Fantômas – Kapitel 30
Anmerkung: Das neue Cover stellte uns Markus Lawo zur Verfügung. Dafür gilt ihm unser Dank.
Der letzte Vorhang bei der Uraufführung des neuen Dramas im Grand Treteau war gefallen.
Die Nacht war ein langer Triumph für Valgrand gewesen, und obwohl es sehr spät war, hatte sich die Baronne de Vibray, die sich als liebste Freundin des großen Tragikers bezeichnete, hinter die Kulissen geschlichen, um ihm Lob und Glückwünsche auszusprechen und einen kleinen eigenen Triumph zu feiern, indem sie ihre Freunde dem Helden der Stunde vorstellte. Vergeblich hatte Charlot, der alte Garderobier, versucht, ihr Eindringen in die Garderobe seines Herrn zu verhindern. Er war kein Beleg für ihre Beharrlichkeit, und schon lange war sie mit dem stolzen Lächeln eines Generals, der in eine eroberte Stadt eindrang, in den Raum gestürzt. Der Comte de Baral, ein großer junger Mann mit einem Monokel, folgte ihr dicht auf den Fersen.
»Würden Sie uns bitte anmelden«, sagte er zum Garderobier.
Charlot zögerte einen Moment lang überrascht, dann brach er in flüchtige Erklärungen aus. »Monsieur Valgrand ist noch nicht da. Was, Sie wussten es nicht? Am Ende der Aufführung hat der Minister für öffentlichen Unterricht ihn gebeten, ihm beglückwünschen zu dürfen! Das ist eine große Ehre, und es ist das zweite Mal, dass es an Monsieur Valgrand weitergegeben wurde.«
In der Zwischenzeit streiften die beiden anderen Damen der Gesellschaft durch die Garderobe: Madame Simone Holbord, Frau eines Colonel der Marine, der sich im Kongo mit Ruhm ausgezeichnet hatte, und die Comtesse Marcelline de Baral.
»Wie aufregend die Garderobe eines Schauspielers ist«, rief Madame Holbord aus und inspizierte alles im Raum durch ihre Brille.
»Sieh dir diese süßen kleinen Bürsten an! Ich nehme an, er benutzt sie beim Schminken? Und, oh, meine Liebe! Es gibt in der Tat drei Arten von Rouge!«
Die Komtess de Baral war fasziniert von den Fotos, welche die Wände zierten.
Dem bewundernswerten Valgrand von einer Kollegin, las sie in Ehrfurcht gebietenden Tönen. »Komm und schau, Liebes, es ist von Sarah Bernhardt unterschrieben! Und hör dir das an: In Buenos Ayres, in Melbourne und New York, wo immer ich bin, höre ich das Lob meines Freundes Valgrand!«
»So etwas wie ein Weltenbummler!«, sagte Madame Holbord. »Ich nehme an, er gehört zur Comédie-Française.«
Colonel Holbord redete dazwischen und rief seine Frau.
»Simone, komm und hör dir an, was unser Freund de Baral mir sagt: Es ist wirklich sehr seltsam.«
Die junge Frau gesellte sich zu ihnen.
