Schauernovellen – Simon, der Verfluchte
Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 1
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843
Simon, der Verfluchte
Die Tochter Guidos, Herrn von Villers, wäre beinahe ein Raub des Todes geworden in einer Krankheit, die sie vom Sonntag Laetare in Fieberhitze bis zu Pfingsten liegen ließ.
Die freundliche Alice war nur durch viele Gebete gerettet worden und durch das Gelübde, das ihr edler Vater schwur, das Kreuz zu nehmen und in Verbindung mit dem König von Frankreich, Ludwig VII., in das Heilige Land zu gehen und die Ungläubigen zu bekriegen.
Der König von Frankreich hatte diesen Kreuzzug unternommen, um eine Entweihung der heiligen Orte zu sühnen, deren er sich schuldig gemacht dadurch, dass er 1300 Menschen in einer Kirche verbrennen lassen hatte.
Der gute Gott war dem väterlichen Schmerz des Herrn von Villers barmherzig und gab seinen glühenden Gebeten die sanfte Alice wieder.
Als das Fieber der Jungfrau gewichen war und man auf ihren Wangen an Stelle der kranken Blässe die Rosen der Gesundheit zurückkehren sah, dachte der Herr von Villers daran, seinen Vorsatz als frommer Christ zu erfüllen.
Er verkaufte dem Herrn von Gonnelieu eine seinem Schloss benachbarte große, schöne Waldung um eine beträchtliche Summe und behielt nur einen kleinen Teil derselben, um der Abtei von Vaucelles ein Geschenk damit zu machen.
Mit dieser bedeutenden Summe, die gleichsam die Hälfte seines Besitztums ausmachte, bewaffnete Herr Guido acht Knappen von Kopf bis zu Fuß und vertraute seine Tochter dem alten Kaplan Peter Beaumetz, einem Mann von heiligem Ruf und treu auf jede Probe. Hierauf zog er fort, um mit dem König von Frankreich zusammenzustoßen, nicht ohne seine Augen, voll von Tränen, mehr als einmal zu den Türmen seines Schlosses zu kehren, nicht ohne mit schwerer Bangigkeit zu sich selbst zu sagen: Lebe wohl auf ewig! Ach, wie werde ich meine kleine sanfte Alice wiedersehen! Wie den Ort, wo die Asche meiner Väter in Frieden ruht!
Schon waren vier Jahre verflossen, seit der Herr von Villers das Kreuz genommen hatte, und noch wusste keiner etwas vom Schicksal des frommen Greises.
Indessen ging es nicht vom besten in seiner Herrschaft. Die Herren der Umgegend beraubten um die Wette, ohne Scheu und wie ein jeder konnte, die Domänen eines Abwesenden und die Erbschaft eines Kindes, das schon einer Waise gleich zu achten war.
Der Kaplan beschwerte sich auf das Lauteste beim Herrn von Alard. Der gute Prälat schwor, die Feigen zu züchtigen, wie sie es verdienten, aber das Alter hat gut kluge Pläne fassen, die Kraft mangelt ihm, sie in Ausführung zu bringen. Ohne sich um die Strafpredigten des Bischofs zu kümmern, fuhren die räuberischen Ritter nichtsdestoweniger fort, auf dem Gebiete Alices zu nehmen, was ihnen gefiel; und es gefiel ihnen fast alles.
Der Kaplan, der verzweifelte, seinem Herrn das Wenige, was ihm von seiner Herrschaft blieb, zu erhalten, beschloss, Alice unter den Schutz des freundlichen und mächtigen Wilhelm, Herrn von Cagnicourt zu stellen, eines alten Freundes und Waffenbruders des Herrn von Villers.
Nachdem Wilhelm von Cagnicourt lange Zeit unter seinem Herrn gekriegt hatte, dem Kaiser Friedrich I., war er seit höchstens einem Monat nach Cambrésis zurückgekehrt. Sonst würde der Kaplan nicht so lange gewartet haben, seine Zuflucht zu einem solchen Beschützer zu nehmen.
Peter Beaumetz kam also eines Morgens in das Schlosss Cagnicourt und beschwor Herrn Wilhelm, der Tochter seines alten Waffenbruders zu Hilfe zu kommen. Bei den ersten Worten des Priesters trug ihm der brave Herr, vom Mitleid bewegt, auf, die junge, verlassene Waise unverzüglich in das Schloss Cagnicourt zu führen.
