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Anne Boleyn Band 2 – Kapitel 7

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Zweiter Band

7.

Cranmers Gattin in London. Ihre Gefahr und glückliche Flucht.

Das Herz des edlen Cranmer trauerte mehr als andere über die täglichen Gräuel. Er starb fast bei der Nachricht von der soeben erzählten Schandtat. Krampfhaft hatte er beide Hände zusammengepresst und mit einem ergreifenden, tieferschütterten Blick nach oben, ausgerufen: »Warum, warum musste dies alles so kommen? Alles so ganz anders werden, als wir vermuteten? Mein Gott, lass meine trüben Augen klar deine unerforschlichen Wege in dieser Finsternis erkennen. Das große Opfer meiner Freiheit habe ich deinem Werk gebracht. Weder irdische Hoheit noch Reichtum, mein eigenes Herz legte ich deinem Dienst zu Füßen. Wie wenig vermag ich dafür zu wirken. Nicht einmal diesen Gräueltaten vermag ich Einhalt zu tun und sie, die mir verbündet bleiben wollte in dem erhabenen Streben, Anne beugt sich sklavisch der Torheit ihres Gatten und schwelgt in Festen und Genuss. Doch nein, ich tue ihr wohl unrecht, sie darf nicht anders, auch ihr Reich ist bedroht, wenn sie dem Tyrannen keinen Sohn schenkt. Aber ich will noch einmal den Versuch bei ihr machen, ob ich sie nicht bewege, einen kühnen Schritt zu wagen.«

Lambethhouse, die Wohnung des Erzbischofs von Canterbury, lag damals noch außerhalb der Grenzen der Stadt und bildete mit den umliegenden Häuschen ein kleines unabhängiges Gut. Cranmer verbrachte hier die Stunden, welche sein Amt und Heinrichs Willkür ihm freiließen – ganz allein, obwohl alles den unglücklichen überredeten Mann an sein Joch erinnerte, an das Opfer, welches er, im frommen Sinne, dem Werk Gottes gebracht, indem er sich zum Erzbischof hatte ernennen lassen.

Wir dürfen wohl sagen »ernennen lassen«, denn Cranmer hatte sich nicht nur in der ganzen Sache passiv gehalten, auch zuletzt, als es trauriger Ernst wurde, sich dagegen gewehrt. Er berief sich auf den Papst und erklärte dem König kühn, dass er nur dessen Sanktion anerkennen und von ihm das Pallium erhalten wolle.

Heinrich fühlte, dass sein Freund und Rat nur in den Augen des Landes und des Adels seine Würde behaupten könne, wenn der Papst sie gutheiße. Wider alles Erwarten kam er selbst darum beim römischen Stuhl ein. Dieser, froh eine Gelegenheit zu haben, sich dem gefährlichen König versöhnlich zu zeigen, ernannte Cranmer, trotz seiner bekannten Ketzerei, zu dem hohen Posten.

Aber auch da noch würde Cranmer standhaft um Helenes willen geblieben sein, die hohe Ehre ausgeschlagen haben, wenn Anne, welche seine Vertraute geworden war, ihn nicht mit der Versicherung zu gewinnen gewusst hätte, dass Heinrich den Zölibat der Priester aufzuheben beabsichtige. Anne glaubte ihrer Sache so gewiss zu sein, dass sie in Cranmer drang, Helene heimlich nach England kommen zu lassen und hier die Stunde ihrer Anerkennung abzuwarten.

Das liebende, treue Weib hatte ihm den furchtbaren Schritt verziehen. Sie floh aus dem väterlichen Haus in Begleitung einer treuen Dienerin und betrat nach einer mühseligen Reise den englischen Boden.

Als die Witwe eines entflohenen Protestanten lebte sie einige Monate unangefochten in der Nähe ihres Gatten nicht als ein vorwurfsvoller, sondern als ein milder Genius der Liebe. Sie war seine einzige Freude auf Erden. Die nächtlichen Stunden, welche er verstohlen in ihrer holden Gegenwart verbringen durfte, waren die einzigen und spärlichen Lichtpunkte seines Lebens.

