Archive

Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 10

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 10
Im Land der Büffel

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 30.10.2018

Kurzinhalt:
Der Treck nach Oregon kann beginnen! Nach allen Gefahren der letzten Wochen erscheint er Jacob, Martin und Irene fast wie eine Erlösung.
Doch was sie bis jetzt an Abenteuern erlebten, verblasst unter den Strapazen des Trecks. Es scheint, als hätte sich die Natur selbst gegen die Menschen verschworen. Von glühender Hitze über eine Büffelstampede bis hin zu tagelangem Regen, bei dem die schweren Wagen in den aufgeweichten Grund einsinken, wird ihren jedes Fährnis geboten.
Aber das ist längst nicht alles. Denn der Treck hat einen Verfolger, einen bronzehäutigen Mann, der undurchschaubare Pläne verfolgt. Und eine weitere Gefahr lauert gar unter den Teilnehmern des Wagenzugs selbst …

Leseprobe

Kapitel 1

Das Mädchen Urilla

An diesem Julimorgen des Jahres 1863 wurde Kansas City, die große Stadt an beiden Ufern des Missouri, von einem einzigen Wort beherrscht: Mord!

Einer der Männer von dem großen Treck, der am nächsten Tag ins ferne Oregon aufbrechen wollte, war ermordet worden. Der Täter sollte ein anderer Siedler sein, ein junger Deutscher.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, von Saloon zu Saloon, von Barbier zu Barbier, von Gespräch zu Gespräch. Sie war bald in aller Munde und beschäftigte sämtliche Journalisten der Stadt.

Der grausame Bürgerkrieg, der Nordamerika in zwei Teile spaltete, war für einen Tag vergessen. Der Krieg tobte in der Ferne, aber der Mord war mitten unter den Bürgern geschehen. Und schon wurden die ersten Stimmen laut, die sofortige Vergeltung forderten und nach einem dicken Hanfstrick schrien.

 

*

 

Kansas City, am Morgen zuvor.

Ängstlich blickte die junge Frau in dem blauen Kattunkleid über ihre Schulter und wäre dabei fast über einen rostigen, durchlöcherten, mitten auf der Straße liegenden Kübel gestolpert, den sein ehemaliger Besitzer vermutlich einfach aus dem Fenster geschleudert hatte. Der Blick machte ihre Hoffnung zunichte, sie könnte sich in den Absichten der beiden Männer getäuscht haben. Nein, die unrasierten rauen Burschen waren noch immer hinter ihr. Der gierige, ihr nur zu sehr vertraute Blick der beiden ungeschlachten Gestalten verriet ihr, dass es die Fremden auf sie abgesehen hatten.

Sie beschleunigte ihre Schritte, so schnell es ihr fast knöchellanges Kleid erlaubte. Aber für ihre Verfolger war es kein Problem, mitzuhalten.

Das Mädchen mit dem feuerroten Haarschopf, der unter einem blau-weißen Hut hervorlugte, sah sich Hilfe suchend um. Es gab genug Menschen, die die Straßen der großen Stadt an diesem Morgen bevölkerten. Aber jeder ging seiner eigenen Wege.

Die verängstigte junge Frau fühlte sich plötzlich ganz allein in Kansas City. Das morgendliche Leben in der Doppelstadt an beiden Ufern des Missouri war von reger, lauter Betriebsamkeit erfüllt, aber es brandete an ihr vorbei.

Frachtkutscher scheuchten ihre Gespanne mit Peitschengeknall und lauten Flüchen durch die vom langen Regen der letzten Tage noch aufgeweichten Straßen, um die Geschäfte mit Waren zu beliefern.

Händler, Barbiere, Sattler, Stellmacher und Schmiede öffneten ihre Läden. Auslagen wurden vor die Türen gestellt und die Boardwalks, die hochgelegenen Bürgersteige, gefegt.

