Anne Boleyn Band 2 – Kapitel 6
Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Zweiter Band
6.
Katharina in der Verbannung. Ihre Festigkeit dem Gesandten des Königs gegenüber. Grausamkeiten an den Papisten und Ketzern.
Im Palast Bugdon, welcher dem Bischof von Lincoln angehörte, einige Meilen von Newtington entfernt, lebte die verstoßene, edle Katharina in großer Dürftigkeit und fast nonnenhafter Zurückgezogenheit. Die gesunde Luft des Ortes hatte wohltätig auf ihren kranken Körper eingewirkt, noch mehr aber hatte die aufrichtige, lebendige Teilnahme, welche sie hier abermals vom Volk genoss, sie erheitert und belebt. Diese Teilnahme vergrößerte aber auch den Unwillen gegen den König und Anne, zumal bekannt wurde, dass der Königin oft das Notwendigste mangelte. Freiwillig überbrachten die Bauern Milch, Butter, Eier und Fische in die königliche Haushaltung, boten auch nicht selten der hohen Frau sogar kleine Summen Geldes oder ihren geringen Schmuck an.
Soeben hatte ein Landmann der Königin eine alte römische Vase überbracht, die er auf seinem Feld ausgegraben hatte und welche Goldmünzen enthielt. »Freilich alte«, fügte der redliche Mann hinzu, »aber Gold behält immer seinen Wert, und unsere hohe Frau kann es besser brauchen, als wir armen Leute.«
Katharina dankte tief gerührt, empfing die Vase und entließ ihn mit dem Geschenk eines kleinen Kreuzes, denn Geld besaß sie nicht. Heinrich ließ ihr keine Apanage auszahlen, ebenso wenig das Heiratsgut, welches sie ihm zugebracht hatte. Der Kaiser von Deutschland bestritt die bescheidene Haushaltung seiner Tante.
Nachdem der Landmann sich entfernt hatte, nahm Katharina wieder die reiche Stickerei auf, welche sie zu einer Altardecke bestimmt hatte.
Plötzlich blickte sie fragend von der Arbeit auf, denn ein unterdrücktes Schluchzen traf ihr Ohr. Nun erst schien sie den traurigen Ausdruck in aller Mienen zu bemerken. Bang bewegt forschte sie nach der Ursache. »Ist meine Tochter gestorben?« fragte sie weiter.
»Nein, Hoheit«, erwiderte eine der Damen, »so viel wir wissen, hat sie sich erholt.«
»Ehrwürdiger Vater!«, rief Katharina ihrem Beichtvater Abell zu, der eben eintrat, »um der Liebe Gottes willen, sagt mir, was ist vorgefallen?«
»Waffnet Euch mit Mut und Ergebung, den Schlag zu ertragen, der Eure irdischen Hoffnungen getroffen hat, meine erlauchte Tochter«, sagte Abell mit tiefem Schmerz.
»Ich bin gefasst, gefasst auf alles«, sagte Katharina, »ich beuge mich dem Willen des Himmels und des Königs.«
»Cranmer, als neuer Erzbischof von Canterbury, hat in sklavischer Unterwürfigkeit in den Willen des Königs es gewagt, dem Ausspruch des Papstes entgegen, Eure Ehe als nichtig vor Gott und den Menschen zu erklären.«1
»Gott verzeihe ihm die Sünde«, sagte Katharina nach einer langen Pause, »aber keine Macht auf Erden kann den Bund aufheben, den die Kirche gesegnet hat.«
»Das ist noch nicht alles, Hoheit, für Euer noch liebendes Herz habe ich eine schmerzlichere Nachricht«, sagte Abell.
Bei diesen Worten brachen sämtliche Frauen und Mädchen in ein lautes Schluchzen aus. Katharina faltete flehend die Hände und stammelt kaum hörbar: »Redet!«
»Der König hat soeben verkündigen lassen, dass …« Er stockte, denn das Antlitz Katharinas war bleich wie das einer Toten geworden, aber sie bewegte schwach die Hand zum Weiterreden.
»Der König hat verkündigen lassen, dass er sich vor einigen Wochen schon im Geheimen …« Hier hielt er wieder inne. »… mit Anne Boleyn vermählt und diese hinfort als seine königliche Gemahlin anerkannt haben will.«
»Die Königin stirbt!« schrie eine ihrer Frauen und stürzte auf den Sessel zu, wo die unglückliche Frau bewusstlos zurückgesunken war. Man trug sie in ihr Schlafgemach.