Anne empfing den so achtbaren Mann mit einem wehmütigen, matten Lächeln. Auf ihren Befehl zogen sich die Hofdamen zurück und ließen sie allein.

»Das sind entsetzliche Dinge«, fing Anne an, indem sie sich in ihrem Sessel aufrichtete. »O, Herr Erzbischof, Gott wolle mir dies vergossene Blut nicht zurechnen! Ich bin daran nicht schuld!«

»Nicht direkt, aber indirekt dennoch, hohe Frau«, sprach Cranmer feierlich. »Ich weiß, Euer Herz hatte dieses Ende weder geahnt noch weniger gewollt, aber die Folgen der Schuld sind oft schwerer als die Schuld selbst, welche wir begangen haben.«

»Gott sei mir gnädig, wenn meine Ehe eine Schuld ist!«, rief Anne schmerzlich bewegt aus. »Er wolle die Strafe auf mein eigenes Haupt wälzen und mein unschuldiges Kind verschonen.«

»Vielleicht vermöchtet Ihr doch dem Unheil eine Grenze zu setzen«, bemerkte Cranmer.

»Ihr täuscht Euch, Ehrwürden. Ich darf nicht nur mit dem König nicht über derartige Sachen reden, sondern es ist mir verboten, auch nur davon Kenntnis zu haben. Der König fürchtet, es könnte mir … oder nein … dem Kind schaden. Es ist umsonst, Bischof, dass Ihr Euch dem König widersetzt. Man kann Steine in den Gießbach oder in den reißenden Strom werfen, aber seine brausende Macht nicht dämmen, noch aufhalten! Wartet in Geduld eine Zeit lang ab. Glaubt mir, für jetzt gefährdet Ihr nur Euer eigenes Leben. So sehr der König Euch liebt, er würde Euch ohne Gnade in den Tower verweisen, wenn Ihr ihm trotzt.«

»Wäre nur mein Leben dabei gefährdet«, sagte Cranmer, »ich würde es froh der guten Sache opfern und mit aller Kraft, die mir zu Gebote steht, diesem falschen Reformgeist entgegentreten.«

»Gott kann aus dem Schlimmsten Gutes hervorgehen lassen«, sagte Anne. »Der König will nicht nur durch Strenge den Sieg behalten, sondern auch durch geistige Waffen. Die Übersetzung der Evangelien, in Zürich begonnen, die angelegten Schulen für das Volk unter Eurer Leitung, das alles wird vereint wirken, um etwas Großes, Herrliches erstehen zu lassen.«

»Gott gebe, dass Ihr recht habt, hohe Frau«, erwiderte Cranmer, durch ihren Mut auf kurze Zeit gehoben. »Noch ist die Gegenwart so trübe, dass kein Blick hindurchdringt.«

»Leider ja, Ehrwürden, und eben aus diesem Grund rief ich Euch zu mir. Der König hat kürzlich, im Vertrauen gegen mich, einige Worte fallen lasten, die Euch galten, Ehrwürden.«

»Wie, hohe Gebieterin?«

»Euch, aber zunächst dem lieben Wesen, das Euch lieber als Euer Leben ist, Helene.«

»Wieso? Was meinte er?«, fragte Cranmer aufgeregt.

»Deutlich sprach er gar nichts, aber dennoch sollte und konnte ich die Bedeutung seiner Worte verstehen. Wir redeten von der Widersetzlichkeit der Priester und von der notwendigen Staatsklugheit, vor der Hand den Zölibat beizubehalten. Ich wagte die Bemerkung hinzuwerfen, dass Euch dieser Entschluss betrüben werde, weil die Priesterehe zu Euren Lieblingsplänen gehörte.«

»Mein Gott! Der König weiß doch nicht …«

»Ich fürchte doch«, erwiderte Anne, »aber nicht durch mich. Seine Majestät sagten nur mit starker Betonung: Meldet gelegentlich dem Erzbischof, dass ich niemand verschonen werde, noch darf, der meine Gesetze übertritt. Er hat viele Feinde, es wird ihn nicht an einem Ankläger fehlen, und einmal der Schuld überwiesen, dürfte ich ihn meines Ansehens wegen nicht die Strafe schenken, so lieb er mir auch ist!«

»Kein Zweifel, ich bin verraten!«, rief Cranmer.

