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Review: Die Totengräber von Großzschocher

Michael Kirchschlager
Die Totengräber von Großzschocher
Eine History-Kurzgeschichte nach einer wahren Begebenheit
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 27. Februar 2009

Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen des Freiherrn Friedrich von Krosigk, seines Amtes Criminalkommissarius Seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm I. in Preußen; in besonderen Diensten  Seiner Exzellenz des Etats- und Kriegsministers sowie des Präsidenten des Ober-AppellationsgerichtsHerrn Freiherr Samuel von Cocceji stehend

Obwohl wir schon im frühen Morgengrauen aufgebrochen waren, wissend, Leipzig nur in straffem Galopp noch vor Einbruch der Nacht erreichen zu können, sollte es dennoch ein Wettlauf mit der Zeit werden, denn waren die Stadttore einmal geschlossen, blieben sie geschlossen, selbst für uns, zwei preußische Offiziere mit zahlreichen Goldtalern im Gepäck. Unaufhörlich, ja beinahe schon erbarmungslos, trieben wir unsere Pferde an, Kosemaul seine Stute, die schwer unter ihm zu tragen hatte, und ich meinen guten Graukopf, der sich mit seiner breiten schwarzen Brust kraftvoll und fast heroisch, einem hellenistischen Schlachtross auf einem jener marmornen Standbilder gleich, den seit Mittag einsetzenden heftigen Sturmwinden entgegenwarf.

Mein Adjutant, dessen hungrigen und dürstenden Blick ich nur allzu gut kannte, biss die Zähne zusammen. »Ick kann noch«, rief er mir zu, »wenn ooch meene Jule (und damit meinte er seine Stute) noch kann.«

»Nun denn«, warf ich zurück und gab dem Graukopf die Sporen. Es folgte ein letzter, kräftezehrender Ritt, als gelte es, dem Teufel eine unschuldige Seele abzujagen.

Ich sah schon die vielen Lichter der berühmten Messe- und Handelsstadt, als sich dem Sturm ein zweiter Kampfgefährte an die Seite stellte, um uns das Vorwärtskommen noch weiter zu erschweren, ja unmöglich zu machen.

Regenwolken zogen heran, die sich, nachdem sie sich des Himmels bemächtigt hatten, sintflutartig über uns ergossen. Diese beiden machtvollen Gegner warfen uns zurück und trieben uns einem Dorf zu, welches südwestlich vor den Mauern Leipzigs lag und unsere einzige Rettung vor den gnadenlosen Naturgewalten zu sein schien.

Inzwischen war das Einreiten in die sichere Stadt aussichtslos geworden, denn die Wächter hatten schon die Glocken geläutet und so das Schließen der Stadttore angekündigt. Der Abend mit seinem matten Licht gab seinen Posten an die dunkle Nacht ab. Zu Regen und Sturm gesellten sich zu allem Unglück Donner und Blitz. Wie wir uns auch mühten, mit jedem Schritt wurden wir langsamer, wurden unsere braven Pferde schwächer.

»Kosemaul«, rief ich meinem Adjutanten zu, »wir versuchen, ins Dorf zu kommen.«

»Jute Idee«, erwiderte dieser. »Ick glowe bald, wir fliejen weg!«

Kurz vor dem Dorf, welches geschützt in einer baumreichen, weiten Aue lag, streiften wir eine kleine, kahlgeschlagene Anhöhe, auf der sich, schier unbegreiflich bei diesem Ungewitter, einige Männer mit Grabscheiten – es konnten nur Totengräber sein – zu schaffen machten. Bedingt durch das Niederfahren einiger kraftvoller, gezackter Blitze hinter dem Hügel, wurden die Männer in ein gespenstisches Licht getaucht, was die ganze Szenerie mit einer gewissen Unheimlichkeit überzog. Fast schien es, als täten sie etwas Verbotenes, denn ihre Bewegungen waren hastig. Sollte uns das Schicksal erneut an einen Ort des Grauens und Verbrechens gezogen haben? Das ohrenbetäubende Krachen des Donners tat ein Übriges, diesen Eindruck noch zu verstärken.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und wollte mich gerade von den im Schlamm grabenden Männern abwenden, als auf der Anhöhe zwei weitere Männer mit einem Sarg erschienen. Schnell traten die anderen beiseite und machten ihnen den Weg frei. Doch statt den Sarg in die Grube zu senken oder einfach fahren zu lassen, hob einer der Männer den Deckel ab und gab damit den beiden Trägern scheinbar das Signal, den Sarg zu drehen und die Leiche einfach hinabfallen zu lassen.

Ich strengte meine Augen an, denn ich glaubte einen abgefeimten Betrug zu sehen, aber schlimmer noch! Aus dem Sarg fiel mehr als nur eine Leiche. Ja, zwei Körper rutschten in die feuchte, schwarze Erde. Und noch etwas glaubte ich zu sehen: Die Körper waren mit Seilen umwunden. Aber der Regen rann mir in die Augen, ließ alles verschwimmen und erschwerte ein genaueres Beobachten. Ich sah zu Kosemaul, der hinter mir ebenfalls zum Stehen gekommen war. Doch statt sich den Totengräbern und ihrem unheimlichen Tun zu widmen, schien er eher in sich zusammengesackt, teilnahmslos zu sein.

Schon wollte ich den guten Graukopf wenden, um den Hügel hinaufzureiten, als ich in der Ferne vor mir ein stattliches Haus gewahrte, aus dessen Innerem uns warmes Licht entgegenströmte. Was sollte ich tun? Ich wählte instinktiv die bequemere Variante und hielt auf das Haus zu. Um die Totengräber, die wahrscheinlich nur ihrem nicht beneidenswerten Gewerbe nachgingen, könnte man sich auch am folgenden Morgen noch kümmern, dachte ich.

Das steinerne Haus, völlig von Regen überzogen und daher von schwarzem, grimmigem Aussehen, trotzte dem Sturm wie ein Fels in der Brandung. Derjenige, der hier keinen Schutz vor den Wassermassen und Sturmwinden suchte, musste ein Dummkopf sein!

Ich ließ die Totengräber mit ihrem ganzen merkwürdigen Treiben hinter mir, drängte der sicheren Unterkunft entgegen und war zufrieden, als uns der Hausherr mit freundlichen Worten willkommen hieß. Ein Glücksumstand, denn zwei durchnässte bewaffnete Männer in schwarzen Mänteln bei diesem Wetter für die Nacht aufzunehmen, heißt, Gottvertrauen zu besitzen. Und tatsächlich, er schien ein gläubiger Mensch zu sein. Allem Anschein nach hatte er das Wiehern unserer Pferde gehört, denn er stand mit einem Mantel und einem breitkrempigen Filzhut bekleidet sowie einer Laterne in der Hand bereits vor der Haustür und schien uns zu erwarten.