Wochen vergingen, ehe sie sich von dem furchtbaren Schlag erholte und aus ihrer tiefen Religiosität Ergebung schöpfte. Kaum war sie imstande, das Bett zu verlassen, als man ihr berichtete, dass Lord Mountjoy als Abgesandter des Königs seit mehreren Tagen ungeduldig im Palast auf eine Zusammenkunft mit ihr harre.
»Er soll nicht länger warten«, sagte Katharina. »Der König soll mich stets bereitfinden, seine Wünsche zu vernehmen, wie es einer christlichen Ehefrau geziemt. Gebt mir Euren Arm, Vater Abell, und führt mich in das Empfangszimmer. Ruft aber alle meine Diener herbei, damit sie ebenfalls vernehmen, was mir entboten wird, denn sie teilen getreulich meinen Schmerz, wie einst meine Freuden.«
Man bettete sie auf ein Ruhebett und ihr Kammerherr führte Lord Mountjoy herein.
Dieser Edelmann war früher der Page Katharinas gewesen, nun aber einer der eifrigsten Huldiger ihrer Rivalin. Mit stolz erhobenem Haupt und kecker Miene betrat er das Gemach, aber eine plötzliche Veränderung ging in seinem ganzen Wesen vor, als er die unglückliche Frau gewahrte, welche bleich, aber mit ihrer stillen, würdevollen Haltung ihn empfing.
»Ist Euer Auftrag mündlich oder schriftlich, Lord Mountjoy?«, fragte sie, als er sich vor ihr verbeugte und eine Pergamenttrolle emporhob. »Dann sagt zuerst, was Euch mündlich geboten wurde.«
»Seine Majestät haben befohlen, Euch kund zu tun, dass seine Scheidung ausgesprochen worden …«
»Und er sich wieder vermählt hat« sagte Katharina. »Wir wissen es.«
»Und dass nunmehr Eure Hoheit …« Er hielt einen Augenblick verlegen inne. »… von jetzt an den Titel Königin von England abzulegen und hinfürder sich des Titels verwitwete Kronprinzessin zu bedienen haben.2 Ferner sollen Eure Hoheit diese hier aufgesetzten Artikel unterschreiben.«
»Lord Mountjoy«, unterbrach ihn Katharina stolz, »ich bin nicht mehr die verwitwete Kronprinzessin, denn dieser Titel erlosch mit meiner zweiten Vermählung, sondern die Königin von England und die getreue Gemahlin meines Königs. Ich bin gekrönt und gesalbt worden mit dem heiligen Öl und habe meinem Gatten Kinder geboren. Zwanzig Jahre lang bin ich sein ehelich Gemahl gewesen. Mein Gewissen verbietet mir, mich als das Kebsweib oder die Geliebte des Königs zu brandmarken. So lange ich atme, werde ich den Titel als Königin verteidigen und tragen.«
»Seine Majestät bieten Eurer Hoheit eine namhafte Zugabe zu Eurem Einkommen und einen königlichen Hof.«
»Erspart Euch weitere Worte, Mylord«, sagte Katharina. »Ihr habt meine Antwort vernommen.«
»Wenn Ihr um Euretwillen auch dem Unwillen Seiner Majestät trotzen wollt«, entgegnete Mountjoy, »so bedenkt, Hoheit, das Wohl Eurer Tochter. Ihre künftige Stellung und ihre Wohlfahrt hängen von des Königs väterlicher Liebe oder Ungnade ab.«
Katharina erbebte. Es war dies das erste Mal, dass ihre Feinde das unschuldige Kind zu gefährden drohten.
