Jack Lloyd Folge 32
Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät
Der Vergangenheit den Rücken
»Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier? Ihr habt kein Recht hier zu sein!«, zischte Marvin den Fremden wütend entgegen. Jack, Joe und Elena sahen sich gegenseitig an. Dann deutete Jack mit seiner Waffe auf Dick.
»Dieser da ist ein Mitglied meiner Crew. Und somit bin ich der einzige Richter, der Gewalt hat, ihn zu richten. Das obliegt nicht Euch.«
»Eine eigenartige Sicht der Dinge.« Martin hatte beide Hände gehoben, als Zeichen dafür, dass von ihm keine Gefahr ausgehen würde.
»Ihr meint also, wenn ein Mitglied Eurer Crew in einem Hafen ein Verbrechen begeht, dürfte er nur durch Euch gerichtet werden?«
»Zumindest nicht ohne mein Wissen und meine Zustimmung. Und nun erklärt mir, welches Unrecht wird meinem Steuermann vorgeworfen, wofür man ihn mitten in der Nacht vor einer Schenke verprügelt, ihn in einem Haus festsetzt und ihn dann wie einen Schwerverbrecher durch die Straßen der Stadt treibt?«
Dick konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Offenbar wusste dieser Jack alles. Er hatte keine Ahnung, woher sein Kapitän so genau darüber Bescheid wusste, was ihm widerfahren war, es war ihm auch egal. Zu seinem eigenen Erstaunen musste er sich eingestehen, dass es ihn nicht einmal sonderlich verwunderte. Was viel mehr zählte, war die Frage, wie man diese Situation nun entschärfen konnte. Denn wenn es hart auf hart kam, würden die Freibeuter die Holländer, die Dick gefangen genommen hatten, niedermachen. Das würde zur Folge haben, dass die Stadtwache eingriff und Jack und die Seinen entweder festgesetzt wurden, oder aber die Stadt schleunigst verlassen mussten. Beides nicht gerade förderlich für die Umsetzung ihres Planes. Dick spürte plötzlich wieder Lebensmut in sich wachsen. Offenbar gab es Männer, denen etwas daran lag, dass er diesen Tag überlebte. Also warum sollte er diese Männer enttäuschen?
Marvin, der seinen ersten Schrecken überwunden hatte, trat nun einen Schritt vor und gab Martin, der noch immer mit erhobenen Händen dastand, ein Zeichen, dass er schweigen sollte.
»Er wird des Mordes angeklagt.«
»Eine wirklich schwere Anklage. Wen soll er ermordet haben und wann hat diese Tat stattgefunden?« Jack hatte beide Augenbrauen in die Höhe gezogen. Er war überrascht. Natürlich hatte Dick im Laufe seiner Zeit als Pirat eine Menge Männer getötet. Aber er konnte sich kaum vorstellen, dass es bei dieser Sache um einen dieser Fälle ging. Viel mehr musste hier vor langer Zeit etwas vorgefallen sein. Vielleicht erklärte das auch die eigenartige Stimmung, in der Dick gewesen war, als er die Swallow verlassen hatte. Auf jeden Fall musste Jack wissen, was vorgefallen war. Er würde nicht zulassen, dass diese Männer hier Dick lynchten. Aber wenn ein regulärer Richter den alten Steuermann zum Tode verurteilen würde, nun, dann würde es schwer werden, den Mann rauszuhauen.
Marvin, der offenbar mit jeder Sekunde weiter an Selbstvertrauen gewann, baute sich vor Jack auf und stemmte die Hände in die Hüften. Die Männer um Jack herum hielten ihre Waffen weiterhin auf Martin und dessen Begleiter gerichtet, während Jack, Joe und Elena mit ihren Pistolen den Schritten Marvins gefolgt waren.
»Ich wiederhole meine Frage, Mijnheer. Was geht es Euch an? Selbst wenn Dick van Buren heute ein Mitglied Eurer Crew ist, damals war er es nicht. Unser Recht ist älter als das Eure.«
»Und warum sehe ich dann keinen Richter? Keinen Gerichtssaal, nicht einmal ein echtes Militärtribunal? Alles, was ich sehe, sind ein paar Privatleute, die einen Mann lynchen wollen. Und Eure Rechte mögen so alt sein wie Curacao selbst, es ist mir vollkommen egal, was Ihr als Euer Recht betrachtet. Und jetzt geht zurück zu Euren Männern und gebt meinen Steuermann frei, oder ich verpasse Euch eine Kugel direkt zwischen Eure hässlichen Augen.«
Jack hatte zuerst wirklich vorgehabt, sich die Geschichte der Niederländer anzuhören. Aber das unverschämte Auftreten des Anführers der Gruppe hatte bei ihm einen Sinneswandel bewirkt. Es war ihm mittlerweile egal, was diese Männer Dick vorwarfen. Ihm gefiel schlichtweg die Art nicht, wie Marvin ihn behandelte, und er hatte nicht vor, den Holländer gewähren zu lassen.