»Kommen Sie ruhig herein, meine Herren«, sagte er, »bei diesem Wetter lässt man keinen Hund draußen und wer weiß, wer Euch schickt.«

Der Mann rief nach seiner Frau und einer Magd, die uns beim Ablegen behilflich waren. Er selbst kümmerte sich um unsere Pferde, die er in seinen Pferdestall hinter dem Haus stellte, trockenrieb und mit Hafer abfütterte.

Das Haus zeugte vom hohen Wohlstand seiner Besitzer. Im Eingangsflur bildeten quadratische Sandsteinplatten den Fußboden. Die Wände waren mit unterschiedlichsten dunklen Farben und Mustern bemalt. Hier und da standen Schränke, Truhen und Laden. Die Decken bestanden aus dicken schwarz gestrichenen, verzierten Balken. Das Haus strahlte eine ungemeine Wärme aus, was wohl auch daran lag, dass der Wirt gehörig einheizte. Vom Eingangsflur gingen etliche Türen in die Nebenzimmer ab, so gleich die erste nach rechts in die gute Stube. Hier stand ein grüner Kachelofen, der zu glühen schien. In der Mitte des ansonsten ebenfalls mit Schränken und Truhen vollgestopften Raumes erstreckte sich ein langer massiver Eichentisch. Unsere schweren Mäntel und die Waffen hing der Hausherr in eine sichere kleine Kammer.

Bei unserem Eintritt in die Stube bot er uns sofort ein behagliches Plätzchen am Ofen an. Kosemaul ließ sich das nicht zweimal sagen und fläzte sich hin wie ein grobschlächtiger Bauer. Die Magd war schnell herbei und zog dem pitschnassen Recken aus dem Norden die Stiefel aus.

Kosemaul wurde ziemlich schnell warm mit ihr, wie man so schön sagt, denn sie war ein lustiges und noch dazu ganz dem Geschmack meines Adjutanten entsprechendes vollbusiges, sächsisches Prachtweib.

»Wollen die Herren ein warmes Bier?«, fragte die dagegen eher blasse und um viele Lenze ältere Hausfrau indessen und traf unseren Geschmack vollauf. Während wir uns als Preußen zu erkennen gaben und den Leuten versicherten, dass von uns keine Gefahr drohte, wir natürlich auch für die Unkosten mit klingender Münze aufkommen würden, war auch das letzte, noch verbliebene dünne Eis zwischen uns und der Familie gebrochen. Voller Herzlichkeit quartierten sie mich in ihrem eigenen Schlafgemach, einer Stube im oberen Stock, ein. Kosemaul wurde ein warmes Plätzchen am Küchenofen zurechtgemacht. Anschließend reichten sie uns ein Mahl, das der sächsischen Küche zur Ehre gereichte. Natürlich bestand es aus gebratenen Leipziger Lerchen! Ich hatte zwar schon von diesen weit versandten Delikatessen gehört, selbst aber noch niemals welche gegessen.

»Das Rezept habe ich von meiner Mutter übernommen und die hat es von der Frau Egerin!«, versicherte die Frau des Hauswirtes und gab der Magd einen Klaps auf den Hintern, als sie bemerkte, wie kokett diese den großen, starken, sich ehedem straff nur mit »Kosemaul« vorstellenden Preußen, umgarnte. (Die Egerin, zum besseren Verständnis für meine geschätzten weiblichen Leser, war eine der ersten Verfasserinnen eines Leipziger Kochbuches, als Susanna Bornin 1706 geboren.)

Die Magd, schlicht Eva genannt, trug langes blondes Haar, hatte eindrucksvolle große blaue Augen und war eine durchaus freundliche, herzliche Erscheinung mit wohlproportionierten weiblichen Rundungen. Sie trug, als sie nach den gebratenen Lerchen einen kalten Schweinebraten auftischte, eine braune Kittelschürze und unterließ es auch jetzt nicht, mit Kosemaul zu »liebäugeln« und ihn zum Essen zu animieren. Anscheinend hielt sie Kosemaul für einen gemeinen Soldaten, denn noch nie war es mir untergekommen, dass eine Magd sich so offen, ja beinahe frivol, einem preußischen Offizier genähert hätte. Fast beschlich mich der Verdacht, Kosemaul habe sich mit Absicht nicht vorgestellt als Karl, Freiherr von Kosemaul, Hauptmann Seiner Majestät des Königs in Preußen, der er eigentlich war. Hatte der alte Schlawiner etwa ein Abenteuer vor? Wollte er ein armes, unbedarftes Bauernmädchen ins Unglück stürzen? Ein närrisches Ding, weit unter seinem Stand?

Nun, das sollte nicht meine Sache sein, wenngleich ich das natürlich nicht gutheißen konnte. Ich sah ihn deshalb etwas streng und vorwurfsvoll an.

»Keene Angst, Krosich«, raunte er mir in einem unbeobachteten Augenblick zu. »Ick bin nur freundlich, mehr nich, wennjleich die Kleene een richtich hübsches Ding iss, nich wahr?«

»Ja, das ist sie«, antwortete ich leise. »Bedenkt aber …«

»Ick weeß, ick weeß,« unterbrach mich der »Machdeborjer« Schwerenöter, »awer Krosich, nach all dem Ärjer in Arnscht und so, jönnt mir doch dit kleene Verjnüjen!«

Ich nickte und als sich Eva erneut anschickte dem »Soldaten« Kosemaul warmes Bier nachzuschenken, welches dieser natürlich in gewohnter Manier in berserkerhafter Schnelligkeit hinunterkippte, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen: »Der Herr von Kosemaul ist ein großer Biertrinker und zählt unter den preußischen Junkern zu den stattlichsten Männern überhaupt.«

Erschrocken hätte die gute Eva beinahe das Bier verschüttet. Sie fing sich aber wieder und antwortete, nun jedoch deutlich verhaltener und etwas pikiert: »Ach, wirklich?«

Kosemaul verdrehte die Augen.

Der Abend verlief in gemütlicher Runde. Ich befragte unseren Hausherrn über die unterschiedlichsten Dinge, besonders aber über das gelungene und einmalige Mahl: die Leipziger Lerchen. Dabei stellte sich heraus, dass der Mann und seine Frau – die bezeichnenderweise Meisenkeiser hießen – vom Vogelfang lebten, weshalb sie auch an Lerchen, Finken und anderen Zwitschern keinen Mangel litten. Vor einigen Jahren fingen er und die seinen 400.000 Lerchen allein im Monat Oktober! Kaum zu glauben, dass die Art dieser kleinen am Boden lebenden Vögelchen nach einem solchen Blutverlust überhaupt noch existierte.