»Erhört die Wünsche Seiner Majestät«, bat Mountjoy, sich vor ihr niederwerfend, »um unserer teuren Prinzessin willen, entsagt dem leeren Titel, der Euch nur fernere Leiden bringen wird.«
»Mylord«, erwiderte Katharina sanft, »meine Tochter gehört dem König. Gefällt es ihm, sie von mir zu trennen, so trete ich sie dem Vater in Demut ab. Aber wollte ich das Band der heiligen Ehe aus Furcht vor dem Zorn des Königs leugnen, würde ich dem Heil meiner Seele schaden. Wir sollen nur den fürchten, der Leib und Seele verderben kann.«
»Mein Auftrag lautet ferner«, sagte Mountjoy, »dass ich der Umgebung Eurer Hoheit den Eid abnehmen soll, dass sie Euch hinfort nur als Prinzessin von Wales anredet, sintemal nach dem erzbischöflichen Beschluss Ihr noch als die Witwe des Prinzen Arthur zu betrachten seid und …«
»Still!«, rief Katharina mit fester Stimme, indem sie sich von ihrem Ruhebett erhob, »kein Wort weiter, Mylord! Meldet dem König, dass ich bis zu meiner Todesstunde meine Würde als Königin bewahren und als sein getreues Weib für ihn Gottes Vergebung erflehen wolle. Sagt ihm, ich sei nicht seine Untertanin. Ich verwerfe die Macht seines Parlaments über mich. Wenn jemand in meinem Gefolge es wagt, diesen Eid zu leisten, so entlasse ich ihn aus meinen Diensten.«
Bei diesen Worten drängten sich die Damen um sie, und die Männer riefen laut und feierlich: »Nein, Hoheit, wir erkennen, so lange Ihr uns behalten wollt, keine andere als Königin von England an!«
»Ihr habt es vernommen, Mylord«, sagte Katharina. »Nun gebt mir Eure Artikel.«
Sie nahm das Papier, durchlas es ernst, nahm dann die Feder zur Hand und sagte, in dem sie dem Wort die Tat hinzufügte: »Ich streiche weg die Anrede verwitwete Prinzessin von Wales. Im Übrigen werde ich die Artikel ins Spanische und Lateinische übersetzen, um sie dem Kaiser und dem Papst zu übersenden.«
Sie winkte mit der Hand. Die Deputation, welche wohl wusste, dass Katharina die einzige Person im Königreich war, welche es wagen durfte, Heinrich gegenüber eine Meinung zu hegen, verließ den Palast und kehrte zum König zurück.
Wider ihre Erwartung vernahm er die Antwort in finsterer Ruhe.
»Ich dachte es mir«, sagte er dann zu sich selbst. »Wenn sie anders gehandelt hätte, wäre sie nicht das Weib, das ich noch hochachte, obwohl ich es nicht mehr liebe.«
Katharina aber blickte zu ihrem Beichtvater auf und fragte demütig: »Habe ich unrecht gehabt, mein Vater?«
»Ihr habt Euch benommen, wie es Eurer hohen Stellung geziemt, meine Tochter«, war die Antwort; »feierlich gelobe ich hier im Angesicht aller, dass ich nie Eure Sache verlassen noch Herz oder Knie vor dem schlechten Weib beugen werde, das Euch diese Kränkung zugefügt hat.«
Einer nach dem anderen beugte nun das Knie vor der Herrin, küsste die magere weiße Hand und gelobte ihr unverbrüchliche Treue.
»Auch wenn man Euch zwingen will?«, fragte Katharina.
»Auch dann, Hoheit.«
»Lieber will ich den Kerker des edlen Forrest teilen, lieber gleich ihm mich von der Folter zerreißen lassen«, sagte Abell, »ehe ich dieser Jesabel huldige oder den König als Oberhaupt der Kirche anerkenne.«
»Auch wir!«, riefen sämtliche Anwesende.
»Horch! Was ist das?«, rief der erste Kammerherr aus, indem er ans Fenster eilte. »Ein großer Haufen Landleute, mit Äxten und Piken bewaffnet, sie umringen den Palast!«
»Öffnet das Fenster, Sir«, gebot Katharina, »und fragt nach ihrem Begehr.«
Nicht so bald war dies geschehen, als ein lauter, stürmischer Ruf aus Hunderten von Kehlen erscholl: »Wo ist die Königin? Man darf sie uns nicht entführen. Nieder mit den Schergen des königlichen Kebsweibes!«
»Meine guten Freunde «
»Nichts da! Zeigt uns die Königin!«, ertönte es wieder. »Man hat sie gefangen genommen! Wir wollen sie befreien!«, riefen einige.
»Ja, befreien!«, wiederholten die Übrigen. »Lasst uns hinein oder wir brechen die Tür auf!«
»Majestät müssen sich zeigen, sie beruhigen«, sagte Abell, welcher wohl wusste, wie diese Demonstration in London aufgenommen werden würde.
Katharina nahm den Arm Lady Wilmingtons und trat auf den kleinen steinernen Altan. Aber vergebens suchte sie gehört zu werden, denn ein lautes Jubelgeschrei begrüßte ihre Erscheinung.