»Ihr macht einen Fehler, Mann«, zischte Marvin aufgebracht.
»Tatsächlich?«
»Er ist ein Mörder.«
»Und was seid Ihr, wenn Ihr ihn aufgeknüpft habt, wie es ja offenbar Euer Plan ist?«
»Rächer. Er hat meine Schwester getötet.«
»Das ist nicht wahr!« Jack warf Dick einen kurzen Blick zu. Dann nickte er dem Steuermann zu. Dick sah kurz zu Martin und murmelte leise: »Denke nicht daran, mich zurückzuhalten.«
Dann ging er auf Jack und die anderen Freibeuter zu.
»Seine Schwester war meine Frau. Das war vor zwei halben Ewigkeiten.«
»Es ist egal, wie lange es her ist. An deinen Händen klebt ihr Blut.«
Marvins Blick, den er Dick zuwarf, war hasserfüllt, und Jack meinte auch eine Spur Wahnsinn darin erkennen zu können.
»Ich kam eines Tages spät abends nach Hause und fand sie am Fuß einer Treppe. Sie musste die Treppe hinuntergestürzt sein. An ihrem Kopf war eine große Wunde und ihr Hals war unnatürlich verrenkt.«
»Ein Unfall also?«, fragte Jack.
»Ha! Das hat der Richter damals auch geglaubt. Was seid Ihr doch alle für gutgläubige Menschen!«
»Ein Richter? In dieser Sache ist also bereits Recht gesprochen worden?« Jack sah von Dick zu Marvin. Der Holländer wurde dem jungen Kapitän immer unsympathischer.
»Ein Richter hat ein Urteil verkündet, ja. Recht war das deswegen noch lange nicht«, brummte Marvin wütend.
»Marvin hier und ich waren damals die besten Saufkumpane. An diesem Abend, als meine Maike ihren Unfall hatte, war ich mit ihm in einer Schenke. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, wenn ich bei ihr geblieben wäre, wie sie mich gebeten hatte … Vielleicht …« Dick brach mitten im Satz ab und sein Blick wandte sich in die Ferne. Marvin spuckte aus.
»Was für ein Geschwätz. Du bist besoffen nach Hause gekommen und hast erfahren, dass sie dich verlassen wollte, um mit deinem Bruder ein neues Leben in einer anderen Kolonie anzufangen. Da hast du sie geschlagen. Wenn du sie nicht haben konntest, sollte niemand sie bekommen, nicht wahr?«
Dick sah Marvin ungläubig an.
»Sie soll was?« Langsam drehte der alte Seebär sich zu seinem Bruder um. Ihn beschlich ein grausamer Verdacht. Leise, fast flüsternd fragte er: »Martin?«
Martin war blass geworden wie ein Segeltuch. Er schluckte trocken, als er erkannte, dass sich aller Augen auf ihn gerichtet hatten. Verzweifelt murmelte er: »Ich habe sie geliebt. Und du … Du warst nicht gut genug für sie.«
»Hat sie das auch so gesehen?« Dicks Stimme war fast tonlos. Alles Gefühl schien aus ihm gewichen zu sein.
»Nein! Und der Teufel weiß, welchen Narren sie an dir gefressen hat! Sie hat mich angeschrien, als ich bei ihr war. Sie wollte mich aus dem Haus werfen, dir alles sagen! Ich wollte, dass sie mit mir ein neues Leben beginnt, weit weg von deiner Trinkerei und deiner Hurerei.«
»Sie wollte dich nicht begleiten?«, fragte Marvin sichtlich erstaunt. Sein Blick verriet, dass es auch ihm langsam zu dämmern begann.
»Ich hatte alles geplant. Und ich war mir sicher gewesen, dass sie Andeutungen in diese Richtung gemacht hatte.« Martin versuchte verzweifelt sich zu verteidigen. Schließlich brach er in Tränen aus. Der Mann war dem Zusammenbruch nahe. Marvin warf Dick einen kurzen Seitenblick zu.
»Hast du sie je geschlagen?«
»Ich habe viel Schlechtes getan, Marvin. Und ich habe ihr mit Sicherheit oft wehgetan, wenn ich mit anderen Frauen zusammen war. Aber ich habe sie nicht getötet.«
»Martin?«
Ein herzzerreißendes Schluchzen war für einen Augenblick die einzige Antwort. Dann schrie Martin verzweifelt: »Ich wollte sie doch nur zur Vernunft bringen!«
Dick sandte seinem Bruder einen letzten Blick. Dann nickte Marvin ihm knapp zu und der alte Steuermann gesellte sich zu seinem Kapitän. Ein Blick in Marvins Augen sagte ihm, dass er seinen Bruder nie wiedersehen würde. Als Jack und die Seinen sich auf den Weg zurück zur White Swallow begaben, wünschte Dick, er könnte weinen. Aber er hatte seine Tränen längst aufgebraucht.
Fortsetzung folgt …
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