»Nein, die Vögel finden genug, werden auch von uns gefüttert. Man darf nur die brütenden Weibchen nicht stören.« So der Vogelfänger. Er selbst sei nur ein Zwischenhändler. Nachdem sie gerupft worden sind, kommen sie umgehend zu den »Lerchenfrauen« ins Salzgässchen nach Leipzig und gelangen von dort aus auf die Tische der reichen Leipziger Bürger oder in Kisten verpackt sogar bis nach Hamburg und noch weiter. Er selbst isst sie am liebsten gebraten, so wie sie heute Abend von seinem Eheweib gemacht worden waren. Glücklicherweise servierte die gute Eva noch kalten Schweinebraten, sonst hätte mein braver Kosemaul wohl den Fang eines ganzen Tages verspeist, denn so richtig viel ist nicht dran an den etwas größeren »Spatzen«.

Der Vogelfänger versprach, uns am nächsten Morgen den von seinem Vater geerbten Vogelherd zu zeigen, der sich gleich in dem kleinen Waldstück hinter dem Haus befand.

Gegen Mitternacht ebbte der Sturm ab und mit ihm Regen und Donner. Wohlgenährt begaben wir uns zu Bett. Kurz bevor mich der Schlaf in seine Arme nahm und Kosemaul, der auf der Küchenbank neben dem Ofen allein und ohne vollbusige »Ewwa« Quartier bezogen hatte, zu schnarchen begann, erschienen mir noch einmal die Totengräber vor Augen. Eine höchst ominöse Sache! Ich beschloss, am nächsten Tag unseren Hauswirt und auch die Magd Eva zu befragen.

Als es zu morgen begann und das erste Licht in die Stube fiel, stand ich auf und stiefelte in die Küche. Dort fand ich einen putzmunteren Kosemaul, der der Eva, die bereits Lerchen rupfte, mit lustigen Geschichten aus seinem Soldatenleben die Zeit vergnügte.

Er war gerade wieder einmal dabei, über die »Jauner von Machdeborch« zu referieren, die ihm den höchst schmeichelhaften Beinamen »Keule« verpasst hatten, was wohl eine Verballhornung auf seine gefürchteten Fausthiebe war, die er nur allzu oft gegen die Köpfe und in die Magengruben der von ihm gestellten Übeltäter sausen ließ.

Der Hausherr nebst Gemahlin ging bereits seit geraumer Zeit in der Scheune seinem Gewerbe nach: Er verbrannte den kleinen, armen Lockvögeln, zumeist Finken, mit einem glühenden Kupferdraht die Hornhäute. Da ich noch nichts gefrühstückt hatte, überkam mich beim Anblick des halbvollen Korbes vor Evas Füßen, aus dem es noch nach warmen, aber schon toten Vogelkörpern roch, ein mulmiges Gefühl.

Eva, die schon etwa fünfzig Sängern a. D. die Federn herausgerissen hatte, lächelte mich unbekümmert an und fragte: »Wollen der Herr von Krosigk ein paar Rühreier? Herr von Kosemaul hat noch ein paar übrig gelassen.«

Ich sah Kosemaul mit übertriebener Bewunderung an.

Aber Evas Gekicher und Kosemauls Grinsen widerlegten das eben Gesagte. Natürlich war rein gar nichts mehr von den Rühreiern da.

»Herr von Krosigk, seid nicht bös’ mit Eurem Adjutanten. Ich habe noch etwas kalte Lerchenpastete für Euch, wie wär’s?«, fragte das sächsische Prachtweib, wischte sich beflissentlich die vielen kleinen Federn von den Fingern und schob sich vorbei an einem staunenden Kosemaul in Richtung Herd, wo ein Topf mit Lerchenpastete stand.

»Nein, Sie kann die Lerchenpastete dort lassen. Sie kann mir aber ein Stück Käse und ein Stück Brot geben sowie etwas Ziegenmilch, falls vorhanden.«

»Sehr gern, der Herr!«, antwortete die Magd und tat, um was ich sie gebeten hatte.

Nachdem ich genüsslich den Käse verzehrt hatte, dabei Kosemaul mit Blicken strafend, was dieser natürlich nicht bemerkte oder zumindest so tat, als würde er es nicht bemerken, fragte ich direkt und ohne Umschweife die Eva, ob sie wisse, welche Bewandtnis es mit den Totengräbern haben könnte.

Erschrocken ließ sie eine halb gerupfte Lerche fallen und griff sich ins Haar. »Um Gottes willen! Haben Sie es Euch denn noch nicht gesagt?«, fragte sie mit dumpfer Stimme.

»Nein, was denn?«

»Hier in Großzschocher wütet eine furchtbare Pestilenz, die viele Menschen umbringt. Die armen Leute fallen hier um wie die Fliegen. Wenn Ihr nachher fortreitet, meidet die Bewohner und macht um den Rest des Dorfes einen großen Bogen! Sonst holt Ihr Euch – mit Verlaub – die Pest auf den Hals! Wir machen es auch so. Keiner vom Hof geht mehr ins Dorf oder spricht mit jemandem. Jeder hat Angst. Wird einer krank, kommen die Totengräber und holen ihn. Sie sagen, sie behandeln ihn, aber keiner steht mehr auf, alle sterben. Man munkelt, die Totengräber seien Hexer und Hexen, aber das ist wohl altes Weibergeschwätz.«

Eva nahm die fallen gelassene Lerche und rupfte den armen Vogel weiter. Kosemaul, der mit zugekniffenen Augen und einem erschreckend ernsten Blick Evas Geschichte gefolgt war, zündete sich schweigend eine Tonpfeife an und begann, ganz entgegen seiner ansonsten sonnigen Natur, eine äußerst furchtbare Totengräbergeschichte zum Besten zu geben.

»Also bei uns in Machdeborch, so hats mir jedenfalls ma eener erzählt, ders awer wissen muss, denn es warn Pfaffe und der war bei der Examination der Malefizperson dabei, der hat erzählt, hier hat een Totengräwer ziemlich vülle Menschen verjiftet! Er soll in den Straßen sone Art von Pulver aus Kröten, Molchen und Schlangen und son Zeuch verstreut ham, awer der Herrjott schickte nen Rejen, sodass dit Zeuch wechjespült wurde. Und dann wollte der jemeine Hundsfott, wie jesacht, alles durchs Einpusten des Satans, dit Pulver unter den Messwein schütten, awer ooch der Plan floch off. Dit Schlimmste awer war, dass er een frisch begrawenes Kindlein wüller ausgrub, seine prinzipalsten Glieder ausschnitt und die danach zu Pulver brannte. Er soll zwarn schlechtes Jewissen jehabt ham, weil das Kind ihn anlächelte, awer Satan drohte ihn mit bösen Scheltworten und so machte er es dann. Daroffhin hat der Totengräwer füll zu tun jehabt.« Kosemaul machte eine kurze Pause, klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie erneut und sagte, zu mir gewandt: »Ick wees Krosich, ihr globt mir dit vielleicht nich, awer, Totengräwern iss nich zu traun, sachte schon meene Mutter und die musste es wissen. Sollte mich nich wundern, wenn die Kerle hier jar Übles spieln. Vielleicht streun die hier ja ooch sone Art Pulver? Wir sollten der Sache ma nachjehn.«

Eva stimmte ihrem Helden zu.