Am Ende einer Nebenstraße marschierte zackig ein Trupp Unionsinfanterie unter den dröhnenden, abgehackten Kommandos eines Corporals oder Sergeants vorüber. Eine große Garnison unter Brigadier General Thomas Ewing lag in der Stadt, um das über der Sklavenfrage zerstrittene Grenzgebiet zwischen Missouri und Kansas zu befrieden und dafür zu sorgen, dass nicht einer der beiden Staaten aus der Union austrat und sich den konföderierten Südstaaten anschloss, die seit zwei Jahren einen heftigen Krieg gegen den Norden führten.

Trotz all dieser Betriebsamkeit fühlte sich Urilla Anderson allein. Niemand kümmerte sich um sie, warf ihr auch nur einen zweiten Blick zu. Niemand kam auf den Gedanken, sie zu grüßen, so wie die ehrbaren Frauen der Stadt, die früh auf den Beinen waren, um ihre Einkäufe beizeiten zu erledigen. Am Abend würde es anders sein, wenn Urilla ihrer Arbeit im Lightheart Palace nachging. Dann würden sich die Männer, die sie jetzt nicht beachteten, um sie reißen, ihre gierigen Arme um sie schlingen und versuchen, mehr von Urilla zu bekommen, als ihnen für den Preis der Getränke zustand, die sie an der langen Bar bestellten.

Urilla hasste dieses Leben, das sie sich nicht freiwillig ausgesucht hatte. Sie sehnte sich danach, ganz weit weg ganz von vorn anzufangen. In Oregon vielleicht, dem verheißungsvollen Land jenseits der mächtigen Rocky Mountains. Dorthin, wohin auch ihr Vater mit hoffnungsvollem Herzen aufgebrochen war.

Der letzte Treck, der in diesem Jahr von Kansas City nach Oregon fuhr, würde die Stadt in drei Tagen verlassen. Würde sie mit ihm fahren? Sie hoffte, die Entscheidung dieser Frage fiel in ihrem Sinne aus, möglicherweise noch an diesem Morgen.

Falls sie den beiden Verfolgern entkam, die ihre Schritte jetzt noch mehr beschleunigten. Zu schnell für Urilla. Aber sie ahnte den Grund.

Urilla und die beiden Männer durchquerten einen wenig belebten Stadtteil. Die mehrstöckigen, häufig aus Stein erbauten Geschäftshäuser waren windschiefen Bretterbuden gewichen. Nur vereinzelt sah sie hier Menschen, die in der über dem Missouri aufgehenden Sonne dösten, lethargisch geworden durch die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Es waren in der Mehrzahl dunkelhäutige Menschen, zum Teil erst seit Kurzem aus der Sklaverei befreit. Aber das Leben eines freien Menschen konnte genauso schlimm sein wie das eines Sklaven, wenn es an Arbeit, Geld und geeigneten Unterkünften fehlte. Die abbruchreifen Häuser hier am Westrand der Stadt boten nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung. Aus einem Haus mit scheibenlosen Fenstern hörte sie ein unablässiges, lautes Husten, vielleicht Ergebnis der langen Regenfälle.

Die Schritte ihrer Verfolger wurden noch länger und schneller. Urilla versuchte, ebenfalls schneller zu gehen. Vielleicht konnte sie den Lagerplatz des Trecks erreichen, bevor die Fremden bei ihr waren. Aber sie rutschte auf der Mischung aus Schlamm und Unrat aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Schmutz. Der Hut fiel von ihrem Kopf und landete als buntes Boot in einer Pfütze. Als Urilla an sich entlang sah, stellte sie fest, dass ihr Kleid in großen Teilen dunkelbraun statt blau war.

Als sie aufstehen wollte, fielen schon die beiden großen Schatten auf ihr hübsches Gesicht. Urilla sah auf, direkt in die grinsenden Fratzen ihrer beiden Verfolger. Körperlich wirkten sie sehr ungleich.

Der eine, der einen breitkrempigen, hochkronigen Hut und eine Lederweste über einem grün-rot karierten Hemd trug, war groß, breit und muskulös.