»Aber Seine Majestät wollte Euch Zeit geben, dass Ihr Helene außer Landes flüchtet. Zaudert nicht, Ehrwürden. Der Schlag kann Euch unerwartet treffen, Euch und sie zugleich zermalmen.«

»Aber nun sie reisen zu lassen, in ihrem Zustand!«, sagte Cranmer bange.

»Es ist hart, Ehrwürden, aber besser, sie fällt in die Hände eines gnädigen Gottes, als in die der Schmerzen! Denkt an den Tod jenes armen Kindes auf Smithfield, an das Ende der Mutter? Helene kann sehr leicht Antwerpen erreichen und dort in einem der Klöster ausruhen. Sie kann als Eure Nichte oder als eine von hier Verbannte dort auftreten.«

»Ihr seid gut«, sagte Cranmer, Annes Hand küssend. »Ich werde Euren Rat befolgen und Helene in Sicherheit bringen. Habt meinen innigsten Dank dafür und die Wünsche, dass der Himmel Euch den Sohn schenken möge.«

»Ich wage kaum dies zu hoffen«, sagte Anne wehmütig. »Es wäre ein zu großes Glück für mich. Betet für mich, Ehrwürden, ich bedarf Eurer Fürbitte; denn ist das Kind eine Tochter – o Cranmer! Mir bangt vor meiner eigenen Zukunft und vor der des Kindes!«

»Das Kind wird ein neues Band der Vereinigung zwischen Euch und dem König sein«, sprach Cranmer bewegt. »Es wird zu einem leuchtenden Stern unter Eurer Leitung werden.«

»Noch lebt Katharina«, entgegnete Anne düster, »und so lange sie finster zwischen mir und meinen Rechten steht, ihre Tochter die Erbprinzessin von England heißt, hat mein Kind kein freudiges Los.«

»Der König kann das Gesetz der Erbfolge ändern«, warf Cranmer zögernd ein. »Es steht nur bei ihm, auch eine Tochter von Euch dem Thron zu weihen.«

»Ha!«, rief Anne lebhaft aus, »das könnte geschehen! Ihr flößt mir neues Leben ein, Ehrwürden! Aber werdet Ihr mir dazu helfen?«

»Ich trage kein Bedenken, dies zu versprechen«, entgegnete Cranmer, »denn Mary ist blind dem Papsttum ergeben. Der Tag, der sie auf Englands Thron sieht, sieht mich im Tower und alles in den Staub geworfen, was König Heinrich und wir begonnen haben. Euer Kind, Mylady Anne …«

»Soll Protestant werden, die Feindschaft gegen das römische Joch zieht sie von der Mutter mit ihrem ersten Atemzug ein. Gibt mir der Himmel keinen Sohn, in meiner Tochter will ich dem Land eine echte Königin von Geist und Willenskraft erziehen! Anne Boleyns Kind soll einst in der Geschichte von sich reden machen und ihr Geburtsrecht sich unter den Königen erwerben. Aber wir vergessen Eure Sache, Ehrwürden. Ich meine, noch heute Nacht sollte Helene jedenfalls ihre jetzige Wohnung verlassen, denn es ist klar, scharfe Augen haben sie entdeckt. Vielleicht wäre es das Sicherste, Ihr bringt sie nach Greenwich. Dort kann sie ein Kauffahrteischiff nach Holland abwarten. Geht, Ehrwürden, ich hätte es Euch schon gestern melden sollen, allein die Jagd ließ es mich vergessen. Eilt um Gottes willen zu ihr und bringt ihr mit diesem Kreuzchen mein Lebewohl.«

Cranmer nahm bestürzt das Juwel und verabschiedete sich von seiner Gönnerin. Er begab sich zu seiner Stadtwohnung, vertauschte schnell seine Hofkleidung gegen einen einfacheren Reiseanzug, rief nach seinem Pferd und eilte, von seinem vertrauten deutschen Kammerdiener begleitet, nach Lambeth.