»Ja, so was werden die hier bestimmt auch machen. Was für Verbrecher!«

Mir entschlüpfte ein zurückhaltendes Räuspern. »Und wie flog er auf, der Machdeborjer Totengräber?«, fragte ich Kosemaul, der sinnierend in Evas furchtbaren Korb stierte.

»Die Mutter vom Kindlein jing am Grab vorbei und fand dit offen. Danach meldete sie es dem Majistrat, der dann den Totengräwer examinierte. Dit Kindlein wurde ausjegrawen und dabei befunden, dass man ihm Jehirn, Herz und Lewer ausjenommen hatte. Ick wees nich jenau wanns war, awer in der Folter hat der Kerl dann erzählt, der Satan hätte ihn zu allem ermuntert.«

»Der Satan?« Mir lief es eiskalt über den Rücken.

»Ja, der«, behauptete Kosemaul mit weit aufgerissenen Augen. »Der soll ihm sojar als Ratte erschienen sein!«

Ich sah meinen Freund und Adjutanten nachdenklich an. Der Teufel als Ratte? Einen Hund ließe ich mir ja noch gefallen, aber eine Ratte? Offensichtlich konnte er meine Gedanken lesen, denn er wog mehrfach abwägend wie ein Philosophus sein gewaltiges Haupt hin und her und fuhr fort.

»Der Kerl von einem Totengräwer soll den Toten sojar die kostbarn Totenkleider jeraubt ham. Zum Schluss – ick meine, bevor man ihn selbst zu Pulver machte – hat er dann nur noch jelacht.«

Um der verängstigten Magd eine nicht noch größere Furcht einzujagen, sparte ich mir, meine Totengräbergeschichte zu erzählen, die nun noch abstruser war, als die des braven Kosemaul. Da sie aber für die geschätzte Leserschaft von einigem Interesse sein dürfte, will ich sie hierher setzen:

Sie spielte sich in Plauen im Vogtland ab. Für das Jahr 1633 berichteten einige glaubwürdige Personen, die Totengräber hätten während eines großen Landsterbens unzählig viele Schelmereien getrieben. So hauten sie einer Leiche den Kopf ab, hängten ihn über den Ofen und heizten diesen warm ein. Wollten sie nun einmal viele Leichen haben, so schlug einer der Totengräber mit einer Rute oftmals an den Kopf. So viele Tropfen Blut dann aus dem Schädel flossen, so viele Leichen erhielten sie.

 

Nachdem Kosemaul, der den Totengräbern noch unterstellte, als meisterhafte Hexer und Hexen das schlimme Gewitter gemacht zu haben, seine Erzählung geendigt hatte, erschienen der Vogelfänger und seine Frau in der Küche und brachten schon den ersten Korb mit frisch gefangenen Lerchen herein. Die beiden Eheleute waren vergnügt und munter, so, als kämen sie von einer fröhlichen Ausfahrt zurück und nicht von einem Massenmord, in dessen Verlauf bei annähernder Schätzung zweihundert Vögelchen die Köpfe zerdrückt worden waren.

»Das wird ein guter Tag!«, frohlockte Herr Meisenkeiser und schob den vollen Korb mit Vogelleichen vor Evas Füße. Diese verdrehte die Augen, allein nicht vor Entsetzen über den Anblick der toten Lerchen, sondern über die ihr bevorstehende Mühe des Rupfens.

»Herr von Krosigk, Sie und ihr Herr Adjutant können nun mitkommen. Ich zeige Ihnen jetzt gern meinen Vogelherd!«

»Sehr gern«, antwortete ich und machte mich bereit, eine der ausgefuchstesten, hinterlistigsten Fallen zu begutachten, die sich die Menschheit nur erdenken konnte.

Kosemaul blieb jedoch sitzen. »Ick höre liewer die kleenen Burschen, als dass ich se esse. Wobei se jestern bei der Frau Wirtin janz jut jeschmeckt ham. Awer, Krosich, nemts mir nich krumm, ick bleiwe liewer hier!« Sprachs und grinste breit, dabei der Eva ein unmissverständliches Lächeln und Augengekneife zuspielend.

Ich atmete tief durch und folgte unseren Wirtsleuten, die bereits vorangegangen waren.

Regen und Sturm hatten die Luft gereinigt. Als ich aus dem Haus trat, nahm ich davon einen kräftigen Zug. Die massigen, dunklen Regenwolken des Vortages hatten ihre Kraft verloren und fristeten nur noch als schleierhafte Vorhänge ihr Dasein am Himmel. Auf dem Hof tänzelten bereits unsere Pferde, die sich der großzügigen Pflege unseres Wirtes erfreuten, denn ihre Felle glänzten und aus ihren Mäulern troff es satt.

Nach einigen Minuten Weges kamen wir inmitten des kleinen Wäldchens zu dem sogenannten Vogelherd. Auf einem künstlich angelegten, etwa sechzig Fuß langen und fünfzehn Fuß breiten, ovalen Hügel standen einige zierliche Obstbäumchen im Rund, in deren Äste die Käfige der gequälten Lockvögel hingen, die aufgrund ihrer Schmerzen besonders laut sangen. Inmitten des Schlachtplatzes standen zwei Schlagnetze, eine Art Netzwände, deren Längsenden mit Stäben versteift waren. Zwischen den Netzen hüpften noch ein paar Lockvögelchen umher, denen man die Füße angebunden hatte. Um die Lerchen zusätzlich anzulocken, hatten die gewieften Vogelfänger zwischen den Schlagnetzen weiteres leckeres Lockfutter wie Hanfsamen oder Ebereschenbeeren verstreut.

An einem Ende des Vogelherdes stand das mit Zweigen verkleidete, zweiräumige Vogelfängerhäuschen. In einem der beiden Räume bewahrten die Meisenkeisers die Netze, die Käfige mit den Lockvögeln und sonstige Utensilien auf. Durch kleine Wandöffnungen im zweiten Raum beobachteten sie den Fangplatz. Durch diese Löcher liefen auch die Fäden oder Zugleinen zum Zusammenziehen der beiden Netzwände.

»Sind genug Vögel eingefallen« so erläuterte mir Herr Meisenkeiser diese heimtückische Vorrichtung, »ziehe ich blitzschnell an der Leine und die beiden Schlagnetze klappen zu. Dann springen wir herbei, lösen die Vögel aus dem Garn und drücken ihnen geschwind die Köpfe zusammen.«

Nachdem ich genug gesehen und gehört hatte und mich über diese Art von Falle aufs Höchste verwunderte, fragte ich den Vogelfänger nach den Totengräbern, die ich am letzten Abend bei strömendem Regen gesehen hatte. Ich unterließ es auch nicht, ihm schon zu erzählen, was uns seine Magd mitgeteilt hatte.