»Es lebe unsere Königin! Nieder mit der ketzerischen Jesabel! Es lebe der Papst!«
»Ihr seht«, rief nun Vater Abell mit kräftiger Stimme, »dass wir die geliebte Frau noch in unserer Mitte besitzen. Sie dankt Euch für Eure Liebe, aber bittet Euch, ruhig in Eure Häuser zurückzukehren und für sie zu beten.«
»Das tun wir schon«, rief ein kräftiger, rußiger Schmied, indem er mit nervigem Arm seinen Hammer schwang, »aber wir wollen mehr tun, wir wollen für die Königin kämpfen und sie im Triumph nach London führen!«
»Ja, ja, wir führen sie nach London!«, riefen seine Kameraden. »Lasst uns stark werden!«, war das Echo, indem sie abzogen.
»Majestät«, meldete der Herzog von Norfolk dem König einige Zeit nach dieser Begebenheit, »das halbe Land ist in Aufruhr. Zahllose Scharen von Landvolk rotten sich überall zusammen und fordern laut, dass Katharina wieder in ihre Rechte eingesetzt werde.«
»Dahinter stecken die Geistlichen, die aufrührerischen Klöster!«, rief Heinrich »Aber beim Himmel, wir wollen die Trotzköpfe beugen oder sie abhauen! Sendet Bewaffnete aus, Herzog von Suffolk, übt strenge Gerechtigkeit an allen, die sich nicht unterwerfen, knüpft die Rädelsführer ohne Gnade am nächsten Türpfosten auf, zum warnenden Exempel!«
»Und die Klöster?«
»Reißt sie nieder bis zum Grundstein oder brennt sie nieder, wenn es nicht anders geht«, sagte Heinrich. »Bemächtigt Euch der Schätze darin, Gold und Geräte, bringt alles zu uns. Aber die Mönche und Nonnen sollen bei Leibesstrafe England verlassen. Mögen sie bei ihrem geliebten Herrn, dem Papst, Schutz und Obdach suchen, hingehen, wohin sie wollen, oder sich in Bälde meinem Zepter unterwerfen!«
»Die erbittertsten unter den rebellischen Priestern sind die vom Karthäuser-Orden«, sagte Lord Norfolk. »Sie reden öffentlich von den Leiden des Papstes, von der Sünde des Königs und wiegeln das Volk auf der Kanzel und im Geheimen gegen die geistliche Souveränität Eurer Majestät auf.«
»Wo?«, fragte Heinrich.
»In London selbst, Majestät.«
»In unserer unmittelbaren Nähe?« tobte Heinrich. »Das ist zu viel! Mylord, lasst die Gebäude dieser Rebellen umschließen, die Tore sprengen, und wenn sich Euer Verdacht bestätigt, nehmt die Prioren sämtlich in Gefangenschaft.«
»Die Prioren, Majestät«, sagte Norfolk zaudernd, »dürfen wir nicht richten.«
»Nicht richten, nicht richten? Weil die Schurken die Tonsur auf dem falschen Haupt tragen? Gottes Tod, ich will ihnen eine Lehre geben, dass auch die Mitglieder der heiligen Kirche der Strafe verfallen, wenn sie es sich beigehen lassen, mein Volk gegen mich aufzuwiegeln! Es bleibt dabei, Mylord, nach Tyburn3 sollen sie und wie alle enden, die mir widerstehen!«
»Es wäre doch gut«, fiel Norfolk wieder begütigend ein, wenn sie wenigstens zum Schein vor ein Gericht gebracht würden, um ihr Urteil zu hören.«
»Gut. Aber ich sage Euch, sie müssen sterben! Nach der Märtyrerkrone trachten sie schon lange. Ich will ihnen den Weg zum Himmel zeigen, aber über das Schafott!«
Heinrichs Befehle wurden nur zu pünktlich vollzogen. Die vier Prioren standen vor Gericht, als Verräter angeklagt. So gern das Parlament und sogar das Volk die Verminderung der Klöster wünschte, erschreckte sie dennoch die Verurteilung dieser hochstehenden Männer, deren Strafe nur dem Papst zustand.
Unter den Richtern herrschte keine geringe Unentschlossenheit, bis Cromwell sich erhob, in einer heftigen Rede sie zu ihrer Pflicht aufrief und im Falle der Widersetzlichkeit mit dem Zorn des Königs bedrohte.