»Bei meiner Seligkeit!«, schwor er, »ich werde wohl zu verhindern wissen, dass man so die Güter eines Kreuzfahrers beraubt. Ich will die Spitze meines Schwertes so fest auf die Kehle dieser Räuber stützen, dass sie im Ganzen von sich geben, was sie im Einzelnen verschlungen haben. Geht, holt Eure Gebieterin, guter, ehrwürdiger Herr. Unsere tugendhafte und weise Gattin Isabelle von Bethencourt wird sie erziehen, wie es einer Tochter von hohem Rang ziemt, deren Vater im Heiligen Land kämpft. Feige und treulos soll man mich schelten, wenn ich sie nicht wie meine eigene Tochter halte.«
Freudig, wie sich denken lässt, entfernte sich der Kaplan, um diese gute Nachricht schnell seiner jungen Herrin zu bringen, die sich sofort auf den Weg machte. So sehr sehnte sie sich, in Ruhe und Sicherheit zu sein.
Sie ritt mit Grazie auf einem weißen Zelter und hatte ihren Schleier zurückgeschlagen, sowohl wegen der Wärme als auch um die weisen Reden und klugen Lehren des Kaplans besser zu vernehmen, die er ihr erteilte, bezüglich der Art und Weise, wie sie sich im Schloss Cagnicourt zu verhalten habe.
Plötzlich erschienen am Ende der Straße zwei Männer zu Pferde.
Als wohlerzogenes Mädchen schlug Alice ihren Schleier nieder und verhüllte sich damit das Gesicht.
Die beiden Unbekannten machten schnell Halt, um die Dame bequemer vorbeireiten zu sehen. Der eine, noch jung, schien von hohem Stand, wenn man nach seinen silbernen Sporen, seinem freien Benehmen und seinem von Trunkenheit geröteten Gesichte urteilte. Der andere trug die Livree eines Jägers.
Nicht zufrieden mit diesem frechen Anschauen, fingen sie an, unmanierliche Reden zu führen, wie sie der Wein einzugeben pflegt.
Der Kaplan tadelte sie darum, wie es einem Greis und Priester zukam.
Ungeachtet Peter Beaumetz dieses in sanftem Ton getan hatte, ohne sie beleidigen zu wollen, färbte sich doch das Antlitz des jungen Herrn purpurrot vor Zorn. Der Jäger fragte, seit wenn die Pfaffen es sich zum Geschäft machten, den Herren von edlem Rang auf den Landstraßen zu predigen.
Der Kaplan hielt für gut, so schnell als möglich die gefährliche Unterhaltung abzubrechen und gab seinem Pferd die Sporen, um seinen Weg fortzusetzen.
»Beim Teufel!« rief darauf der Jäger, »wenn ich ein vornehmer Herr wäre, käme dieses Fräulein nicht davon, ohne das Lösegeld eines Kusses bezahlt zu haben.«
Es bedurfte dessen gar nicht so viel, um seinen rohen Herrn anzureizen. Den Zügel des Saumrosses ergreifen, schwören, dass weder Priester noch Fräulein einen Schritt weiter dürften, ohne sich um den Preis, den er verlangte, loszukaufen, war das Werk eines Augenblicks. Schon schickte er sich an, das unziemende Lösegeld mit Gewalt zu nehmen.
Alice stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
Der Kaplan wollte ihr zu Hilfe kommen und vom Pferd springen, aber er blieb im Steigbügel hängen. Sein Angreifer gab dem erschrockenen Pferd einen Peitschenhieb, dass es querfeldein galoppierte.
Man hörte einige Augenblicke noch die Klagen des Kaplans, dann aber nur noch den Galopp des Pferdes und das dumpfe Schallen des Leichnams, der alle Augenblicke an einen Stein oder Baum stieß.
Alice war ohnmächtig in die Arme des jungen Herrn gefallen. Er betrachtete sie mit leuchtenden Augen und trug sie dann mithilfe seines Jägers, der eine verruchte Freude zeigte, weit vom Weg ab.