»Ja, ja, die Eva hat recht. Bei uns wütet eine furchtbare Krankheit und keiner weiß, was es mit derselben auf sich hat. Aber eine Pest ist es nicht. Trotzdem sterben viele Leute, aber das brauch den edlen Herrn nicht zu beunruhigen. Die Eva ist eben etwas ängstlich. Uns wird es schon nicht treffen. Ich kenne die Totengräberfamilie zwar nicht höchstpersönlich, sie leben erst seit wenigen Monaten bei uns, aber sie werden schon bar jeden Verdachtes sein, auch nur das kleinste Unrecht zu begehen.«

Er machte eine kleine Pause, um dann, weiter beschwichtigend, fortzufahren: »Der edle Herr weiß ja, wie abergläubisch so eine einfache Magd sein kann. Wir sind fromme und gottesfürchtige Leute, Lutherische, und glauben an keine Hexen oder Hexenmeister, schon gar nicht an hexerische Totengräber.«

In diesem Augenblick dachte ich an Kosemaul.

»Ihr habt recht, Herr Meisenkeiser. Wollen wir die Sache ruhen lassen.«

Ich hatte nun genug gehört, auch wollte ich nicht den Schatten der Vergangenheit nachjagen und etwas sehen, was gar nicht existierte. Wahrscheinlich waren es gestern Abend Tote, die aufgrund der schwelenden Krankheit und des üblen Gestanks schnell unter die Erde gebracht werden mussten. Eine einfache Erklärung. Ich ließ es dabei bewenden, kehrte beruhigt zum Haus des Vogelfängers zurück, schnappte Kosemaul und ritt, mit besten Wünschen unserer Hauswirte und dem Abschiedsblick einer etwas traurigen, verlegenen Magd, in Richtung Leipzig davon.

Hier suchten wir uns ein Quartier und besichtigten in den beiden folgenden Tagen die bauwerklichen Schönheiten der weltberühmten Messe- und Handelsstadt. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, hier alles Sehenswerte und Wunderbare zu schildern oder umfänglich zu beschreiben, allein ich empfehle der geschätzten Leserschaft selbst den Besuch dieser großartigen Messestadt.

Während unserer Spaziergänge stießen wir zufälligerweise auf das bereits erwähnte »Salzgässchen«, wo die Lerchenfrauen die kleinen Sänger zum Verzehr feilboten. Kosemaul suchte, und das merkte ich genau, nach Eva, aber ich klopfte ihm nur freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Wisst Ihr, Kosemaul, wenn wir alles gesehen haben, reiten wir noch einmal bei dem Vogler vorbei und nehmen eine Kiste der leckeren Vögelchen mit. Was haltet ihr davon?«

Kosemaul strahlte über das ganze Gesicht, sodass seine gewaltigen Hauer sichtbar wurden. »Eine jute Idee, Krosich, eine jute Idee!«

Doch die »Sache« mit den Totengräbern verfolgte uns bis nach Leipzig. Das Waschweib unseres Leipziger Wirtes brachte nämlich böse Gerüchte vom Markt mit. Danach sollte die Pestilenz in Großzschocher mittlerweile so überhand genommen haben, dass der Ehrbare Rat der Stadt Leipzig den hiesigen Bürgern und Einwohnern unter schwerster Strafe verbot, das Dörfchen aufzusuchen, und so die furchtbare Pestilenz in die Stadt einzuschleppen.

Ein weiteres Gerücht besagte, dass gestern die Weiber der Großzschocher Totengräber in großem Hofstaat und vierspännigen Equipagen in der Stadt die vornehmsten Geschäfte heimsuchten und an Geschmeide und teuersten Stoffen kauften, was ihnen unterkam. Sie, die Totengräber, unehrenhafte Leute, zeigten einen Wohlstand, der den Leipzigern wohl ziemlich aufstieß, denn das Waschweib schloss seine Erzählung mit nicht wenig Genugtuung in der Stimme: »Na, und dann wurde das Gesindel von den Stadtknechten zu den Toren rausgejagt.« Das alles erinnerte mich an die Auswüchse bei den Weibern der Scharfrichter, die es zuweilen ebenso trieben und durch ihren übertriebenen Pomp das Missfallen so vieler Landesherren hervorriefen.

Am letzten Morgen unseres Aufenthaltes in Leipzig frühstückten wir noch ausgiebig, und ritten – trotz Verbotes des Ehrbaren Rates der Stadt Leipzig – was uns eigentlich nicht weiter tangierte, da wir ja keine Bürger oder Einwohner der Stadt waren – in Richtung Südwesten davon.

Ich sah nicht ohne eine gewisse Freude, wie der gute Kosemaul voller Elan und heißblütig, einem ungarischen Husarenoffizier gleich, seine Stute hin und her warf und je näher wir dem pestilenzischen Großzschocher kamen, immer unruhiger wurde, als warte ein feuriges Mädchen auf ihn …

Etwas später tauchte vor uns ein klappriges Pferdegespann, beladen mit einem frisch gehobelten Holzsarg, auf. Vorn saßen zwei Männer – Totengräber.

Der Jüngere von beiden war ein ausgemachter Galgenklöppel, ein Wunder, dass er sein Ende noch nicht in den Eingeweiden von Krähen gefunden hatte. Er war von kräftiger Statur, mittelgroß, hatte kurzes, struppiges, strohblondes Haar und einen sehnigen Hals. Sein Blick war stierig und glasig die grünbraunen Augen, die wie bei einem Irren beständig hin und her blickten. Gewaltverbrecherisch, mörderisch, von einer Art, wie man sie bei den gemeinen Totschlägern findet. Ich habe schon des Öfteren davon gesprochen, Verbrechersignalements auf den ersten Blick zu erkennen; dies war so eine Visage. Ein Totschläger durch und durch. Der primitive Blick, der Augenausdruck; überhaupt sind es die Augen, die den Verbrecher über alle Maßen kennzeichnen. Nicht der Mund, nicht die Nase, und schon gar nicht die Ohren, nein, die Augen verraten den Verbrecher. An den Ohren erkennt man lediglich den Geiz.

Neben ihm saß ein weißhaariger Mann mit einem viel zu großen Kopf, einen Hydrozephalus, wie die Anatomiker sagen würden, offensichtlich sein Vater, ein Onkel oder sein Schwieger, ebenfalls ein Galgenklöppel der übelsten Sorte, wenngleich vielleicht kein Mörder, aber ein Mordkumpan, einer, der Schmiere steht, einer, der beim Vergraben hilft. Weiß wie seine Haare war auch seine Haut, schwammige, weiße Hände, der ganze Kerl sah aus, als wäre er in einen Kalkbottich gefallen. Das Gesicht war voller Fisteln und Narben, das Maul zahnlos.

