gebeten hatte, diese Verabredung unter dem äußeren Erscheinungsbild von Gurn zu befolgen, sondern die einzige Frau, in deren Herzen der Mörder die größte Abscheu hervorrufen sollte, die Witwe des Mannes, den Gurn ermordet hatte. Wie sollte er sich verhalten, wenn er mit ihr ins Gespräch kam? Das war es, was den Schauspieler beschäftigte, als er das Theater verließ und aus dem Taxi stieg, bevor er sein Ziel erreichte.
Valgrand kam langsam und mit geübtem Blick für die Wirkung in den Raum. Er warf seinen Umhang und seinen Hut theatralisch auf den Sessel und ging auf Lady Beltham zu, die immer noch bewegungslos mit ihrem Gesicht in den Händen saß.
»Ich bin gekommen!«, sagte er in tiefen Tönen.
Lady Beltham äußerte einen kleinen Ausruf wie eine Überraschung und schien sich noch ängstlicher vor ihm zu verstecken.
»Seltsam!«, dachte Valgrand. »Sie scheint wirklich verärgert zu sein; was soll ich ihr sagen, frage ich mich?«
Aber Lady Beltham unternahm große Anstrengungen, erhob sich, sah den Schauspieler mit überanstrengten Augen an und versuchte dennoch, ein Lächeln zu erzwingen.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Monsieur«, murmelte sie.
»Es liegt nicht bei Ihnen, Madame, sich zu bedanken«, antwortete Valgrand überwältigend. »Ganz im Gegenteil, ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie mich eingeladen haben. Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht früher gekommen bin. Aber Verzögerungen, die bei einer Premiere auftreten, sind unvermeidlich. Aber Ihnen ist kalt«, unterbrach er, denn Lady Beltham zitterte.
»Ja, so ist es«, sagte sie fast unhörbar und zog sich mechanisch einen Schal über die Schultern.
Valgrand stand da und betrachtete jedes Detail des schmutzigen Raumes, in dem er sich mit dieser Frau befand, deren Reichtum, Geschmack und prächtige Villa in Neuilly berüchtigt waren.
Ich muss dieses Geheimnis aufklären, dachte er, während er zum Fenster schritt, um nachzusehen, dass es geschlossen war, und suchte vergeblich nach ein wenig Kohle, um das Feuer zu entfachen. Während er so beschäftigt war, stand auch Lady Beltham auf, ging zum Tisch und goss zwei Tassen Tee ein.
»Vielleicht wird uns das erwärmen, wenn es nichts Besseres gibt«, sagte sie und bemühte sich, freundlicher zu wirken. »Ich fürchte, er ist ziemlich stark, Monsieur Valgrand. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus?« Mit einer Hand, die zitterte, als ob sie ein schweres Gewicht tragen würde, brachte sie eine der Tassen zu ihrem Gast.
»Tee verstimmt mich nie, Madame«, antwortete Valgrand, als er die Tasse nahm. »In der Tat, ich mag ihn.« Er kam an den Tisch und hob das mit Feinzucker gefüllte Gefäß an und machte zuerst so, als ob er etwas davon in ihre Tasse füllen wollte.
»Danke, ich nehme nie Zucker zum Tee«, sagte sie.
Valgrand machte eine kleine Grimasse. »Ich bewundere Sie, aber ich werde es Ihnen nicht nachmachen«, sagte er und gab kurzerhand eine großzügige Portion Zucker in seine eigene Tasse.
Lady Beltham betrachtete ihn mit trüben Augen.
Während sie ihren Tee tranken, herrschte Schweigen zwischen ihnen. Lady Beltham ging zurück auf das Sofa. Valgrand nahm auf einem Stuhl ganz in ihrer Nähe Platz. Dem Gespräch mangelt es sicherlich an Lebensfreude, dachte er launisch nach. Würde es der Dame gelingen, ihn auf das Niveau der Intelligenz eines unreifen Schuljungen zu reduzieren? Sie schien wirklich schrecklich verärgert zu sein. Er richtete seine Augen auf sie und stellte fest, dass sie vor sich hin blickte.
Man muss hier auf die Psychologie zurückgreifen, sinnierte Valgrand. Ich bin es nicht, für den sich diese reizende Kreatur interessiert, oder sie hätte nicht gewollt, dass ich in diesen Fetzen komme, die mich wie Gurn aussehen lassen. Es ist seine Hülle, in die ich schlüpfen muss! Aber was ist die richtige Vorgehensweise? Gefühlvoll? Oder brutal? Oder soll ich an ihre bekehrende Raserei appellieren und den reumütigen Sünder spielen? Ich riskiere es. Dann mal los! Er stand auf.