Sein Begleiter war klein und hager, wirkte aber sehr zäh. Sein sonnengebräuntes, von vielen winzigen Falten durchzogenes Gesicht erinnerte an altes, brüchig gewordenes Leder. Der schmalkrempige Hut mit der runden Krone, wie er eher von Städtern getragen wurde, wollte nicht zu seinem wettergegerbten Gesicht passen. Ebenso wenig der dreiteilige, braune Anzug. Aber bei näherem Hinsehen erkannte Urilla, dass der Hut speckig und der Anzug abgetragen war. Die Hose war an den Innenseiten der Schenkel mit Lederflicken besetzt, um sie davor zu bewahren, beim Reiten aufgescheuert zu werden.

Tatsächlich erweckten beide Männer den Eindruck, als hätten sie lange Zeit im Sattel verbracht. Der Schmutz auf ihrer Kleidung wies daraufhin und auch der mehrere Tage alte Bart in ihren Gesichtern.

Noch eins war beiden Männern gemeinsam: Sie waren bewaffnet.

Der Große trug an seinem Gurt einen schweren Revolver und ein langschneidiges Bowiemesser.

Der Kleine hatte zwei Waffengurte so umgeschnallt, dass sie sich überkreuzten. Die Holster an beiden Hüften hingen tief. In jedem Holster ragte der im Licht der Morgensonne silbrig schimmernde Griff eines blitzblanken Revolvers hervor. Die Waffen schienen an dem Mann das Sauberste, Gepflegteste zu sein.

Eine dritte Gemeinsamkeit der beiden Fremden war der gierige Ausdruck in ihren Augen. Wenn sie lange unterwegs gewesen waren, hatten sie lange keine Frau mehr gehabt. Vielleicht hatten sie bemerkt, wie Urilla von den sogenannten ehrbaren Bürgern geschnitten wurde, und deshalb beschlossen, sich bei ihr das zu holen, was sie so lange entbehren mussten.

»Hingefallen, Lady?«, fragte der Kleine mit blechern klingender Stimme, während er seine Hand nach Urilla ausstreckte. »Darf ich Ihnen helfen?’

Urilla spürte, dass er es nicht ehrlich meinte. Und sie sah es an dem Grinsen, das weiterhin sein stoppeliges Gesicht beherrschte. Trotzdem ergriff sie seine Hand. Es war entwürdigend, vor diesen Männern im Dreck zu liegen.

Die rothaarige Frau wusste, dass sie nur eine Chance hatte. Kaum stand sie auf ihren Beinen, versetzte sie ihrem Helfer einen Stoß, der den unvorbereiteten Mann gegen seinen Gefährten taumeln ließ. Urilla raffte den schmutzigen Saum ihres Kleides nach oben und rannte davon.

Bis sie plötzlich etwas hart im Rücken traf und gegen die von grünem Schimmel besetzte Wand eines Schuppens schleuderte. Es war die Faust des Großen gewesen.

Der Mann, an dem alles groß wirkte – sein Körper, sein Hut, seine Waffen – streckte seine ebenfalls riesige Hand nach Urilla aus, packte einfach mitten in ihren roten Haarschopf und zog sie mit sich, in den dunklen Schuppen hinein, dessen Tor der Kleine ein Stück aufgezogen hatten. Dort wurde Urilla unsanft auf den von altem Stroh bedeckten Boden geschleudert.

»Dreckige Hure!«, zischte der Kleine. »Wir helfen dir, und als Dank willst du uns in den Schmutz schleudern, aus dem wir dich gezogen haben. Das wirst du büßen!«

»Ihr hattet niemals vor, mir wirklich zu helfen!«

Urillas Antwort holte das Grinsen auf das Gesicht des Kleinen zurück. Aber jetzt wirkte es noch gemeiner als zuvor.

»Sieh an, eine Menschenkennerin«, spottete er. »Aber du kommst ja auch viel mit Menschen zusammen in deinem Beruf, besonders mit Männern, nicht wahr?«

Sein lauernder Blick schien eine Antwort zu verlangen.