Als ich an dieser Fuhre vorbeiritt, bemerkte ich neben dem Sarg kauernd noch eine Frau, eine ebenso ausgemachte Verbrecherin, eine »Böse Sieben«, deren verschlagener, dabei gleichzeitig debiler Gesichtsausruck vollständig zu der ganzen Bande passte. Die sollte in großem Hofstaat halb Leipzig leergekauft haben? Wahrlich, in Leipzig kursierte nur ein Gerücht. Das Weib, von blassen Gesichtszügen, hakennasig, ebenso zahnlos wie der alte, weißhäutige Kerl, sah uns teilnahmslos, ja beinahe verächtlich an. Offensichtlich störte sie, dass sie heute wieder arbeiten musste.

Als spürte mein guter Graukopf das Abstößige dieser Fuhre, trabte er, so schnell er konnte, und ohne, dass ich ihn dazu aufgefordert hatte, an der unheimlichen Sippe vorbei, die die Richtung zur Friedhofsanhöhe einschlug.

Kosemaul erging es nicht anders. »Juter Jott, wat war denn dit?«, fragte er mich entsetzt, als wir außerhalb der Rufweite zu diesen Leuten waren. »Wer in die ihre Hände jerät, der tut mir wirklich leid.«

Ich kannte meinen Adjutanten als einen mutigen, verwegenen Draufgänger, aber auch diese »Familie« ließ ihn frösteln. Und fast, als ahne er Böses, gab er mit einem Mal seiner Stute kräftig die Sporen und schoss davon.

 

Das Haus der Meisenkeisers zeigte Trauerflor. Die Fenster waren verschlossen und über der Eingangstür hing ein Totenkranz aus grünen Zweigen und schwarzen Bändern. Hier war jemand gestorben.

Fast auf gleicher Höhe kamen Kosemaul und ich vor dem Haus an. Schon wie in jener Nacht, so hörte uns Herr Meisenkeiser schon von Weitem angaloppiert kommen und auch dieses Mal stand er wieder vor der Haustür. Er hatte Tränen in den Augen und noch ehe wir etwas sagen konnten, schluchzte er: »Die Eva, die Eva ist gestorben! Heute soll sie begraben werden.«

Kosemaul wurde bleich. Der alte Haudegen rang nach Luft. Konnte das denn wirklich sein? Er hatte die »Ewwa« doch erst vor drei Tagen noch lebenslustig und in bester Blüte gesehen und nun sollte sie eine Leiche sein? Unmöglich! »Ick muss die Kleene noch ma seen, koste es, was es wolle!« rief er, wandte sein Pferd und ritt, als gelte es, den Leibhaftigen zu einem Wettrennen herauszufordern, hinter den Totengräbern her.

Die ganze Sache hatte auch mich stutzig gemacht und so säumte ich nicht lange, ließ mir kurz und bündig das Wichtigste erzählen und folgte meinem Adjutanten.

Was der Vogelfänger aussagte, war Folgendes: Kurz nach unserer Abreise nach Leipzig schickte er die Eva ins Dorf, trotz aller ihrer Befürchtungen betreff der Pestilenz, aber es musste etwas von einem Bauern abgeholt werden, was keinen Aufschub duldete. Von diesem Gang kehrte das arme Mädchen nicht mehr zurück. Am folgenden Tag erschien der »Chef« Totengräber, der weißhaarige Alte, und erklärte der Familie Meisenkeiser, dass die Eva sich mit Frieseln und Pusteln im Gesicht und an den Händen bei ihnen eingefunden hätte, sie aber für das arme Kind nicht mehr allzu viel hätten tun können. Sie gaben ihr zur Linderung der Schmerzen noch Verbände und ein paar Tränke ein, mussten aber bedauerlicherweise schon bald den Tod der jungen Magd feststellen. Sie, die Familie Meisenkeiser, dürften sie aufgrund der Pestilenz nicht mehr sehen, müssten aber für die »Leichenkosten« in Höhe eines Goldtalers (!) aufkommen, da die Eva wohl keine Angehörigen oder näheren Freunde hatte. So der alte Meisenkeiser. Dass er keinen Verdacht schöpfte, über so eine haarsträubende Lügengeschichte, verwunderte mich, aber der brave Mann zählte unzweifelhaft zu den sogenannten Philanthropen.

Der gute Graukopf ist ein schneller Läufer und so holte ich Kosemaul noch vor den Totengräbern ein. Die waren bereits auf dem Gottesacker angekommen und schickten sich gerade an, den Sarg mit der Eva in die Erde zu lassen. Aber als sie uns die Anhöhe heraufgaloppieren sahen, ließen sie den Sarg fallen, ergriffen ihre Spaten und hielten sie uns drohend entgegen. Das Weib rannte davon.

Kosemauls Stute bäumte sich vor den Totengräbern auf. »Ick will die Leiche seen!«, schrie er mit einer unüberhörbaren Stentorstimme, die keinen Zweifel aufkommen ließ, dies auch mit aller Macht und Gewalt durchzusetzen.

»Herr, das könnt Ihr nicht«, widersprach kopfschüttelnd der Ältere, »es ist Pestzeit und daher nicht üblich!«

»Dit scheert mich einen Scheiß!« Wie er das gesagt hatte, war er auch schon, trotz seines steifen Beines, vom Pferd gesprungen und hinkte bedrohlich dem Jüngeren der beiden Totengräber entgegen, der sich ihm in den Weg stellte.

»Kerl, scheer Er sich weg!«, zischte Kosemaul ein letztes Mal, bevor ich nur noch sah, wie er zum Schlag ausholte.

»Bleibt zurück, Herr«, schrie nun auch der jüngere Kerl der Sippe. »Wir dürfen die Särge nicht öffnen. Sie stinken allzu sehr!«

»Ja«, warf nun auch nochmals der Alte dazwischen, »sie stinken bestialisch. Die Pest Herr, die Pest!«

»Mir eejal, den Sarch off oder es setzt wat!«

»Niemals!«, brüllte der Jüngere der beiden Totengräber, der mit dem Mördersignalement. Und schon hob er den Spaten, als mein guter Kosemaul ihn auch schon mit einem kräftigen Schlag ins Gesicht niederstreckte. Doch der gewandte Kerl erhob sich flugs, um gleichzeitig dem Magdeburger Recken eins mit dem Grabscheit drüberzuziehen. Kosemaul schwankte, doch konnte ihn solch ein Hieb nicht umhauen, was ich wohl aus vielerlei Kämpfen, die er schon bestanden hatte, wusste.

»Kerl, du waahchst es, `nen preußischen Offizier unn Herrn zu schlahren? Na warte!« Und schon setzte es den nächsten Schlag ins Gesicht des Totengräbers. Wieder purzelte der Mann um, blieb dieses Mal aber liegen.