Der Comte setzte zu ihrem Erstaunen sein Gespräch mit dem Colonel fort: »Sie sind erst kürzlich aus dem Kongo zurückgekehrt und sind nicht über alle unsere Pariser Ereignisse auf dem Laufenden. Sie werden diesen kleinen Moment also nicht bemerkt haben, aber in dem Teil, den er heute Abend kreierte, hat sich Valgrand genau wie Gurn geschminkt, der Mann, der Lord Beltham tötete!«
»Gurn?«, fragte Madame Holbord, welcher der Name nicht viel zu sagen hatte. »Oh, ja, ich glaube, ich habe darüber gelesen: Der Mörder ist entkommen, nicht wahr?«
»Nun, sie haben lange gebraucht, um ihn zu finden«, antwortete der Comte de Baral. »Wie üblich gab die Polizei alle Hoffnung auf, ihn aufzuspüren, bis sie ihn eines Tages, oder besser gesagt in einer Nacht, fanden und verhafteten. Und wo, glauben Sie, war das? Nun, mit Lady Beltham! Ja, wirklich: in ihrem eigenen Haus in Neuilly!«
»Unmöglich!«, rief Simone Holbord. «Arme Frau! Was für ein schrecklicher Schock für sie!«
»Lady Beltham ist eine mutige, würdige und wirklich wohltätige Frau«, sagte die Komtess de Baral. «Sie betete einfach ihren Mann an. Und doch flehte sie herzlich um Gnade für den Mörder – obwohl es ihr nicht gelungen war, sie zu bekommen.«
»Was für eine schreckliche Sache«, sagte Simone Holbord flüchtig. Ihre Beachtung richtete sich auf andere Dinge in diesem eleganten Raum. Ein Stapel von Briefen lag auf einem Schreibtisch. Die unbedachte junge Frau begann, sich die Umschläge anzusehen. «Sieh dir nur diesen Haufen Briefe an!« rief sie. »Wie amüsant! Jeder von ihnen von der Hand einer Frau geschrieben! Ich nehme an, Valgrand bekommt jede Menge Angebote?«
Colonel Holbord sprach mit dem Comte de Baral in einer Ecke des Zimmers weiter.
»Ich bin sehr interessiert an dem, was Sie mir sagen. Was ist dann passiert?«
»Nun, dieser Schurke, Gurn, wurde von der Polizei erkannt, als er Lady Belthams verließ, verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Der Prozess fand vor etwa sechs Wochen vor dem Cour d’assises statt. Ganz Paris ist dabei gewesen, natürlich auch ich! Dieser Mann Gurn ist ein Rohling, aber ein seltsamer Rohling, ziemlich schwer zu definieren; er schwor, dass er Lord Beltham nach einem Streit getötet hatte, praktisch um ihn zu berauben, aber ich hatte den starken Eindruck, dass er lügt.«
»Aber warum sonst hätte er den Mord begehen sollen?«
Der Comte de Baral zuckte mit den Schultern.
»Niemand weiß es«, sagte er: »Politik, vielleicht Nihilismus, oder vielleicht erneute Liebe. Es gab eine Tatsache oder einen Zufall, der es wert war, bemerkt zu werden: Als Lady Beltham nach dem Krieg aus dem Transvaal nach Hause kam, wo sie übrigens hervorragende Arbeit unter den Kranken und Verwundeten leistete, segelte sie mit dem gleichen Boot, das Gurn nach England brachte. Gurn war damals auch ein beliebter Held: Er hatte sich zu Beginn des Krieges freiwillig gemeldet und kam mit den Streifen eines Sergeant und einer Medaille für ausgezeichnetes Dienstverhalten zurück. Können Gurn und Lady Beltham sich kennen gelernt haben? Es ist sicher, dass das Verhalten der Dame während des Prozesses sich als eine Art Hinweis, wenn nicht gar als Skandal erwies. Sie hatte seltsame Zusammenbrüche in Anwesenheit des Mörders, Zusammenbrüche, die auf sehr unterschiedliche Weise erklärt wurden. Einige Leute sagten, dass sie halb verrückt vor Trauer über den Verlust ihres Mannes sei; andere sagten, dass, wenn sie wütend sei, es um jemanden ginge, um diesen vulgären kriminellen Märtyrer oder Komplizen vielleicht. Sie gingen sogar so weit zu behaupten, dass Lady Beltham eine Intrige mit Gurn hatte!«