Die Vasallen Fräulein Alices, die von ihre Abreise benachrichtigt worden waren, hatten die gute und sanfte Herrin, die ihnen so oft in ihrem Elend beigestanden, noch einmal sehen wollen. Sie versammelten sich, um sie zu begleiten, wie es einer adligen Dame zukam, und beeilten sich, um ihr noch vor ihrer Ankunft im Schloss Cagnicourt zu begegnen.
Man denke sich das Entsetzen dieser Leute, als sie den Kaplan, in Stücken und Fetzen mitten im Weg liegen sahen.
Während sie im Schweigen des Entsetzens und der Verzweiflung dieses grauenhafte Schauspiel betrachteten, hörten sie schwaches, erstickendes Schreien. Es war Alices Stimme. Sie liefen zu der Seite, woher die Schmerzenstöne kamen. Bei ihrem Anblick bestiegen zwei Männer ihre Rosse, ergriffen die Flucht und ließen entehrt und gemordet die arme Alice von Villers liegen.
Einige eilten den Schuldigen nach, andere drängten sich um die Gemordete. Man verschwendete Sorgen und Mühen; sie öffnet die Augen, nannte den Namen der Heiligen Jungfrau, stieß einen tiefen, schweren Seufzer aus – und starb.
»Rache! Rache! Tötet sie! Straft die Mörder, die Verruchten!«, so schrien hundert Stimmen. Die einen holten Waffen, die anderen taten sich mit denen, welche die Mörder schon verfolgten, zusammen. Sie begegneten auf dem Weg einem der ihren.
»Ich kenne diese Schurken, die unsere Herrin und den Kaplan schändlich gemordet haben, schrie er ihnen aus der Ferne zu.
»Sagt, sagt, wer sind sie, sie sollen sterben«, rief man von allen Seiten.
»Es ist der junge Simon von Cagnicourt und sein verruchter Stallmeister Almarich.«
»Sie müssen sterben – sterben; zum Schloss Cagnicourt!«
Dieses Rachegeschrei drang zu den Ohren der Schuldigen, welche bleich und halbtot vor Schrecken der kleinen Zahl Bauern, die sie erreicht hatten und sie mit Steinen und Schlamm bewarfen, nur die Flucht entgegensetzten.
Sie entgingen ihnen endlich bei einbrechender Nacht und gelangten in die Burg Cagnicourt, deren Zugbrücke und Fallgitter sie schnell schließen ließen.
Erschreckt durch das Geschrei, das er um seine Burg hörte, stieg Ritter Wilhelm auf den Wall und forschte nach der Ursache des Aufruhrs. Er erfuhr sie nur zu bald bei dem Anblick der Leichname, die auf einer Bahre von Leuten getragen wurden, welche Fackeln hielten, gleichsam um mehr zur Rache zu reizen, wenn sie die beiden Opfer Simons zeigten.
Ritter Wilhelm, von tödlichem Schmerz durchdrungen, ließ die Zugbrücke senken und trat mit entblößtem Haupt, ohne Waffen und bleich wie der Tod mitten unter die Leute von Villers. Jeder wich bei seinem Anblick zurück, um ihm Bahn zu machen, und beobachtete ein tiefes Stillschweigen.
Der unglückliche Vater sprach mit Mühe, mehr als einmal von bitteren Seufzern unterbrochen, die Worte: »Es ist ein großes Verbrechen begangen worden. Ich will es strafen, bei meiner Ritterehre! Ja, Gerechtigkeit will ich üben, exemplarische und genügende. Geht, brave Leute und lasst mich handeln.«
Alsdann kehrte Ritter Wilhelm in sein Schloss zurück, die Leute von Villers entfernten sich und trugen die beiden Leichname in Prozession mit sich, Gebete für die Ruhe ihrer Seelen singend. Keiner zweifelte, dass der wackere Ritter Wilhelm sein Versprechen gewissenhaft halten und seinen Sohn, wie er es verdient, strafen werde. Denn Ritter Wilhelm hatte in seinem Leben noch keine Lüge ausgesprochen. Man kannte ihn übrigens sowohl als strengen Richter für wirkliche Verbrechen als auch als mitleidigen Mann bei verzeihlichen Fehlern.
Ritter Wilhelm, der in das Schloss durch die Schlupftür zurückgekehrt war, begab sich in die Kapelle und ließ seinen Sohn kommen. Simon hatte, um sich Fassung zu geben und sich über die soeben verübten Verbrechen zu betäuben, nach dem Rat seines Jägers soeben ein großes Maß Wein getrunken.