»Mein armer Junge!«, brüllte nun seinerseits der weißköpfige alte Totengräber, stürmte Kosemaul entgegen, der sich schon auf wenige Schritte dem Sarg mit der gefährlichen Pestleiche genähert hatte und holte zum Schlag mit dem Spaten aus. Doch auch diesen fing der kampferprobte Kosemaul mit dem linken Arm auf und ehe sich der Alte versah, lag er bewusstlos neben seinem Söhnchen.

Ich harrte während des Kampfes ruhig auf meinem guten Graukopf und beobachtete, einem Herold gleich, den unzweideutig verlaufenden Kampf. »Keule« klopfte sich etwas Erde von seinem Rock, die ihm beim Schlag des alten Totengräbers von dessen Grabscheit darauf gefallen war, und bemühte sich, mehr schlecht als recht, den Sarg zu öffnen. Der war jedoch fest vernagelt, was ihn wiederum veranlasste, seinen Degen zu ziehen, um ihn damit aufzuhebeln.

Aber so richtig wollte dies nicht gelingen, denn der Sarg war aus massiver Eiche gezimmert.

»Kosemaul, nehmt einen Grabscheit!«, rief ich ihm zu und stieg vom Pferd. Aber wie erschrak ich, als plötzlich weitere Totengräber und ihre Weiber vor mir standen, alles in allem bestimmt ein halbes Dutzend.

»Das sind die Kerle!«, zeterte das Weib, das anfänglich vor uns geflohen war und nun in größter Eile Hilfe geholt hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach den Rest der verkommenen Sippschaft.

Ich erkannte sofort den Ernst der Lage, zog meine Pistole und stellte mich mit dem Rücken zu Graukopf, der wie ein spanischer Esel mit den Hinterhufen austrat. Glücklicherweise war ich nur wenige Schritte von Kosemaul entfernt, der aber die neue Gefechtssituation gar nicht bemerkte, denn er hebelte unverdrossen und mit größter Kraftanstrengung an dem Sarg herum. Der Eichendeckel splitterte, hob sich knarrend, sich mühselig den hart geschmiedeten Eisennägeln entgegenstemmend.

Plötzlich ein markerschütternder Schrei! Er kam von Kosemaul. »Mörder! Mörder! Krosich, Ewwa lebt!« Ich verstand kein Wort.

Mein Freund stand mit weit aufgerissenen Augen, den Sargdeckel in den Armen, vor dem Sarg und blickte entsetzt hinein.

»Wir sind verraten!«, blökte der Alte der Sippe, der sich wieder von seinem Schlag ermaumelt hatte, ergriff einen neben sich liegenden Stein und stürmte auf Kosemaul los. Die anderen Totengräber sowie ihre Weiber, teilweise mit Ackergeräten bewaffnet, taten es ihm gleich.

Ein schneller Blick in den Sarg ließ mir den Atem stocken. Eine noch lebendige, aber mit Schnüren gebundene Eva sah mich todesängstig und hilfeflehend an. Sie hätte geschrien, wenn sie es denn hätte können, aber man hatte ihr einen dicken Knebel aus einem Scheuertuch in den Mund gestopft und mit einem Tuch umbunden. So hatte ich mich also doch nicht versehen, als ich am Tage unserer Ankunft in Großzschocher, die aus dem Sarg fallenden Leichen mit Seilen gebunden sah. Und genau wie damals, so waren es auch hier zwei Leichen, von denen die eine aber noch lebte. Die Totengräber hatten dem Sarg der Eva eine weitere Leiche beigegeben, eine ältere Frau, die mit offenen Augen und herausgestreckter, purpur angeschwollener Zunge neben dem armen Mädchen lag. Wie sich später herausstellte, hatten sie die Kuhlengräber auf dem Krankenbett erwürgt.

Doch so schrecklich die Entdeckung auch war, die Kosemaul und ich gemacht hatten, das Morden war damit noch lange nicht beendet, denn zwischen ihr und dem gerechten Arm Justitias standen acht Mörder, die, um ihr schreckliches Ende auf dem Rad und Scheiterhaufen wissend, zu allem entschlossen schienen.

Den grauhaarigen Alten streckte ich mit einem gezielten Schuss mitten in die Stirn aus meiner Pistole nieder. Der Kopf platzte von der Bleikugel aus kürzester Distanz getroffen auf, wie eine zu Boden gefallene und mit Wasser gefüllte Porzellanschüssel. Mit wütenden Blicken und einem furchtbaren Geheul, welches an die Tobsüchtigen erinnerte, die ich vor Jahren in einem süddeutschen Tollhaus sah, stürzte der Rest der Mörderbande ungezügelt auf uns ein.

Kosemaul, der uns mit seinen beiden französischen doppelläufigen Pistolen schnell vier von der Brut hätte vom Halse schaffen können, entschied sich lieber – wie großmütig – den Mördern mit dem Sargdeckel entgegenzutreten.

Ich steckte meine Pistole schnell in den Halfter zurück, zog den Stoßdegen und sprang auf den guten Graukopf, der gerade einen nach mir geführten Schlag mit einem Tremel dadurch zuvorkam, dass er den Schlagenden in den Unterarm biss. Der Kerl, ein relativ junges Subjekt mit knötichten und zerfurchten Gesichtszügen, wirrem Haar und braunen Zähnen, jaulte vor Schmerz laut auf, wurde aber von mir mit einem gezielten Stoß in die Kehle ins Jenseits befördert. Nun waren es nur noch sechs.

Ich vollzog mit dem guten Graukopf eine Kehrtwende, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen und sah dabei, wie Kosemaul, seinem Beinamen alle Ehre machend, gerade mit dem Sargdeckel auf die Köpfe zweier anderer Kerle eindrosch, während sich zwei jüngere Weiber in seinen Oberschenkeln verbissen.

Welch bizarrer Schlachtenverlauf! So musste Herakles gegen die Hydra gekämpft haben!

Plötzlich fühlte ich einen leichten Schmerz in der rechten Schulter. Der Sohn des Alten, der sich von Kosemauls Faustschlag wieder erholt hatte, war irgendwie hinter mir auf den Rücken meines Pferdes gesprungen und versuchte mir einen Dolch oder so etwas in die Schulter zu jagen. Ich schlug mit dem rechten Ellenbogen nach hinten, konnte mich aber dabei nicht mehr im Sattel halten und fiel zusammen mit dem Totengräber vom Pferd. Es kam zu einem Ringkampf, in dessen Ergebnis ich zwar schnell als Sieger hervorging, meinen Gegner auch mit einem guten Wurf gegen ein steinernes Kreuz schleuderte und ihn so außer Gefecht setzte. Aber viel schlimmer war sein Weib, die sich wie eine Furie auf mich stürzte und mir mit ihren Krallen die Augen auszukratzen drohte. »Papa, Papa!«, schrie sie unumwunden und: »Du Mörder, du Mörder!«

Ich ergriff die Arme der Furie, drückte sie vor meiner Brust zusammen und warf sie zur Seite. Doch geschickt wie eine Katze erhob sie sich wieder, um erneut auf mich loszugehen. Hier half nur eins! Ich zog erneut meine Pistole, umschloss das Rohr und versetzte der Wahnsinnigen einen harten Schlag mit dem Griff gegen die Stirn. Augenblicklich fiel das Weib um.