»Ich arbeite in einem Saloon. Aber ich … ich tu nicht das, was Sie eben angedeutet haben!«

»Was macht das schon?«, fragte der Große, während er erst seinen Waffengurt ablegte und dann den Gürtel seiner Hose öffnete. »Dann tust du es eben jetzt!«

»Yeah«, stimmte der Kleine ihm zu und grinste noch immer. »Als kleine Entschädigung für dein schlechtes Benehmen.«

Urilla wollte aufspringen, aber der Große versetzte ihr die kräftigste Ohrfeige ihres Lebens und schleuderte sie damit zurück auf den Boden. Ihre Wange brannte, als hätte man ihr die Haut abgerissen.

»Mach keine Dummheiten!«, warnte sie der Große, während er Hose und Unterhose abstreifte und vor ihr auf die Knie ging. »Sonst wird es nur noch schmerzhafter für dich!«

Als er sich über Urilla beugte, wurde ihr übel. Er stank nach Schweiß und fauligem Atem.

Er näherte seinen Kopf dem ihren, um sie zu küssen. Aber Urilla drehte ihr Gesicht zur Seite.

»Dann eben anders!«, knurrte der Mann über ihr verärgert, griff mit beiden Händen an den bestickten Kragen ihres Kleides und riss es mit einem kräftigen Ruck auseinander. Das Unterkleid folgte, bis ihre großen, runden Brüste freilagen. Ihr Peiniger verkrallte seine Bärenpranken so fest in ihrem weißen Fleisch, dass Urilla vor Schmerz aufschrie.

»Schrei nicht, Hure! Du wolltest es doch so haben. Und jetzt bekommst du noch mehr!«

Der ungeschlachte Fremde wollte sich gerade daran machen, auch Urillas Unterleib zu entblößen, als eine laute Stimme fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Ein Zucken lief durch den massigen Körper, der halb auf der jungen Frau lag. Der Mann wälzte sich mit einem Ächzen von ihr, zog eilig seine Hosen hoch und suchte nach seinem Waffengurt. Das Grinsen auf dem Ledergesicht seines Kumpanen, der die Szene mit sichtbarem Wohlgefallen betrachtet hatte, verschwand.

Das Tor des Schuppens war noch weiter aufgestoßen worden, und die Schemen zweier Gestalten zeichneten sich in der Öffnung ab. Die beiden Schemen traten näher …

 

*

 

Jacob Adler und Martin Bauer waren stehen geblieben, als sie die Schreie hörten. Sie waren unterwegs zum Lager des Wagentrecks. Und der Weg führte durch dieses schmutzige, heruntergekommene Viertel, wie man ihnen im Boardinghouse gesagt hatte.

Gestern waren sie mit dem Zug aus Blue Springs angekommen und hatten erfahren, dass der letzte Treck, der dieses Jahr noch nach Oregon aufbrach, die Stadt in wenigen Tagen verlassen würde. Sie wollten sich unbedingt dem Treck anschließen. Irene Sommer und ihren kleinen Sohn Jamie hatten sie in ihrem Quartier gelassen. Sie sollten ausschlafen und sich ein wenig von den anstrengenden Ereignissen der letzten Tage, die in einem blutigen Kampf gegen Quantrills Südstaatenfreischärler gegipfelt hatten, erholen.

»Was war das?«, fragte Jacob und blieb stehen.

»Hörte sich an wie Jamie, wenn er hungrig ist«, meinte sein stämmiger Freund mit dem rotblonden Haar und dem runden, mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht. »Da hat bestimmt irgendein Kind geschrien.«

Der hochgewachsene, breitschultrige Zimmermann schüttelte den Kopf, auf dem sein sandfarbenes Haar unter einer abgegriffenen Mütze hervorschaute. »Das hat sich nicht angehört wie ein Kind, Martin. Und auch nicht wie jemand, der nach Essen schreit. Eher wie jemand, der Angst und Schmerzen empfindet.« Der junge Deutsche wandte sich nach rechts und steuerte einen baufälligen Schuppen an. »Und es kam irgendwo von hier.«

Martin folgte seinem Freund auf das angelehnte Tor zu und bezweifelte, dass man es überhaupt ganz schließen konnte, so schief hing es in den Angeln. Aber daran dachte der Sohn eines Heidebauern nur kurz. Ein erneuter spitzer Schrei vertrieb alle anderen Gedanken.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Jacob, ohne eine Antwort zu erhalten.