»Kommen Sie! Kommen Sie!«, protestierte der Colonel. »Eine große Dame wie Lady Beltham, so religiös und so streng? Absurd!«
»Die Leute sagen alles Mögliche«, sagte der Comte de Baral vage. Er wandte sich einem anderen Thema zu. »Wie auch immer, der Fall sorgte für ein gewaltiges Aufsehen; Gurns Verurteilung zum Tode war sehr populär, und der Fall war so typisch Pariser, dass unser Freund Valgrand, der wusste, dass er heute Abend die Rolle des Mörders in dieser Tragödie übernehmen würde, jede Phase des Gurn-Prozesses genau verfolgte, den Mann im Detail studierte und sich buchstäblich mit ihm in dieser Rolle identifizierte. Es war eine kluge Idee. Haben Sie die Stimmung bemerkt, als er auf die Bühne kam?«
»Ja, das habe ich«, sagte der Colonel, »ich fragte mich, was die Aufschreie im ganzen Haus bedeuten.«
»Versuchen Sie, ein Porträt von Gurn in einer der illustrierten Zeitungen zu finden«, sagte der Comte, »und vergleichen Sie es mit … Ah, ich glaube, das ist Valgrand, der kommt!«
Die Baronne de Vibray hatte es leid, sich mit dem alten Garderobier Charlot zu unterhalten, und hatte ihn verlassen, um ihren Platz vor der Garderobe einzunehmen, wo sie mit einem Nicken grüßte und die anderen Schauspieler und Schauspielerinnen anlächelte, während sie auf dem Heimweg vorbeieilten und den Geräuschen am Ende des Ganges lauschten. Bald wurde eine Stimme erkennbar, die Stimme von Valgrand sang einen Refrain aus einer Musikkomödie. Die Baronne de Vibray eilte mit ausgestreckten Händen zu ihm und führte ihn in seine Garderobe.
»Ich möchte Ihnen Monsieur Valgrand vorstellen«, rief sie aus und präsentierte dann die beiden jungen Frauen den sich verbeugenden Schauspieler. »Comtesse Marcelline de Baral, Madame Holbord.«
»Entschuldigen Sie, meine Damen, dass ich Sie warten ließ«, sagte der Schauspieler. »Ich war in einem Gespräch mit dem Minister vertieft. Er war so charmant, so freundlich!« Er wandte sich an die Baronne de Vibray. »Er hat mir die Ehre erwiesen, mir eine Zigarette anzubieten! Eine Reliquie! Charlot!
Charlot! Du musst diese Zigarette in die kleine Kiste stecken, wo all meine Schätze sind!«
»Sie ist schon sehr voll, Monsieur Valgrand«, sagte Charlot bedauerlicherweise.
»Wir dürfen Sie nicht lange aufhalten«, murmelte die Baronne de Vibray. »Sie müssen sehr müde sein.«
Valgrand führte eine kraftlose Hand über seine Stirn.
»Absolut erschöpft!« Dann hob er den Kopf und sah sich die Gäste an. »Was halten Sie von mir?«
Ein Chor der Lobpreisung kam von aller Lippen.
»Prachtvoll!«
»Großartig!«
»Die Vollkommenheit der Kunst!«
»Nein, aber wirklich?«, protestierte Valgrand und wurde von zufriedener Eitelkeit überwältigt. »Sagen Sie mir offen: War es wirklich gut?«
»Sie waren wirklich großartig. Es hätte nicht besser sein können«, rief die Baronne de Vibray begeistert aus.
Die Menge der Gläubigen unterstützte jedes Wort, bis der Künstler überzeugt war, dass ihr Lob ganz aufrichtig war.
»Wie ich gearbeitet habe!«, rief er aus: »Wissen Sie, als die Proben begannen – fragen Sie Charlot, wenn das nicht wahr ist – das Stück existierte einfach nicht!«
»Es gab einfach keins!« Charlot bestärkte ihn darin wie ein Widerhall.