Diese Drohung wirkte. Der Papst war fern, Heinrich nahe, und keiner trug ein Verlangen, dessen Rache oder Zorn auf sein Haupt zu laden. Das Todesurteil wurde über die Priester ausgesprochen.
Man ließ den Unglücklichen keine Zeit zur Gnade übrig, sondern brachte sie, jeden mit einem Strick um den Hals, barfuß zum Richtplatz hin. Es waren, außer den vier Oberen, noch drei Ordensbrüder.
Eine unabsehbare Menschenmenge folgte dem traurigen Zug, aber mehr aus Neugierde, um einen Geistlichen hängen zu sehen, als aus Mitleiden. Die Verbrecher sangen mit lauter Stimme auf dem ganzen Wege Lobgesänge und beteten für den Papst und die heilige Kirche. Sie waren stolz in ihrem Märtyrertum, frohlockten in ihrem Tode.
Dreihundert Klöster waren seit Kurzem aufgehoben und dreißigtausend Pfund Goldes und Silbers in die königlichen Kassen geflossen. Unerbittlich drohte jedem das gleiche Ende, welcher es wagte, sich dem Willen des Königs entgegenzustellen. Von Katharinas sanftem Geist und edler Seele nicht mehr bewacht und geleitet, waren die Dämonen der Grausamkeit und der Tyrannei mit furchtbarer Gewalt in Heinrich Herr geworden. Von seinem Hof, seiner nächsten Umgebung, sogar vom Volk nicht geliebt, wurde er nun für alle ein Gegenstand der Furcht, Anne selbst nicht ausgenommen, obwohl ihre Stimme und ihre Schmeicheleien noch ein Lächeln auf seine Lippen zu zaubern wussten. Sie war die einzige Stimme im Königreich, welche sich hätte ungestraft zu Gunsten der unzähligen Opfer von Heinrich Willkür erheben dürfen, aber sie schwieg, selbst auf die dringenden Bitten Cranmers und ihrer Freundin Juliane Berner. Nur einmal wagte sie es, als Vermittlerin einzutreten, und zwar, als das Kloster der Berner ebenfalls auf der Aufhebungsliste erschien.
Heinrich verlachte Annes ängstliche Bitten, als die einer weichherzigen Schwärmerin. Als er aber gewahr wurde, wie angelegentlich sie es wünschte, gab er ihr endlich nach – weder aus Liebe zu ihr selbst jedoch noch aus Gerechtigkeitssinn gegen die fromme Priorin, sondern aus Selbstsucht, um das Leben des gehofften und nun erwarteten Thronerben nicht zu gefährden. Anne dankte ihm in den herzlichsten Worten, aber nie wieder ließ sie sich dazu bewegen, den Willen ihres gefürchteten Herrn als Reformator zu durchkreuzen.
Heinrich hatte sein Wort gehalten. Er hing weder dem Erzketzer noch dem Papst an, obwohl er anfangs die Protestanten begünstigte. Er selbst war das Haupt der englischen Kirche, die nach seinen Ansichten gebildet, nach seinem System gemodelt worden war. Das Glaubensbekenntnis der neuen Kirche verwarf die Gewalt des Papstes, behielt jedoch aus dem Katholizismus die Beichte, das Abendmahl in einerlei Gestalt, das Ordensgelübde und schließlich noch den Zölibat bei.
Was auch Annes Bekenntnis in Wahrheit sein mochte, sie rechtfertigte entweder nach ihrer Vermählung das Urteil Campeggios hinsichtlich ihres oberflächlichen Sinnes oder, was wahrscheinlicher ist, sie fand aus weisen Gründen für gut, dem System des Königs zu huldigen.
Sie befand sich nun auf dem Gipfelpunkt ihres irdischen Glückes, denn sie genoss alle Rechte einer königlichen Gemahlin und machte den Gemahl zu ihrem Sklaven durch ihre Mutterhoffnungen.
Dennoch war Anne nicht glücklich. Furcht und Misstrauen, Angst und Schrecken vor ihrem Gemahl erfüllten oft ihr Herz. Wie konnte sie auch einem so blutdürstigen Tyrannen vertrauen! Musste sie sich nicht manchmal innerlich gestehen: Behüte Gott, dass einmal sein Zorn dich träfe!