Er stieß das Tor auf, als Martin neben ihn trat. Die Augen der Auswanderer benötigten ein paar Sekunden, um sich an das Halbdunkel im Schuppen zu gewöhnen. Dann sahen sie die auf dem Boden liegende Frau mit den zerrissenen Kleidern und die beiden Männer, von denen sich einer, ein wahrer Riese, mit fliegenden Fingern anzog. Gerade schnallte er seinen Waffengurt um.

»Was geht hier vor?«, fragte Jacob vorsichtig und trat auf die Frau zu.

Die Szene schien zwar eindeutig, aber er war in einem fremden Land mit vielen fremden Sitten. Er kannte die Menschen in diesem Schuppen nicht und wusste nicht, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Deshalb verhielt er sich abwartend und vorsichtig. Nach den Aufregungen in Blue Springs wollte er neuen Ärger vermeiden.

Jacob und Martin konnten nicht wissen, dass sie in dem Moment, als sie den Schuppen betreten hatten, an das Ende einer unsichtbaren Kette geschmiedet wurden, von der jedes Glied einen ganzen Haufen Ärger bedeutete.

»Mischt euch nicht ein«, sagte der kleine Mann mit dem faltigen Ledergesicht, dessen Stimme scharf und blechern klang. »Das hier geht euch nicht das Geringste an. Verschwindet!«

Noch während er sprach, schob er die Aufschläge seiner abgewetzten Jacke zurück und steckte sie hinten in den Waffengurt. Jetzt behinderte nichts den freien Zugriff auf seine Revolver.

»Falls die Lady nicht freiwillig hier ist«, sagte Jacob mit einem Blick auf das halb nackte, verängstigte Mädchen, »geht es uns sehr wohl etwas an, Mister.«

»Und wenn ich euch sage, dass sie freiwillig hier ist?«, fragte der Kleine mit lauerndem Blick.

»Dann reicht uns das nicht«, erwiderte Jacob. »Wir würden es lieber von der Lady selbst hören.«

Die Augen des Mannes mit den zwei Revolvern verengten sich zu Schlitzen, als er zu Jacob sagte: »Nennst du mich etwa einen Lügner, Fremder?«

»Ich weiß nicht, ob Sie lügen, Mister. Was ich hier sehe, gibt mir allerdings Anlass zu glauben, dass die Lady nicht freiwillig hier ist. Außerdem haben wir eben Schreie gehört.«

»Schluss mit den Faxen!«, knurrte der Riese, der endlich seine Waffen umgeschnallt hatte. Seine Rechte lag auf dem Revolverkolben an seiner Hüfte. »Wenn ihr beiden Figuren jetzt nicht freiwillig abhaut, helfen wir nach.«

»Wir gehen freiwillig, wenn wir die Lady mitnehmen dürfen«, antwortete Jacob ruhig, während sein Blick zwischen dem Kleinen und dem Riesen hin und her glitt.

Obwohl er äußerlich ruhig wirkte, überlegte er, was er und Martin im Falle einer Auseinandersetzung am besten unternehmen sollten.

Martins Kampfkraft war durch den Schulterschuss beeinträchtigt, den er sich im Kampf gegen Quantrills Schwarze Brigade eingefangen hatte. Jacob selbst trug als Erinnerung an dieses Ereignis eine Narbe auf der linken Wange mit sich herum; die Kugel einer explodierenden Munitionskiste hatte ihm dort einen Hautstreifen weggerissen.