Erleichtert wandte ich mich zu Kosemaul, der seinerseits wohl die Kerle mit dem Sargdeckel zum Schweigen gebracht hatte, sich nun aber vergeblich mit den beiden Weibern beschäftigte.

Die ganze Szenerie hatte etwas ausgesprochen Groteskes, Theaterhaftes. Die Weiber der Totengräber trugen die kostbarsten Gewänder, pastellfarbene weite Tafelkleider mit Dresdner Spitzen, wertvolles Geschmeide zierte ihr weißen Hälse. Dennoch waren sie so ungestalt, dass es beinahe schien, als wären sie einem welschen Kuriositätenkabinett entsprungen. Ihre geschminkten Gesichter und Lippen waren aufs komischste verschmiert; die Perücken, zerzaust und überstrapazierend parfümiert, klebten auf ihren Köpfen wie ein stinkender Käse am Brettl. Doch nicht nur ihr Äußeres, auch ihre ekstatischen Bewegungen und das ununterbrochene Geschrei und Gekreische ließen mich schlussfolgern, dass sich diese Mördersippe allein durch eine widernatürliche Unzucht, eine langjährige Blutschande innerhalb der Sippe, vermehrt hatte, was sich in den folgenden Examinationen auch bestätigte.

Der grauhaarige Alte war der Vater der Sippe, die vier jungen Männer seine Söhne und Töchter, die wiederum untereinander in losen Verbindungen standen, dabei aber geschlechtlichen Umgang pflegten. Im Haus der Totengräber stieß man bei sofort durchgeführten Nachsuchungen auf zwei Kinder zwischen acht und neun Jahren, völlig degeneriert und verblödet. Man hatte sie im Keller gefangen gehalten und nur sporadisch genährt.

Doch kehren wir noch einmal kurz zu Kosemaul und den beiden Weibern zurück. Wie gesagt, hatten diese sich in des Recken Oberschenkel verbissen, und es wäre nicht mein braver Kosemaul, wenn er nicht mit diesen bösen Geschöpfen fertig geworden wäre.

Wie ein Berserker schlug er mit der Sargdeckelkante auf die Rücken der Weiber ein, bis diese ihn, kreischend vor unsäglichen Schmerzen, frei gaben und das Weite suchten. Inzwischen waren zahlreich die Leute aus Großzschocher angelaufen gekommen und sahen, was sich hier Furchtbares zugetragen hatte. Entsetzen und Wut machte sich breit, sodass Kosemaul und ich unsere liebe Mühe und Not hatten, die Menschen davon abzuhalten, die ganze Totengräbersippe nicht auf der Stelle zu erschlagen oder in Stücke zu reißen.

Eines sollte jedoch nicht vergessen werden: Wie rührend war die Szene, als Kosemaul die Eva aus dem Sarg hob und von ihren Fesseln befreite! Sie umschlang ihren Retter mit den Armen und bedeckte sein Gesicht mit zahllosen Küssen. Kosemaul, durch und durch preußischer Offizier (Wie konnte ich an ihm zweifeln!) machte eine höfliche Verbeugung und küsste ihr die Hand, so, als wäre Eva eine vornehme oder adelige Dame.

 

In Folge der schrecklichen Entdeckungen ließen die Gerichtsherren der Stadt Leipzig, in deren Gerichtsbezirk Großzschocher lag, alle Bestatteten der letzten Monate exhumieren und tatsächlich fanden sie viele gebundene und geknebelte Leichen, die lebendig unter die Erde gekommen waren. Unter der großen Wut der Leute von Großzschocher brachte man die Totengräber samt ihren Weibern nach Leipzig, wo sie examiniert wurden und unter der Tortur alle ihre scheußlichen Bübereien und Mordtaten gestanden. Sie, die Totengräber, erzählten auch, dass die Eva die letzte Leiche sein sollte. Deshalb nagelten sie den Sarg so fest zu. Auf die Frage, ob sie denn keine Furcht vor einer eventuellen Wiederkehr oder einem Schmatzen und Kauen der lebendig Begrabenen gehabt hätten, gestanden sie eine geringe Furcht schon ein, aber ihr Vater, der Erfahrung mit solchen Dingen hatte, sagte ihnen immer, das sogenannte Schmatzen der Toten komme nicht von einem um sich fressenden Nachzehrer, sondern von Schlangen und Würmern, die die Leichen fräßen.

Schließlich ereilte die Mörder ihre gerechte Strafe: Die noch lebenden Männer wurden nach Recht und Urteil allesamt mit glühenden Zangen gerissen und anschließend von unten herauf gerädert. Die Weiber übergab man lebendig dem Feuer, und obwohl der ehrbare Rat der wohllöblichen bekannten Welt- und Handelsstadt Leipzig das Ausfahren zur Exekution allen Leipzigern unter schwere Strafe stellte, fanden sich doch viele Tausend Menschen ein, dieser erschrecklichen Exekution beizuwohnen. Die Kinder der Totengräber aber übergab man ehrlichen, frommen Christenmenschen, um aus ihnen anständige Menschen und wertvolle Glieder der Gesellschaft zu machen.

Zum historischen Hintergrund

Dreißig Jahre später, im Jahre 1663, wurde durch die Vergiftung der Gassen und Wasserbrunnen zu Gürau in Niederschlesien durch einen mörderischen und ebenso vom Teufel besessenen Totengräber, ein kläglicher Jammer angerichtet, bei dem über 2.000 Menschen gestorben sein sollen. Auch hier gestand der Mann alles unter der Folter.

Im Jahre 1673 bekannte zu Frankenberg in Oberschlesien ein Totengräber samt seinem Weib und seiner Tochter viele Körper aus den Gräbern genommen, aufgeschnitten, derselben Herzen und Lungen gepulvert, das Pulver schließlich unter gestoßenen Kümmel gemengt und auf diese Weise fünf Menschen vergiftet zu haben. Am allerscheußlichsten war aber sein Bekenntnis, sich an den toten Leibern des weiblichen Geschlechts teuflisch vergangen zu haben. Er hatte dann auch keine Abscheu mehr, mit seinen Kameraden aus den Hirnschalen der Toten Brüderschaft zu saufen. Er wurde mit glühenden Zangen gezwickt, musste dann die Decollierung seines Weibes und seiner Tochter mit ansehen und wurde endlich, nachdem man ihn räderte, lebendig auf einem Scheiterhaufen verbrannt.

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