Anstatt, wie gewöhnlich, hier bei Anbruch der Nacht die Geliebte aufzusuchen, schrieb er ihr hastig einige Worte auf einem Stückchen Papier, worin er sie flehentlich bat, sich sofort mit ihrer Dienerin, in einen kurzen Reitermantel gehüllt, durch Johann zu ihm in den Palast führen zu lassen. Zugleich erhielt Johann den strengen Befehl, alle Gegenstände zu entfernen, welche auf die Anwesenheit einer Dame hätten schließen lassen. Der treue Diener selbst sollte das teure Weib und ihre Zofe als Beschützer bis Antwerpen begleiten.

Der Auftrag ward schnell ausgeführt. Schon nach wenigen Stunden schlichen die beiden Flüchtlinge zwischen Hecken und Gestrüpp auf einem einsamen Pfad bis zum erzbischöflichen Garten. Vorsichtig folgten sie dem Diener, der sie durch eine kleine, niedrige Seitenpforte in einen schmalen Gang und zu einer Wendeltreppe führte, welche man leise bestieg, im Halbdunkel den Weg ertappend.

Endlich gelangte man an die stattliche Reihe der geistlichen Gemächer, wo Johann Helene in eines derselben einzutreten bat, während er den Herrn rufe.

Es war ein schmerzlicher, herzzerreißender Anblick, wie die junge Gattin, bald Mutter, sich in die Arme ihres Gatten stürzte und laut schluchzte. Anfangs vermochte Cranmer nicht, sie mit Worten aufzurichten. Er hielt die leichte, bebende Gestalt fest an seine Brust gedrückt und weinte über sein ihm wieder entrissenes Liebesglück. Aber bald gelang es ihm, sich zu fassen und Helene die Notwendigkeit einer kurzen Trennung darzutun. Immer und immer erneute er in ihr und in sich die Hoffnung, dass die Stunde nicht fern sei, wo er entweder England entfliehen könne oder öffentlich seine Ehe bekennen dürfe.

»Nur noch eine kurze Weile Geduld, mein geliebtes Herz«, flüsterte er ihr zu, »Geduld um unseres teuren Kindes willen. Du willst doch das Leben desselben nicht den Henkern preisgeben und vielleicht uns beide dem gleichen Los opfern?«

»Nein, nein, Thomas«, erwiderte Helene schaudernd. »Ich sehe wohl, dass ich fortmuss. Ach! Schon lange hätte ich aus diesem argen Land entfliehen mögen, wenn du nicht darin zurückbliebest. Aber warum willst du nicht mit mir nach Deutschland gehen, Lieber? Mein Vater und die treuen Brüder, die Genossen, lassen uns nicht darben, und du wirst glücklicher sein in der ärmsten deutschen Hütte, als hier, der Liebling eines Königs, der Primas von England!«

»Ja, gewiss«, seufzte Cranmer. »Wenn du weg bist, o, welch ein trauriges Leben, welche Einöde für mich, Helene! Ach, ich darf jetzt nicht mit dir gehen; aber bald! Man erwartet täglich die Geburt des Thronerben. Der König hat mir den strengsten Befehl erteilt, mich nicht mehr vom Schloss zu entfernen, seines Rufes gewärtig zu sein. Ist erst dies vorbei …«

»Du sprichst immer so zuversichtlich von dem Erben«, sagte Helene lächelnd. »Wenn es nun eine kleine Dame wäre, die erschiene?«

»Das wolle Gott nicht«, sagte Cranmer bestürzt. »Der König ertrüge die Enttäuschung nicht. Er hat es sich so fest in den Kopf gesetzt, dass es ein Knabe sein muss, dass er auch bereits feierlich die Befehle zu der öffentlichen Bekanntmachung erteilt und Formulare an den Adel hat ausfertigen lassen.«1

