Elbsagen 16
Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig
16. Der Singestein zu Postelwitz
Am rechten Elbufer, oberhalb Schandau, liegt das Dorf Postelwitz. In der Nähe desselben erhebt sich ein hoher Felsen, genannt der Singestein, von dem aus man eine herrliche Aussicht ins Elbtal genießt. Hier kommt an Sonn- und Festtagen sowie an schönen Sommerabenden die Postelwitzer Jugend zusammen und treibt da muntere Spiele, obwohl die Sage von der Entstehung des Namens uns eher trübe als heiter stimmen möchte. Es soll nämlich einst zu Pirna ein Hirte gewesen sein, der seine Schafe früh stromaufwärts und nach Tisch stromabwärts am Elbufer weidete. Schön war er, das wussten alle Mädchen der Umgegend, allein noch kannte er die Liebe nicht. Er freute sich seiner Jugend, liebte seine Herde, alles andere kümmerte ihn wenig. Gewöhnlich lagerte er sich am Nachmittag unter einem dicht belaubten Baum, sah seine Lämmer um sich herumspielen, blies sich ein Liedchen auf seiner Schalmei und verträumte so den Tag im süßen Nichtstun. Siehe, als er sich wieder einst so ins Grüne gelagert hatte, da sah er am anderen Ufer eine schöne Jungfrau, die eine Herde Ziegen weidete. Am zweiten und den folgenden Tagen war Hirtin und Herde wieder da, und so gewöhnte er sich daran, täglich hinüber nach dem Mädchen zu sehen. Auch dieses schaute zu ihm herüber, so freundlich und liebreich, dass er seine Schalmei ergriff und ihr ein Liedchen hinüberspielte. Wie freute er sich aber, als das Mädchen ihm mit lieblicher Stimme eine Antwort sang. Er zeigte mit seiner Hand hinüber, die Jungfrau winkte ihm und wies auf den nahen Felsen. Als es nun Abend geworden war, da eilte er mit seinen Schafen nach Hause. Aber kaum waren diese besorgt, da war er auch schon wieder am Ufer des Stroms. Als er hinüberschaute, sah er beim Mondlicht hoch oben auf dem Felsen das Mädchen stehen. Da hielt er sich nicht, es zog ihn mit tausend Armen hinüber. Da er ein gewandter Schwimmer war, so hatten die blauen Wogen ihn bald ans andere Ufer getragen. Bald war er oben auf dem Gipfel des Felsens. Hier sagten sich die beiden jungen Liebenden in Worten, was sie sich längst schon mit Blicken mitgeteilt hatten. Aber die Zeit verstrich zu schnell. Schon war es Mitternacht, als der Schäfer seine Schäferin verließ und auf demselben Weg in seine Heimat zurückkehrte. Von nun an schwamm der verliebte Jüngling an jedem Abend hinüber zum Singestein, solange der Mond die Erde beleuchtete. Als aber die Mondsichel schmaler und schmaler wurde, konnte er das Wagnis nicht mehr unternehmen. Wie eine Ewigkeit erschien den Liebenden die Zeit, bis das Mondlicht wieder zunahm und dem nächtlichen Schwimmer leuchtete. Dreimal schon hatte der Mond seinen regelmäßigen Wechsel vollendet, da kam der Hirte eines Abends und sagte seiner Geliebten, dass er am nächsten Tag zum letzten Mal herüberschwimmen werde. Am darauffolgenden Sonntag wollte er dann zu ihren Eltern gehen und um ihre Hand bitten. Aber siehe, am nächsten Abend wartete die Hirtin vergeblich auf dem Felsen. Sie sang ein Lied nach dem anderen, das den Geliebten einladen sollte, allein er kam nicht. Als sie am anderen Tage ihre Ziegen austrieb, sah sie am anderen Ufer wohl die Schafe wie gewöhnlich, aber ein anderer Schäfer weidete sie. Als sie nun an diesem und den darauffolgenden Abenden vergeblich auf ihren Geliebten wartete und er immer nicht kam, da kam ihr der Gedanke, es möge ihm ein Unglück widerfahren sein. Mittlerweile war es Mitternacht geworden, ehe sie sich von der ihr so lieb gewordenen Stelle trennen konnte. Da sah sie auf einmal eine weiße Gestalt über dem Strom schweben, sich dem Felsen nähern, ihn ersteigen und immer näher auf sie zukommen. Voll Schreck vermochte sie weder ein Wort zu sprechen noch den Platz zu verlassen.
Da trat der Schatten vor sie hin und sprach: »Fürchte dich nicht, ich bin dein Bräutigam. Als ich das letzte Mal nach Hause schwamm, haben mich die Götter des Stroms zu sich hinabgezogen. Mir ist wohl! Lebe wohl, singe mir aber noch einmal dein letztes Lied. Es soll mein Sterbelied sein!«
Sie sang es. Als der letzte Ton verklungen war, da zerfloss auch die Gestalt in Nebel. Das unglückliche Mädchen sank ermattet auf den Felsen nieder und schlief ein, erwachte aber niemals wieder. Wenn nun um Mitternacht der Vollmond auf den Singestein niederblickt, da hört man klagende Töne von demselben aus erklingen. Deshalb nennt man ihn den Singestein. Ja, man erzählt sogar, dass, wenn der Todestag der unglücklichen Braut wiederkehre, Engel über dem Felsen schweben sollen, die Rosen und Lilien auf ihn hinabstreuen.