Als er sich bewegte, sah sich Lady Beltham um, unruhig, verängstigt, fast qualvoll: Es schien, als ob sie erkannte, dass der Moment gekommen war, in dem außergewöhnliche Dinge geschehen sollten. Valgrand begann zu sprechen, wie er es auf der Bühne tat, indem er zuerst seine Effekthascherei zurückhielt und seine Stimme kontrollierte, um ihr später die volle Wirkung zu verleihen und sie geschickt zu verändern.
»Auf Ihre Einladung hin, Madame, hat der Gefangene Gurn seine Fesseln gesprengt, die Tür seiner Zelle durchbrochen und seine Gefängnismauern erklettert, indem er über jedes Hindernis triumphierte, mit dem einzigen Zweck, zu Ihnen zu kommen. Er kommt …«
Er trat einen Schritt näher an sie heran.
Lady Beltham stand ihm mit einer Geste des Schreckens gegenüber.
»Nicht! Nicht! Bitte sag nichts mehr!«, murmelte sie.
»Ich bin auf dem Weg zum Sarkasmus«, sagte Valgrand zu sich selbst. »Versuchen wir es mit einem anderen Lockmittel.« Als ob er einen Teil wiederholt, sagte er dramatisch: »Hat sich dein wohltätiges Herz der schuldigen Seele zugewandt, die du vor der Übertretung retten wollten? Die Männer sagen, du bist eine so große Dame, so gut, so nah am Himmel!«
Wieder hob Lady Beltham die Hand, um zu protestieren.
»Nicht das! Nicht das«, sagte sie flehentlich. »Oh, das ist Folter. Verschwinde!«
In ihrer Verzweiflung war sie wirklich wunderschön. Aber Valgrand wusste zu viel über Frauen jeden Temperaments, neurotisch, hysterisch und viele andere. Nicht zu glauben, dass er hier nur an einer sentimentalen Komödie teilnahm. Er machte eine grobe Gebärde und legte seine Hand auf Lady Belthams Arm.
»Kennst du mich nicht?«, sagte er grob. »Ich bin Gurn! Ich werde dich bis ins Herz treffen!« Er versuchte, sie an sich zu reißen.
Aber diesmal warf Lady Beltham ihn mit der Gewalt der Verzweiflung von sich. »Bleib zurück! Du Rohling«, schrie sie, in einer Tonart, dass es keinen Zweifel gab.
Valgrand prallte entsetzt zurück und blieb in der Mitte des Raumes still, während Lady Beltham zur Wand ging, die am weitesten von ihm entfernt war, und sich an sie lehnte, um sich zu stützen.
»Hören Sie, Madame«, begann Valgrand in sanften Tönen, die dazu führten, dass Lady Beltham versuchte, ihre Emotionen zu kontrollieren und einige schwache Worte der Entschuldigung murmelte. »Natürlich wissen Sie, dass ich Valgrand bin, Valgrand der Schauspieler; ich werde mich dafür entschuldigen, dass ich so zu Ihnen gekommen bin, aber ich habe eine kleine Rechtfertigung in Ihrer Nachricht vorgefunden!«
»Meine Notiz?«, murmelte sie. »Oh, ja, ich habe sie vergessen!«
Valgrand fuhr fort, anscheinend sich zu sammeln. »Sie haben Ihre Stärke überschätzt, und jetzt finden Sie die Ähnlichkeit vielleicht zu erschreckend? Haben Sie keine Angst. Aber Ihr Brief kam zu mir wie ein heilender Balsam auf einer zitternden Wunde. Wochenlang, lange Wochen …« Der Schauspieler hielt inne und rieb sich mechanisch die Augen. Es ist seltsam, dachte er, aber ich fühle mich immer mehr geneigt, einzuschlafen, als zu lieben. Er schüttelte sein wahren Verlangen nach Schlaf ab und begann von vorn. »Ich liebe Euch seit dem Tag, an dem ich Euch zum ersten Mal sah. Ich liebe Euch mit einer Intensität …«
Für einige Augenblicke hatte Lady Beltham ihn mit ruhiger Miene und weniger feindseligen Augen angesehen. Der alte Schwerenöter bemerkte es und unternahm große Anstrengungen, um seine unangebrachte Schläfrigkeit zu überwinden.