»Existierte nicht«, wiederholte Valgrand. »Nicht einmal mein Part. Es war belanglos, platt! Also nahm ich den Autor zur Seite und sagte: ›Frantz, mein Junge, ich sage dir, was du tun musst. Du kennst die Rede des Anwalts? Absurd! Was soll ich tun, während er diese abliefert? Ich werde die Rede zu meiner eigenen Verteidigung halten, und ich werde etwas davon haben.‹ Und die Gefängnisszene! Einfach großartig, er hatte einen Pfarrer da reingesteckt! Ich sagte zu Frantz: ›Lass den Pfarrer in Ruhe, mein Junge. Was zum Teufel soll ich tun, während er predigt? Einfach gar nichts? Es ist absurd. Gib mir seine Rede! Ich werde mir selbst predigen!‹ Und da hatten wir die Bescherung! Ich will nicht prahlen, aber ich habe wirklich alles getan! Und es war ein Erfolg, was?«
Wieder brach der Chor aus, der von Valgrand unterbrochen wurde, der sein Spiegelbild betrachtete.
»Und mein Make-up, Colonel? Kennen Sie die Geschichte meines Make-ups? Ich habe gehört, dass sie im ganzen Haus darüber gesprochen haben. Bin ich wie Gurn? Was denken Sie denn? Sie haben ihn bei der Verhandlung ganz nah gesehen, Comte. Was denken Sie?«
»Die Ähnlichkeit ist absolut erstaunlich«, sagte der Comte de Baral mit absoluter Ehrlichkeit.
Der Schauspieler streichelte sein Gesicht mit einer mechanischen Bewegung: Eine neue Idee überkam ihn.
»Mein Bart ist ein echter«, rief er aus. »Ich habe ihn absichtlich wachsen lassen.
Ich musste mich kaum entscheiden; ich habe den gleichen Körperbau, den gleichen Typ, das gleiche Profil; es war lächerlich einfach!«
»Geben Sie mir eine Haarlocke von Ihrem Bart für ein Medaillon«, sagte die Baronne de Vibray unverschämt.
Valgrand sah sie an und seufzte tief.
»Noch nicht, noch nicht, liebe Baronne. Es tut mir unendlich leid, aber noch nicht. Vielleicht ein wenig später, warten Sie auf die hundertste Vorstellung.«
»Ich muss auch eine haben«, sagte Simone Holbord.
Und Valgrand antwortete mit großer Erhabenheit: »Ich werde Ihren Namen vormerken lassen, Madame!«
Der Comte de Baral hatte heimlich auf seine Uhr geschaut und einen Ausruf der Überraschung ausgesprochen.
»Meine Güte, es ist recht spät geworden! Und unser großer Künstler muss vom Schlaf überwältigt sein!«
Trotz der höflichen Proteste des Schauspielers konnten sie alle nicht verstehen, dass er sie so schnell gehen ließ. Sie verweilten einige Minuten an der Tür in einem eifrigen, lebhaften Gespräch, schüttelten sich die Hände und tauschten Abschiede sowie Dank und Glückwünsche aus. Dann verstummte der Klang ihrer Schritte auf dem Gang. Die Baronne de Vibray und ihre Freunde verließen das Theater. Valgrand ging zurück in seine Garderobe, schloss die Tür ab und fiel in den niedrigen und bequemen Stuhl, der vor seinem Frisiertisch aufgestellt war.
Er blieb dort für einige Minuten sitzen, richtete sich dann wieder auf und warf einen launischen Blick auf seinen Garderobier, der seine normale Kleidung ausbreitete.
»Häng alles auf, Charlot! Was ist Übermüdung? Der bloße Anblick von Juwelen wie diesen bezaubernden Frauen würde einen von den Toten aufwecken!«
Charlot zuckte mit den Schultern. »Sie werden es nie ernst meinen, Monsieur Valgrand?«
»Himmel, ich hoffe nicht!«, rief der Schauspieler aus. »Ich hoffe nicht, denn wenn es eine Sache gibt, von der man hier unten nie müde wird, ist es die Frau, der unvergleichliche Regenbogen, der dieses Jammertal erhellt!«
»Sie sind sehr poetisch bis in die Nacht«, bemerkte der Garderobier.