Henry Wyatt hatte sie, seinem Wort gemäß, verlassen, sobald ihre Ehe bekannt gemacht wurde. Statt seiner gewann die verhasste Lady Rochfort wiederum festen Fuß im Palast und den Gemächern Annes. Die Unglückliche wusste es nicht, aber Rom hatte Lady Rochfort sich zur heimlichen Verbündeten erwählt und leider auch gewonnen. Ihr Auftrag von dort war, unter jeder Bedingung und durch jedes Mittel Annes Mutterhoffnungen zu zerstören.
Nicht nur Hass und Rachsucht reichten der bösen Frau zu diesem Plan die Hände, auch die Liebe zu der unglücklichen Prinzessin Marie und Katharina. Denn auch die verdorbene Seele besitzt einen Lichtpunkt, und dieser war bei Lady Rochfort ihre Treue gegen Katharina.
So ängstlich auch Heinrich seine Gemahlin in dieser verhängnisvollen Zeit vor allen Schreckensszenen bewahrte und von jeder Unruhe zu entfernen strebte, es gelang ihm dennoch nicht vollständig. Namentlich machte die folgende grauenhafte Episode auf Annes Gemüt einen starken Eindruck, der fast Lady Rochfort’ Wünsche erfüllt hätte:
Kurz nach der Hinrichtung der vier Prioren wanderten elf Wiedertäufer denselben Weg. Einige starben in Tyburn den Tod des Stranges, andere den des Feuers in Smithfield.4 Die Armen hatten sich, getäuscht durch Heinrichs erstes Auftreten, verleiten lassen, aus ihrem blutbefleckten Vaterland Holland in England ein Asyl zu suchen. Aber sie weigerten sich, an die persönliche Gegenwart Christi am Abendmahl zu glauben und wurden als Ketzer verdammt. Unter denen, welche in Smithfield den langsamen Tod in den Flammen starben, befand sich ein neunzehnjähriger Metzgersohn und ein hochschwangeres Weib. Sie schritten beide auf den Holzstoß zu. Der Metzger bestieg ihn zuerst und wurde darauf festgebunden, aber als das arme Weib ein Gleiches tun sollte, stieß sie plötzlich einen Schrei aus und sank zu Boden. Die Aufregung hatte die Stunde der Geburt beschleunigt. Angesichts der Menge und der Kriegsknechte erschien ein kleines lebendes Kind.
»Mein Gott!«, rief Anne aus, als sie diese Erzählung hörte, welche Lady Rochfort in scheinbar unterdrücktem Flüstern, doch laut genug, dass Anne alles vernehmen konnte, in deren Schlafgemach vortrug. »Was ist aus dem armen Kind geworden?«
»Gewiss hat man ihm die Mutter gelassen«, sagte ein mitleidiges Fräulein.
»O freilich«, sagte Lady Rochfort mit bitterer Ironie auf den stolzen Lippen, »man hat sie beisammen gelassen. Das heißt nämlich: Als das Volk laut um Gnade schrie, hob ein Kriegsknecht das Weib auf und trug es halb bewusstlos auf den Stoß. Da es nicht stehen konnte, band man es liegend auf die Balken.«
»Aber das Kind, das Kind!«, rief Anne.
»Nun, der Soldaten einer meinte, es sei schade, dass man es verwaisen lasse, hob das Würmchen auf und schleuderte es in die hell auflodernden Flammen.«5
»Mir wird schwach!«, sagte Anne, in die Arme Mary Gaynsfords sinkend.
»Mylady, wie konntet Ihr solche entsetzliche Dinge sagen!«, rief diese aus.
Lady Rochfort zuckte geringschätzig die Achseln.
»Ich habe das Schlimmste nicht gesagt«, antwortete sie ebenfalls halb leise, »dass eine Stimme im Volk laut schrie, man solle die königliche Buhlerin samt ihrem Balg ebenfalls auf den Scheiterhaufen bringen. Das war doch zu arg, nicht wahr? Darauf schrien alle wie aus einer Kehle: Es lebe Katharina, unsere Königin! Es lebe die Prinzessin Marie von England!«
Anne hatte nur zu deutlich jedes Wort vernommen, obwohl sie sich die Miene gab, als hörte sie nichts. Eine eisige Kälte trat auf ihre Stirn, eine Grabeshand presste sich auf ihr heftig klopfendes Herz. Gottes Fluch schallte ihr aus den Worten in die Ohren. Eine unselige Vorahnung ihres eigenen Schicksals überfiel sie und beraubte sie der Besinnung.
Sie hatte sich kaum erholt, als Cranmer ihr gemeldet wurde.