»Wie soll ich schweigen, wenn der Himmel endlich im Begriff ist, den innigsten Wunsch meines Herzens zu erfüllen? Ich knie vor Euch nieder, da ich vor Liebe in Flammen stehe.«
Valgrand fiel auf die Knie. Lady Beltham erhob sich und hörte zu. In der Ferne schlug eine Uhr vier.
»Oh, ich kann es nicht mehr ertragen!«, rief sie stotternd. »Ich kann es nicht mehr ertragen! Hört zu, vier Uhr! Nein, nein, nein! Es ist zu viel, zu viel für mich!« Die Frau schien völlig verzweifelt zu sein. Sie schritt den Raum auf und ab wie ein eingesperrtes Tier. Dann kam sie Valgrand nahe und sah ihn mit großem Mitleid in ihren Augen an. »Geht, Monsieur, wenn Ihr an Gott glaubt, geht weg! Geht so schnell Ihr könnt!«
Valgrand kam auf die Beine. Sein Kopf war schwer, er hatte den unwiderstehlichen Wunsch, seinen Mund zu halten und einfach zu bleiben, wo er war. Teils aus Galanterie, teils aus dem Wunsch, sich nicht zu bewegen, murmelte er, nicht ohne eine gewisse Geschicklichkeit: »Ich glaube nur an den Gott der Liebe, Madame, und er bittet mich zu bleiben!«
Vergeblich unternahm Lady Beltham alle Anstrengungen, den Schauspieler aufzurütteln und ihn zum Weggehen zu bewegen. Vergeblich waren all ihre verzweifelten Bitten an ihn, zu gehen.
»Ich werde bleiben«, war alles, was er sagte. Er fiel schwer auf das Kanapee an der Seite von Lady Beltham und versuchte mechanisch, seinen Arm um sie zu legen.
»Hören Sie zu!«, begann sie und befreite sich von ihm: »In Gottes Namen müssen Sie … Und doch kann ich es Ihnen nicht sagen! Oh, es ist schrecklich! Ich werde verrückt! Wie soll ich mich entscheiden! Was soll ich tun? Welche …? Oh, gehen Sie … gehen Sie … gehen Sie! Es gibt keine Minute zu verlieren!«
»Ich werde bleiben«, sagte Valgrand noch einmal. Diese überwältigende Schläfrigkeit gewann ihn so schnell, dass er nur noch einen Wunsch nach Schlaf hatte! Sicherlich war dies eine seltsame Einstellung und auch eine unglückliche Art eines Liebhabers!
Lady Beltham beendete ihren Schwall von Appellen und sah den Schauspieler an, der neben ihr zusammengesunken war. Plötzlich fuhr sie hoch und hörte ein leichtes Geräusch, das aus dem Treppenhaus kam. Lady Beltham stand steif und starr da und fiel dann auf die Knie.
»Oh! Es ist alles vorbei!«, schluchzte sie.
Trotz seiner überwältigenden Sehnsucht nach Schlaf kam Valgrand plötzlich zu sich. Zwei schwere Hände fielen auf seine Schulter, dann wurden seine Arme nach hinten gezogen und seine Handgelenke schnell zusammengebunden.
»Gütiger Gott!«, rief er überrascht und drehte sich schnell um. Zwei Männer standen vor ihm, alte Soldaten wie sie aussahen, in dunklen Uniformen, die nur durch den Glanz der Metallknöpfe aufgelockert wurden. Er wollte mehr sagen, aber einer der Männer legte seine Hand auf seine Lippen.
»Still!«, sagte er entschieden.
Valgrand unternahm hektische Anstrengungen, um zu verhindern, dass er selbst stürzt.
»Was bedeutet das? Lasst mich los! Welches Recht …«
Die beiden Männer begannen, ihn sanft wegzuschleppen.
»Komm schon«, sagte einer von ihnen in seinem Ohr. «Die Zeit ist vorbei. Sei nicht so stur.«
»Außerdem ist es ziemlich sinnlos, Widerstand zu leisten, Gurn«, fügte der andere herzlos hinzu. »Nichts auf der Welt könnte …«
»Ich verstehe nicht«, protestierte Valgrand schwach. »Wer sind Sie denn? Und warum nennen Sie mich Gurn?«
»Lass mich ausreden«, knurrte einer der Männer gereizt. »Du weißt, dass wir ein schreckliches Risiko eingehen, wenn es darum geht, dich aus dem Gefängnis zu holen und hierher zu bringen, wenn du mit dem Kaplan zusammen sein sollst. Du hast geschworen, dass du dich anständig verhalten und mit uns zurückkehren würdest, wenn es dir gesagt wird. Jetzt musst du dein Versprechen halten.«
»Die Dame hat uns gut bezahlt, um dir eine Stunde mit ihr zu geben«, stellte der andere Mann ein, »aber du hattest mehr als anderthalb Stunden. Wir müssen uns um unsere Kerle und unsere Probleme kümmern. Also, komm schon, Gurn, und lass den Unsinn.«
Valgrand, der hart gegen seine überwältigende Schläfrigkeit kämpfte, begann, ein vages Verständnis dafür zu entwickeln, was geschah. Er erkannte die Uniformen und vermutete, dass die Männer Gefängniswärter waren.