»Ich bin ein Liebhaber – verliebt in die Liebe! Oh, Liebe, Liebe! Und zu meiner Zeit, weißt du …« Er machte eine weitreichende, umfassende Geste und kam abrupt auf alltägliche Angelegenheiten zurück. »Komm, hilf mir beim Anziehen.«
Charlot bot ihm ein Bündel von Briefen an, die Valgrand mit sorgloser Hand nahm. Er sah die Umschläge nacheinander sehr amüsiert an.
»Violette Tinte, Monogramme, Kronen, und Parfüm. Sag mal, Charlot, ist das ein Antrag? Worauf wettest du?«
»Sie haben nie etwas anderes«, brummte der Garderobier, »außer Rechnungen.«
»Bist du sicher?«
»Wenn Sie darauf bestehen, wette ich, dass es eine Rechnung ist; dann werden Sie gewinnen«, sagte Charlot.
»Erledigt!«, rief Valgrand. »Hör zu«, und er fing an, den Brief laut zu deklamieren: »Oh, wundersames Genie, eine Blume, die sich jetzt öffnet, … verstanden, Charlot? Noch einer von ihnen!« Er riss einen weiteren Umschlag auf. »Ah-ha! Ein Foto beigefügt, und ich schicke es zurück, wenn das Original nicht nach meinem Geschmack ist!« Er warf sich zurück in seinen Stuhl, um zu lachen. »Wo ist mein Halsband?« Er nahm einen dritten Umschlag. »Was willst du wetten, dass dieser violette Umschlag keinen weiteren Tribut an meine tödliche Schönheit enthält?«
»Ich wette, es ist eine weitere Rechnung«, sagte der Garderobier, »aber Sie werden sicher gewinnen.«
»Das habe ich«, antwortete Valgrand und betonte erneut die geschriebenen Worte: »Wenn Sie versprechen, diskret und ehrlich zu sein, werden Sie es nie bereuen. Bereut man es jemals – auch wenn man seine Versprechen nicht hält?«
»Beim Meineid der Liebenden …« zitierte Charlot.
»Betrunkene Versprechungen!« Valgrand antwortete. »Übrigens, ich sterbe für einen Drink. Gib mir einen Whisky und Soda.« Er stand auf und ging zu dem Tisch, auf dem Charlot Dekanter und Gläser aufgestellt hatte, und wollte das Glas nehmen, das ihm der Garderobier anbot, als ein Klopfen an der Tür das Gespräch zu einem plötzlichen Stillstand brachte. Der Schauspieler runzelte die Stirn. Er wollte nicht von weiteren Besuchern gestört werden. Aber die Neugierde wurde von seinem Ärger überwältigt und er bat Charlot, nachzusehen, wer es sei.
Charlot ging zur Tür und blickte durch eine schmale Öffnung auf den rücksichtslosen Eindringling.
»Schade, dass er sich wegen eines Briefes die Mühe macht!«, knurrte er. »Dringend? Natürlich: Es ist immer dringend!« Er schloss die Tür hinter dem Boten und gab den Brief an Valgrand weiter.
»Eine Frau hat ihn mir gegeben«, sagte er.
Valgrand sah ihn sich an. »Hm! Trauer! Willst du darauf wetten, Charlot?«
»Tiefe Trauer«, sagte Charlot, »dann wette ich, es ist eine Erklärung. Ich erwarte, dass Sie wieder recht haben werden, denn es ist sehr wahrscheinlich ein Bettelbrief. Schwarze Ränder wecken Mitgefühl.«
Valgrand las den Brief, zunächst unbedacht, dann mit größter Aufmerksamkeit. Er erreichte die Unterschrift am Ende und las sie dann wieder vor, diesmal laut, wobei er seine Lektüre mit leichtfertigen Kommentaren unterbrach: »Indem Sie heute Abend die Rolle des Verbrechers in der Tragödie gespielt haben, haben Sie sich zu einem höchst erstaunlichen Abbild von Gurn gemacht, dem Mann, der Lord Beltham ermordet hat. Kommen Sie heute Abend, um zwei Uhr in Ihrem Kostüm in die 22 Rue Messier. Achten Sie darauf, dass Sie nicht gesehen werden, und beeilen Sie sich. Jemand, der Sie liebt, wartet dort auf Sie.«
»Und er ist unterschrieben…?«, fragte der Garderobier.