Hier unterbrach der Eintritt Johanns die trauliche Unterhaltung der Liebenden, während deren die Dienerin draußen dem vorgesetzten Wein und kalten Braten zusprach, den Ersterer herauf besorgt hatte. »Ehrwürden«, sprach er leise zu Cranmer, »es sind verkleidete, verdächtige Individuen hier im Schloss und in der Nähe der kleinen Wohnung gesehen worden. Einer hat nach dem Namen der fremden Ketzerin gefragt, welche der Erzbischof unter seinen Schutz genommen habe. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir sofort zu Fuß den Palast verließen und erst auf der Landstraße zu unseren Pferden gelangten?«

»Horch!«, rief Cranmer aufspringend, »hörst du nicht Pferdetritte?«

»Gewiss«, sagte Johann, indem er ein Fenster öffnete und auf die Landstraße blickte, die halb vom Mond beleuchtet war. Sie kommen von London, Ehrwürden.«

»Vielleicht, um dich zu Lady Anne zu berufen«, sagte Helene.

»Nein, mein Kind, dazu schickt man mir keine berittenen Soldaten.«

»Oder Bewaffnete, hoher Herr!«, rief Johann. »Seht die Spitzen der Lanzen und Piken!«

»Es gilt dir, mein armes Liebchen, dir und mir«, sagte Cranmer. »Das ist ein neuer Liebesdienst meines Feindes, des Kardinal Gardiner.«

»Gott sei gedankt, dass Ihr nicht mehr in der Wohnung drüben seid, gnädige Dame«, sagte der Diener. »Löschen wir rasch die Kerzen aus, Ehrwürden, bis auf jene kleine Lampe, die wir verdecken. Wenn die Leute vom Kardinal abgesandt sind, kennen sie das Lokal und würden über ein Licht in diesem entfernten Zimmer stutzig werden. Ah! Sie beeilen sich, sie fürchten entdeckt zu werden! Nur zu geritten, meine Herren! Das Nest ist ausgeflogen!«

»Was sehe ich? Sie halten an, sie steigen ab und binden die Pferde an die Bäume des Weges«, sagte Cranmer.

»Da bleibt uns kein Zweifel mehr über den Zweck ihrer Sendung, Ehrwürden. Die Bluthunde wollen unerwartet die Frau überfallen und aufheben, ehe Ihr geweckt werdet! Sie ahnen nicht, dass wir vom kleinen Turm herab ihre List beobachten.«

»Aber sie werden hierherkommen, uns überfallen!«, rief Helene weinend aus.

»Hierher? Mein liebes Kind, ohne einen handgreiflichen Beweis meiner Schuld dürften die Schergen es nicht wagen, mich anzugreifen. Nein, hier seid Ihr sicher. Ich kann Euch in diesem Gebäude verbergen.«

»Vergebt mir, Ehrwürden«, sagte Johann, »aber ich möchte das Gegenteil behaupten. Nur so lange man die Flucht nicht entdeckt, sind die Wege für uns sicher. Nachher werden die Spione das Schloss auf Schritt und Tritt bewachen, dass an kein Entkommen zu denken ist.«

»Ich will fort, gleich fort!«, rief Helene, »nach London zuerst, zu des Vaters Freund, dem Goldschmied! Er wird uns weiter befördern!«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Johann. »Und nun müssen wir kühn zu Werke gehen. Ich kann mich auf meinen Reitknecht verlassen, Ehrwürden, der ist selbst ein Ketzer. Er wird uns ein paar frische Pferde aus dem Stall schaffen, auf denen wir in zwei Stunden in London sind.«

»Die Reiter werden Euch verfolgen«, rief Cranmer.

»Man muss sie daher durch List aufhalten«, sagte Johann. »Macht, sobald wir an Eurem Fenster vorbei sind, im Schloss Alarm, sendet nach den Reitern, erkundigt Euch nach deren Zweck und entbietet sie zu Euch, um Rede zu stehen. «

»Der Gedanke ist klug«, sagte Cranmer. »Dadurch gewinnt Ihr Zeit. Geh, bestelle den Reitknecht.«

»Erst müssen die Frauen sicher aus dem Park auf die Landstraße gekommen sein«, sagte Johann, »damit auch dieser nicht wisse, dass sie aus dem Palast käme. Er soll uns nachkommen, Ehrwürden. Nun rasch die Mäntel wieder umgehängt! Den Pack trage ich hinunter. Kommt, edle Frau«, redete er Helene an, welche sich fest und bitterlich weinend Cranmer anschmiegte.