Die beiden Auswanderer waren bewaffnet. Je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr hatten sie einsehen müssen, dass ein Mann ohne Waffen in diesem wilden Land verloren war. Nicht nur Martin, auch Jacob hatte sich trotz seiner Abneigung gegen Schusswaffen einen Revolver umgeschnallt. In ihrem Quartier lagen zwei Karabiner. Sie hatten sich bei den erbeuteten Waffen der Bushwackers kostenlos bedienen können.

Jacob war zu seinem eigenen Erstaunen ein geborener Schütze. Bei Martin sah das schon anders aus, besonders solange er auf seine linke Hand angewiesen war. Aber Jacob gehörte nicht zu den Männern, die eine Waffe in Sekundenbruchteilen aus dem Holster zaubern und in weiteren Sekundenbruchteilen einen sicheren Schuss auf den Gegner abgeben konnten.

Das Ledergesicht vor ihm schien ein solcher Mann zu sein. Sein Blick und seine Haltung wirkten voll konzentriert. Er wartete offenbar nur auf eine falsche Bewegung der beiden Störenfriede, um seine Waffen zu ziehen.

Einen Kampf mit Schusswaffen zu gewinnen, war also sehr zweifelhaft. Aber ebenso zweifelhaft war, ob sich die beiden unrasierten Kerle auf solch einen Kampf überhaupt einlassen würden, solange die Revolver an ihren Hüften hingen.

Die Andeutung eines Lächelns glitt über das Ledergesicht, und er sagte: »Die Lady soll selbst entscheiden, ob sie mit euch gehen will. Ich hoffe, sie trifft die richtige Entscheidung.«

Während er sprach, sah er die junge Frau nicht an, nur Jacob und Martin.

Die rothaarige Frau dagegen ließ ihren Blick ängstlich über alle vier Männer gleiten. Wahrscheinlich überlegte sie sich, ob ihre mutmaßlichen Retter im Ernstfall eine Chance gegen ihre Peiniger hatten.

Ihre Lippen zitterten, als sie Jacob ansah und sagte: »Ja, ich möchte mit Ihnen gehen, bitte!«

»Pech für euch«, sagte das Ledergesicht. Wie hingezaubert lagen die beiden Revolver mit den Elfenbeingriffen in seinen Händen, der eine auf Jacob der andere auf Martin gerichtet. »Wenn wir die Sache friedlich beigelegt hätten, wäre das gut gewesen – für euch. Jetzt geht es hart auf hart!«

»Dagegen habe ich nichts«, sagte Jacob. »Aber warum Blut vergießen? Genügen unsere Fäuste nicht?«

»Nein, die genügen mir nicht«, beschied ihn der Revolvermann.

»Aber uns«, sagte da eine Stimme in Jacobs Rücken, und er hörte Schritte hinter sich. »Lassen Sie Ihre Revolver fallen und kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, Mister. Einer von uns beiden trifft Sie bestimmt!«

Jacob sah aus den Augenwinkeln zwei weitere Männer, die in den Schuppen getreten waren. Jeder von ihnen hielt einen Revolver in der Rechten. Der ältere von ihnen, der einen Verband um den Kopf trug, hatte gesprochen. Der andere war noch sehr jung, allenfalls sechzehn. Sein glattes Gesicht wirkte außerordentlich angespannt. Die beiden Neuankömmlinge stellten sich weit auseinander, sodass der Revolvermann nicht auf beide zugleich schießen konnte.

Das sah auch das Ledergesicht ein und ließ widerwillig seine Waffen in den Staub fallen.

»Gut so«, sagte der Mann mit dem Kopfverband. »Und jetzt habt ihr die Wahl: Entweder verabschiedet ihr euch friedlich voneinander, oder alle schnallen ihre Waffen ab und zeigen, ob sie wirkliche Männer sind.«

Das Ledergesicht und sein riesenhafter Kumpan wechselten kurze Blicke, dann sagte Ersterer: »Auch ohne Waffen werden wir mit den beiden Figuren fertig.«

»Schön«, meinte der Mann mit dem Kopfverband gelassen. »Beweisen Sie es!«

Jacob, Martin und der Riese schnallten ihre Waffen ab. Kaum hatte der Letztere seinen Waffengurt fallen gelassen, da stürmte er auch schon auf Jacob zu.