»Gütiger Gott!«, rief er leise aus, »die Narren denken, ich bin Gurn! Aber ich bin nicht Gurn! Fragt …« Er warf einen verzweifelten Blick auf Lady Beltham, die während der ganzen schrecklichen Szene in einer Ecke des Zimmers auf den Knien verharrte, stumm vor Qualen, anscheinend
taub und zu Stein geworden. »Sagen Sie es ihnen, Madame«, flehte er sie an. »Oh, Gott schütze mich!« Aber die Aufseher schleppten ihn trotzdem zur Tür. Durch eine herkulische Anstrengung taumelte er mit ihnen in die Mitte des Raumes zurück. »Ich bin nicht Gurn, das sage ich dir«, schrie er. »Ich bin Valgrand, Valgrand, der Schauspieler. Jeder auf der Welt kennt mich. Ihr wisst es auch, aber … Durchsucht mich, ich sage es euch.« Er machte ein Zeichen mit dem Kopf zu seiner linken Seite. « Schaut in meine Brieftasche, mein Name steht drinnen, und ihr werdet auch einen Brief finden; ein Beweis für die Falle, in die ich hineingeraten bin: der Brief von dieser Frau da drüben!«
»Schau lieber nach, Nibet«, sagte ein Wärter zum anderen, und zu Valgrand fügte er hinzu: »Nicht so viel Lärm, Mann! Wollen Sie, dass wir alle erwischt werden?«
Nibet durchsuchte mit schneller Hand Valgrands Taschen. Er fand dort keine Brieftasche. Er zuckte mit den Schultern.
»Außerdem, was ist damit?«, knurrte er. »Wir haben Gurn hierher gebracht, nicht wahr? Nun, wir müssen Gurn wieder zurückbringen. Das ist alles, was ich weiß. Kommt schon!«
Valgrand wurde von der Schläfrigkeit, die ziemlich unwiderstehlich war, niedergeschlagen und von seinen gewalttätigen, aber vergeblichen Bemühungen, den Wärtern zu trotzen, erschöpft; halb geschleift, halb getragen von den beiden Männern. Sein Kopf hing auf seiner Brust, sein Bewusstsein versagte.
Aber noch während sie ihn die Treppe hinunterbrachten, war seine Stimme im halbdunklen Raum darüber zu hören, wo er schwächer und in längeren Abständen brüllte: »Ich bin nicht Gurn! Ich bin nicht Gurn!«
Wieder einmal herrschte Stille im Raum. Nachdem die drei Männer gegangen waren, stand Lady Beltham auf, schwankte zum Fenster, blieb dort stehen und lauschte. Sie hörte ihre Schritte über die Straße gehen und an der Tür ins Gefängnis anhalten. Sie wartete ein paar Minuten, um sicherzustellen, dass sie unbemerkt aus ihrem erstaunlichen Abenteuer entkommen waren, drehte sich dann wieder auf das Kanapee, kämpfte damit, den Kragen ihres Kleides zu lösen, um mehr Luft zu bekommen, zog ein paar tiefe Seufzer und wurde ohnmächtig.
Die Tür gegenüber der Treppe öffnete sich langsam. Lautlos tauchte Gurn aus der Dunkelheit auf und ging zu Lady Beltham. Der Mörder warf sich zu ihren Füßen, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und drückte ihre Hände in seine.
»Maud!«, rief er. »Maud!«
Sie antwortete nicht. Er suchte im Raum nach etwas, das sie wiederbeleben konnte. Gegenwärtig kam sie jedoch ohne Hilfe wieder zum Bewusstsein und seufzte schwach. Ihr Geliebter eilte zu ihr.