»So wahr Euch Euer und sein Leben lieb ist, eilet! Schwach, zitternd? Ah, dann muss ich Euch anstatt des Bündels tragen! Verzeiht mir, edle Frau!«

Dabei machte er sanft, aber rasch die Arme Helenes von Cranmers Nacken los und trug sie, halb bewusstlos, zum Zimmer hinaus, wieder die Wendeltreppe hinunter, durch einen langen Gang und endlich in den Park, wo er sie niedersetzte.

»Gottlob, soweit gelang es!« sagte Johann, »aber nun weiter, teure Frau. Bedenkt, jede Minute ist Goldes wert! Ihr könnt den Weg nicht verfehlen, bis zur Landstraße durch die Allee. Ich hole indessen die Pferde und komme Euch nach. Man hört dort die Hufe nicht, denn wir sind eine gute Strecke vom Schloss.«

Helene raffte alle Kraft zusammen, stützte ihre wankende Gestalt auf den Arm der Dienerin und schritt mit dieser lautlos durch den langen Garten.

Sie erreichten ohne Anstoß das Ziel. Hier warteten sie mit ängstlich klopfendem Herzen auf das Erscheinen Johanns.

Endlich, endlich – die Minuten däuchten ihnen Stunden zu sein – erschien er. Mit kräftigem Arm hob er Helene auf eines der Rosse, half der Dienerin mit dem Pack auf das zweite und sprang dann selbst hinter Helene auf, welche wieder ohnmächtig zu werden drohte.

»Erlaubt, dass ich Euch festhalte, edle Frau«, sagte der junge Mann. »Wir müssen im scharfen Galopp reiten «

»O, lass mich noch einmal zurück zu ihm«, bat Helene, »lass mich bei ihm sterben!«

»Jesus Maria, was ist das?« rief plötzlich die Dienerin aus. »Seht nur das Licht!«

»Es ist gerade auf der Stelle, wo mein liebes Häuschen steht«, sagte Helene bestürzt.

»Ja, ja, edle Frau, und das Feuer beweist, dass Eure Flucht bereits entdeckt ist. Die Schergen haben die Hütte angezündet, um das umherliegende Gebüsch zu beleuchten.«

»Vorwärts, Alte!«, rief er seinem Renner zu, ihm die Sporen eindrückend. »Fort, Juno, du trägst eine edle Bürde!«

Zwei Stunden später ritt eine Schar bewaffneter Kriegsleute denselben Weg wie unsere Flüchtlinge, aber sie schienen minder große Eile zu haben, denn sie ließen entweder die Köpfe auf die Brust sinken oder behielten doch nur mühsam eine soldatische Haltung bei.

Es waren die königlichen Knechte, allerdings von König Heinrich dorthin gesandt. Aber der Befehl wurde erst von diesem unterschrieben, als er Anne die Warnung gegeben hatte. Diese verschwieg es, dass sie vierundzwanzig Stunden lang den Auftrag vergessen hatte. Somit wäre fast die unglückliche junge Gattin dennoch in die Hände des giftigen Kardinals geraten, der nach dem Fang wie ein Bluthund nach der Beute trachtete. Cranmers glänzende Laufbahn sollte dadurch für immer gestört werden, so hoffte der ränkesüchtige Papist und rieb sich frohlockend die Hände.

»Ich wusste wohl, dass es eine schändliche Lüge gegen den Mann sei«, rief Heinrich vergnügt aus, als man ihm die vergeblichen Nachforschungen meldete. »Ich habe es Euch immer gesagt, Cranmer trügt mich nicht. Daher rate ich künftig jedem, dem sein Kopf lieb ist, dass er mir den Mann in Ruhe lässt! Wollte Gott, alle meine Räte glichen ihm an Redlichkeit, Bescheidenheit und an Talent!«

[1]

 

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  1. Faktisch