»Das, mein Junge, werde ich dir nicht verraten«, sagte Valgrand. Er steckte den Brief vorsichtig in sein Notizbuch. »Warum, mein Alter, was hast du vor?«, fügte er hinzu, als der Garderobier auf ihn zukam, um seine Kleider zu nehmen.
»Was ist los?«, rief der Diener aus: »Ich helfe Ihnen nur, Ihre Sachen auszuziehen.«
»Idiot!«, sagte lachend Valgrand. »Hast du nicht verstanden? Gib mir wieder meinen schwarzen Smoking und den Mantel des Übeltäters.«
»Was ist nur los mit Ihnen?«, fragte Charlot mit etwas Unbehagen. »Sicherlich denken Sie nicht daran, zu gehen?«
»Nicht gehen? Warum? In meiner ganzen Karriere als Herzensbrecher hatte ich noch nie zuvor eine solche Gelegenheit!«
»Es könnte ein falsches Spiel sein.«
»Glaub mir, ich weiß es besser. Solche Dinge sind keine Scherze. Außerdem kenne ich die Dame. Man hat mich oft auf sie aufmerksam gemacht. Und bei der Verhandlung … Bei Jupiter, Charlot, sie ist die bezauberndste Frau der Welt: außergewöhnlich schön, unglaublich vornehm, vollkommen bezaubernd!«
»Sie schwärmen wie ein Schuljunge.«
»Umso besser für mich! Ich war vor Müdigkeit halb tot, und jetzt bin ich wieder ich selbst. Beeil dich, Tölpel! Mein Hut! Die Zeit läuft. Wo ist es?«
»Wo ist was?«, fragte der verwirrte Charlot.
»Wieso, dieser Ort«, antwortete Valgrand gereizt, »diese Rue Messier. Schlagen Sie im Adressbuch nach.«
Valgrand stampfte ungeduldig den Raum auf und ab, während Charlot eilig die Seiten des Adressbuches umblätterte und dabei die Silben an der Oberseite jeder einzelnen, als er sie überflog, in alphabetischer Reihenfolge vor sich hinmurmelte.
»J … K … L … M … Ma … Me… Wozu, Monsieur Valgrand …«
»Was ist los?«
»Es ist die Straße, in der sich das Gefängnis befindet!«
»Das Santé? Wo Gurn ist – in der verurteilten Zelle?« Valgrand schob seinen Hut verwegen auf eine Seite. »Und ich habe einen Auftrag im Gefängnis?«
»Nicht genau, aber nicht weit entfernt; genau gegenüber; ja, Nummer 22 muss genau gegenüber sein.«
»Direkt gegenüber dem Gefängnis!«, rief Valgrand fröhlich aus. »Die Wahl des Ortes und der Wunsch, mich in meinem Kostüm als Gurn zu sehen, sind ein Beweis für eine positive Raffinesse des Empfindens! Siehst du? Die Dame, und ich – das Gegenstück zu Gurn – und genau gegenüber, der echte Gurn in seiner Zelle! Schnell, mein Umhang! Mein Stock!«
»Denken Sie nach, Monsieur«, protestierte Charlot: »Es ist absolut absurd! Ein Mann wie Sie …«
»Ein Mann wie ich«, brüllte Valgrand, »würde einen Termin wie diesen einhalten, wenn er auf dem Kopf gehen müsste, um dorthin zu gelangen! Gute Nacht!« Fröhlich singend, schritt Valgrand den Korridor hinunter.