»Oh, Gurn«, murmelte sie und legte ihre weiße Hand auf den Hals des armen Teufels. »Du bist es, Liebling! Komm näher zu mir und halte mich in deinen Armen! Es war zu viel für mich! Ich bin fast zusammengebrochen und habe alles erzählt! Ich hätte es nicht mehr ertragen können. Oh, was für ein schrecklicher Moment!« Sie richtete sich plötzlich auf, ihr Gesicht war voller Schrecken. »Hör zu: Ich kann ihn immer noch hören!«
»Versuch, nicht daran zu denken«, flüsterte Gurn und streichelte sie.
»Hast du ihn gehört, wie er immer wieder sagte: »Ich bin nicht Gurn! Ich bin nicht Gurn! Oh, Gott gewähre mir, dass sie das vielleicht nicht herausfinden!«
Gurn selbst war erschüttert vom Schrecken der Handlung, die er mit seiner Geliebten ausgedacht hatte, um diese Auswechslung durch einen anderen für sich selbst zu bewirken. Sie übertraf in Grausamkeit alles, was zuvor geschehen war, und er hatte es nicht gewagt, Nibet den geringsten Hinweis darauf zu geben.
»Die Wärter wurden gut bezahlt«, sagte er, um sie nun zu beruhigen. »Sie würden alles leugnen.« Er zögerte eine Sekunde und fragte dann: »Er hat das Medikament getrunken, nicht wahr?«
Lady Beltham nickte zustimmend.
»Es wird wirken. Es handelte schon: so schnell, dass ich für einen Moment dachte, er würde dort zu meinen Füßen bewusstlos werden!«
Gurn holte tief Luft.
»Maud, wir sind gerettet!«, rief er aus. »Siehst du«, fuhr er fort, »sobald es hell ist und es genug Leute auf der Straße gibt, um uns unbeobachtet unter sie zu mischen, werden wir von hier weggehen. Als du bei ihm warst, habe ich meine anderen Kleider verbrannt, also werde ich diese nehmen, um zu entkommen.« Er hob den Hut und den Umhang auf, welche Valgrand auf den Stuhl geworfen hatte, und wickelte den schweren Umhang um sich. »Das wird mich sicher helfen, meine wahre Identität zu verbergen.«
»Lass uns sofort gehen!« Lady Beltham schrie auf, aber Gurn hielt sie auf.
»Ich muss meinen Schnurrbart loswerden«, sagte er, holte eine Schere aus der Tasche und ging auf einen Spiegel zu, als sie beide plötzlich das deutliche Geräusch der Schritte hörten, die langsam und stetig die Treppe hinaufkamen. Gurn hatte keine Zeit, in sein ehemaliges Versteck zurückzukehren. Alles, was er tun konnte, war, sich in den einen Sessel zu setzen, der sich im Raum befand, und seine Gesichtszüge so gut wie möglich zu verbergen, indem er den Rand des Hutes herunterzog und den Kragen des Umhangs aufschlug, den der Schauspieler vergessen hatte. Der Mann wurde weiß wie ein Laken, aber Lady Beltham schien all ihre Geistesgegenwart und Stärke wiederzuerlangen. Sie war mutig, als sie sich der Gefahr näherte, und eilte zur Tür. Aber obwohl sie versuchte, diese geschlossen zu halten, drehte sie sich langsam in den Scharnieren auf. Eine zaghafte, zurückhaltende Gestalt erschien in der Türöffnung und näherte sich der zurückweichenden Frau.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« Lady Beltham zögerte.
»Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen, Madame«, begann der Mann, »Ich kam zu …« Er sah Gurn und zeigte auf ihn. »Monsieur Valgrand kennt mich gut. Ich bin Charlot, sein Garderobier am Theater. Ich komme zu ihm … ich wollte kurz mit ihm reden … ich bleibe …« Er nahm ein kleines quadratisches Päckchen aus der Tasche. »Monsieur Valgrand ging so schnell los, dass er seine Brieftasche vergaß, und so kam ich, um sie ihm zu bringen.« Der Garderobier versuchte, sich dem Mörder zu nähern, den er als seinen Meister bezeichnete, aber Lady Beltham verharrte in größter Angst zwischen den beiden Männern.
Charlot missverstand ihre Absicht. »Ich bin auch gekommen, um …« Er stockte erneut und flüsterte Lady Beltham zu: »Er spricht nicht. Ist er sehr wütend auf mich, weil ich gekommen bin? Ich bin nicht aus Neugierde gekommen oder um Ihnen Ärger zu machen, Madame. Würden Sie ihn bitten, nicht sehr wütend auf seinen armen alten Charlot zu sein?«
Lady Beltham fühlte sich wieder wie in Ohnmacht gefallen. Sie konnte nur sehr wenig von der Geschwätzigkeit dieses alten Mannes ertragen.