Almarich folgte ihm und verbarg sich hinter einem dicken Pfeiler.
Ritter Wilhelm beobachtete einen Augenblick tiefes Stillschweigen; dann sprach er, die Arme hebend mit tiefer, feierlicher Stimme: »Mörder und Treuloser, Feiger, der du nur Mut hast, Priester zu töten und Jungfrauen Gewalt anzutun, der du fliehst wie ein wahrer Schurke vor einem Haufen Bauern, tue deine Rittersporen ab, lass dir den Kopf scheren und begib dich in ein Kloster strenger Regel, um dort den Rest deiner Tage in Buße zu verleben. Ich werde der Abtei Vaucelles mit allen meinen Gütern ein Geschenk machen, damit man da Tag und Nacht Gebete lese für Fräulein Alice und ihren Kaplan. Geh, ich gebe dir meinen Fluch in dieser und jener Welt.«
Frech gemacht durch die Trunkenheit ging Simon auf seinen Vater los und sagte kühn: »Nichts von all diesem werdet Ihr tun.«
Der Greis, erzürnt über solche Frechheit, schlug hastig mit seinem Handschuh in das Gesicht Simons.
Außer sich, zog der junge Mann seinen Dolch und führte einen unsicheren Stoß. Ritter Wilhelm fiel, obwohl nicht gefährlich verwundet.
Aber noch hatte er den Boden nicht erreicht, als der Jäger Almarich mit einem Sprung hervorstürzte und ihm den Kopf mit einem Beilhieb zerschmetterte. Dann stützte er sich auf die blutige Waffe und fragte: »Was werden wir nun tun, Herr von Cagnicourt?«
Simon meinte in einem schrecklichen Traum zu schweben.
»Die Nacht ist schwarz«, fuhr der Jäger fort, »niemand, eine Schildwache, die ich auf mich nehme, ausgenommen, hat Euren Vater zurückkommen sehen. Schnell, werfen wir diesen Leichnam in den äußeren Graben und morgen wird man sagen, dass die Leute von Villers ihn getötet haben.«
»Tun wir das, ja, tun wir das«, erwiderte Simon mit einer stupiden Stimme.
Almarich lud den Leichnam auf die Schultern und Simon folgte ihm. Sie schritten über die erste Brücke, wovon Almarich die Schildwache zu entfernen schon vorher Sorge getragen hatte. Als sie an den Graben gekommen waren, der sich unter der zweiten Zugbrücke befand, stürzten sie den Leichnam ins Wasser.
Anstatt aber unterzutauchen, blieb der Körper Ritter Wilhelms aufrecht, die Hände ausgestreckt, so, als ob er seinen Sohn noch einmal verflucht hätte.
Simon wollte fliehen und stürzte sich auf die Brücke; aber kaum hatte er sie überschritten, als er ohne zu wissen, wie das geschah, sich wieder am Rand des Grabens sah und vor der schrecklichen Leiche.
Und so geschah es bei jedem seiner zahlreichen Versuche.
Als es Tag wurde, fand man ihn bleich, mit gesträubten Haaren, die wilden Blicke auf den Leichnam seines Vaters gerichtet, der ihn verfluchte.
Jedermann floh aus dem Schloss beim Anblick dieses grausigen Wunders. Man bewohnte es nicht in mehr als zweihundert Jahren.
Lange Zeit nach diesen erzählten Begebenheiten, als man sich deren kaum noch erinnerte, fiel die Herrschaft Cagnicourt durch Nachfolge an Herrn Jacob Balduin von Villers, erblicher Kaplan von Cambrésis. Neugierig, zu wissen, was an der Sage vom verlassenen Schloss wäre, ging er dahin in Gesellschaft des Beichtvaters der Abtei Vaucelles. Sie sahen sehr deutlich mitten in einem fast zum Morast gewordenen Teich, das Skelett eines Mannes mit ausgestreckten Armen. Von der Höhe des Walles schien ein anderes Skelett jenes in einer Haltung der Zerknirschtheit zu betrachten.
Der Beichtiger las Gebete für die Ruhe der Seele Ritter Wilhelms von Cagnicourt, dann besprengte er beide Gerippe mit Weihwasser.
Sofort zerfielen sie in Staub und Asche.