Der junge Deutsche wollte ihm mit einem Sprung zur Seite ausweichen und ihn ins Leere laufen lassen. Aber sein Gegner hatte damit gerechnet und war wendiger, als Jacob gedacht hatte. Er änderte seine Angriffsrichtung, geriet dabei zwar ins Taumeln, konnte Jacob aber noch am Arm packen und mit sich zu Boden reißen, wo sich beide Männer im Schmutz hin und her wälzten.

Der Riese schaffte es, seine Körpermasse auf Jacob zu pressen, und wollte ihn in den Schwitzkasten nehmen. Der Deutsche verhinderte das im letzten Augenblick, indem er sein rechtes Knie hochriss und damit in den Schritt des Gegners traf. Der Getroffene heulte vor Schmerz auf, und Jacob warf ihn von sich. Der Riese rollte über den Boden und blieb ganz in der Nähe seines Waffengurts liegen.

Als er die Hand nach dem Griff seines Revolvers ausstreckte, zog der Mann mit dem Kopfverband den Hahn seiner Waffe zurück und sagte: »Bevor Sie schießen, Mr. Koloss, tu ich es!«

Verwirrt hielt der Riese mitten in der Bewegung inne, seine Hand nur zwei Zoll von seinem Revolver entfernt. Jacob nutzte diese Verwirrung, um sich auf ihn zu werfen und mit einer ganzen Schlagserie außer Gefecht zu setzen.

Währenddessen umkreisten sich Martin und das Ledergesicht vorsichtig. Wäre sein rechter Arm gesund gewesen, hätte Martin längst angegriffen. Aber unter den gegebenen Umständen wollte er abwarten, was der andere unternahm.

Auf dessen Gesicht erschien erneut das boshafte Grinsen. »Was ist los, Mann? Warum bewegst du dich so komisch? Stimmt etwas nicht mit deinem Arm?«

Noch während er sprach, sprang er vor und landete einen linken Schwinger auf Martins verletzter Schulter. Der Schlag war hart, durch seine Verletzung für Martin umso härter. Der Auswanderer gab einen Schmerzenslaut von sich und wich zurück. Der Kleine setzte nach und deckte ihn mit einer Serie von Schlägen ins Gesicht ein. Martins Nase platzte auf, und ein dünner Blutfaden rann neben seinem Mundwinkel herunter.

Martin sah ein, dass er seinen Gegner nicht unterschätzen durfte. Der kleine, hagere Körper täuschte über die Kraft und Zähigkeit hinweg, die in ihm steckte. Und über die Kampferfahrung, die das Ledergesicht offensichtlich besaß. Der Mann konnte blitzschnell zuschlagen und einen da treffen, wo es wirklich wehtat. Martin hatte das schon zu spüren bekommen.

Als der Hagere erneut angriff, tat Martin so, als wollte er weglaufen. Aber dann drehte er sich herum und stellte seinem Gegner ein Bein, über das der andere stolperte. Martin warf sich auf ihn und hieb so lange mit der Linken auf ihn ein, bis er den Deutschen anflehte aufzuhören. Das lederartige Gesicht war jetzt zerschunden und blutig.

»Schätze, die richtige Seite hat gewonnen«, sagte der Mann mit dem Kopfverband, als sich Jacob und Martin erhoben und nach ihren Waffen griffen.

Als auch die Peiniger des Mädchens ihre Hände nach den Waffen ausstreckte, knurrte er kopfschüttelnd: »Nicht doch. Ihr könnt zurückkommen und eure Schießeisen aufsammeln, wenn wir weg sind. Jetzt verzieht euch!«

Wie geprügelte Hunde gingen die beiden Stoppelbärtigen durch das Tor nach draußen, aber sie warfen den im Schuppen Zurückbleibenden hasserfüllte Blicke zu.

Quelle:

  • Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 10. Bastei Verlag. Köln. 30.10.2018