»Gehen Sie, um Himmels willen, gehen Sie«, sagte sie entschieden.
»Ich gehe«, sagte Charlot. »Ich weiß, dass ich im Weg bin, aber ich muss es ihm erklären.« Er erhob seine Stimme und sprach zu Gurn, der ganz still saß und so weit wie möglich in den Schatten des Stuhls eintauchte. »Sie sind nicht sehr wütend auf mich, Monsieur Valgrand, oder?« Keine Antwort bekommend, sah er Lady Beltham entschuldigend an. »Es waren all diese Geschichten, und dann die Straße und das Gefängnis gegenüber: aber vielleicht weißt du es nicht; du siehst, ich habe gestern in der Zeitung gelesen, oder besser gesagt heute Abend, vor ein paar Stunden, dass dieser Mann Gurn, der den reichen englischen Herrn ermordet hat, heute Morgen hingerichtet werden sollte. Und so war ich eher das, was man als unbehaglich bezeichnen könnte. Zuerst wollte ich Monsieur Valgrand nur folgen und auf ihn unten warten, aber ich habe mich verlaufen und bin gerade erst angekommen. ich fand die Tür offen, und da ich nicht wusste, ob er gegangen war oder noch hier war, nahm ich mir die Freiheit, nach oben zu kommen. Aber ich gehe jetzt, ganz ruhig in meinem Kopf, denn er ist hier bei Ihnen zufrieden und glücklich. Und ich bitte um Verzeihung, Madame.« Er richtete eine letzte Bitte an Gurn, wo er saß. »Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, Monsieur Valgrand?« Er seufzte, als keine Antwort kam, und richtete eine erbärmliche kleine Bitte an Lady Beltham. »Sie werden es ihm erklären, Madame, nicht wahr? Er ist ein gütiger Meister, und er wird es verstehen. Man bekommt solche Fantasien, wissen Sie. Aber jetzt werde ich einfach weggehen, ganz einfach unbesorgt, da ich ihn gesehen habe.«
Charlot drehte sich langsam mit herabhängenden Schultern weg. Als er das Fenster passierte, blickte er nach draußen und blieb kurz stehen. Der Tag begann gerade erst anzubrechen, was das blasse Licht der Straßenlaternen noch bunter machte. Aus dem Fenster konnte er einen Blick auf eine Art Plattform an der Ecke des Boulevards Arago, der von der hohen Mauer des Gefängnisses Santé begrenzt wurde. Dieser Ort, der normalerweise verlassen war, war voll von Menschen; ein sich bewegender Mob, der hinter einigen eilig errichteten Barrieren schwärmte und kämpfte. Charlot richtete eine zitternde Hand in plötzlichem Verständnis auf das Spektakel. Er verstand sehr gut, was dies zu bedeuten hatte.
»Um Himmels willen«, rief er, »dort stellen sie sicher das Gerüst auf. Ja, ich kann die Planken und Stützen sehen; es ist die Guillotine! Die exe…«
Die Worte des alten Mannes endeten mit einem plötzlichen Schrei, und fast gleichzeitig gab es einen schweren Schlag.
Charlot fiel mit einem Mal nach hinten wie ein Baumstamm auf den Boden, während Lady Beltham vor Schreck zurückschreckte und ihre Fäuste zusammendrückte, um zu verhindern, dass sie schrie.
Gurn nutzte die Gelegenheit, die sich bot, als Valgrands treuer Diener so stillstand, hypnotisiert durch das grausame Schauspiel, das draußen vorbereitet wurde, und zog ein Messer aus seiner Tasche. Auf den unglücklichen alten Mann springend, stieß er die Klinge bis zum Anschlag in dessen Hals.
Charlot lag ausgestreckt und starr, die Waffe blieb in der Wunde und stoppte den Blutfluss.
Lady Beltham starrte das Opfer entsetzt an, aber Gurn packte sie grob am Arm.
Ohne sich zu bemühen, das Aussehen seines Gesichts zu verändern, aber entsetzt über die Tragödien, die in dieser schrecklichen Nacht in so grauenhafterer und rascher Folge aufeinander folgten, zog Gurn die halb schwach gewordene Frau zu sich und eilte mit ihr davon.
»Komm schnell!«, murmelte er heiser. »Lass uns von hier verschwinden!«