Charlot war vonseiten seines Meisters an diese wilden Launen gewöhnt, denn Valgrand war der kühnste und verlässlichste Wüstling, den man sich vorstellen kann. Aber während er den Müll im Raum zusammenräumte, nachdem Valgrand ihn verlassen hatte, schüttelte die Garderobiere den Kopf.
»Schade, dass es so ist! Er ist ein so großartiger Künstler! Diese Frauen werden ihn zum Narren halten! Er hat nicht mal seine Handschuhe oder seinen Schal genommen!«
Da war ein Klopfen an der Tür zu hören, und der Portier sah hinein.
»Darf ich das Licht ausmachen?«, fragte er. »Ist Monsieur Valgrand weg?«
»Ja«, sagte der Garderobier abwesend, »er ist weg.«
»Eine großartige Nacht«, sprach der Pförtner. »Hast du die letzte Ausgabe des Capitale gesehen, die Elf-Uhr-Ausgabe? Es gibt bereits eine Nachricht von uns. Die Zeitungen verlieren heutzutage keine Zeit mehr. Man sagt, es wäre ein großer Erfolg.«
»Schauen wir es uns an«, meinte der Garderobier und fügte beim Blick über die Notiz hinzu: »Ja, das ist ganz richtig: Monsieur Valgrand hat in seiner letzten Schöpfung seinen größten Triumph errungen.« Er sah beiläufig die Zeitungsartikel durch und brach plötzlich in einen scharfen Ausruf aus. »Mein Gott, das kann nicht sein!«
»Was ist los?«, fragte der Portier.
Charlot zeigte mit einem zitternden Finger auf eine andere Kolumne. »Lies das, Jean, lies das! Sicherlich irre ich mich.«
Der Portier blickte über Charlots Schulter auf die angegebene Stelle.
»Ich sehe nichts darin, es ist wieder diese Gurn-Affäre. Ja, er soll bei Tagesanbruch am 18. hingerichtet werden.«
»Aber das ist heute Morgen – heute Morgen«, rief Charlot aus.
»Vielleicht«, sagte der Portier gleichgültig, »ja, letzte Nacht war die siebzehnte, also ist es jetzt die achtzehnte! Bist du krank, Charlot?«
Charlot hat sich aufgerafft. »Nein, es ist nichts, ich bin nur müde. Du kannst das Licht ausmachen. Ich werde in fünf Minuten aus dem Theater sein. Ich will hier nur ein oder zwei kleine Dinge tun.«
»In Ordnung«, sprach Jean und wandte sich ab. »Schließ die Tür hinter dir, wenn du gehst, falls ich mich schon hingelegt habe.«
Charlot setzte sich auf den Arm eines Stuhls und wischte sich die Stirn. »Ich mag dieses Geschäft nicht«, murmelte er. »Warum zum Teufel wollte er gehen? Was will diese Frau von ihm? Ich bin vielleicht nur ein alter Narr, aber ich weiß, was ich weiß, und es gab schon immer wieder seltsame Geschichten über diesen Beruf.« Er saß da und meditierte, bis eine Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. »Kann ich es wagen, dort herumzugehen und einfach nur herumzuschleichen? Natürlich wird er wütend sein, aber nehmen wir an, dass der Brief ein Köder war und er in eine Falle läuft? Man kann nie wissen. Eine Verabredung in dieser Straße, mit diesem Gefängnis gegenüber, und Gurn, um innerhalb der nächsten Stunde oder so geköpft zu werden?« Der Mann entschied sich, zog eilig Mantel und Hut an und schaltete die elektrische Beleuchtung in der exquisit ausgestatteten Garderobe aus. »Ich gehe!«, sagte er laut. »Wenn ich etwas Verdächtiges sehe oder wenn ich am Ende einer halben Stunde nicht sehe, dass Monsieur Valgrand das Haus verlässt – naja!« Charlot drehte den Schlüssel im Schloss um. »Ja, ich werde gehen. Das wird mir es im Kopf viel einfacher machen!«