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Jack Lloyd Folge 15

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Bauchgefühl

Joe wollte möglichst schnell zu seinen Gefährten zurückkehren. Trotzdem brachte er die Geduld auf, mehrere Umwege zu machen. Als er sich sicher war, dass er nicht verfolgt wurde, schlug er den Weg zum Unterschlupf der Freibeuter ein. Kurz bevor er das Haus erreicht hatte, blieb er noch einmal, tief ins Dunkel gedrückt, neben einer Hauswand stehen und wartete einen Augenblick. Für einen Moment glaubte er, am Ende der Straße eine Bewegung wahrzunehmen. Er riss die Augen auf und schaute konzentriert in die Richtung. Doch so gebannt er auch dahin starrte, wo er die Bewegung ausgemacht haben wollte, es rührte sich nichts mehr. Schließlich ging er die letzten Schritte zur Tür und gab das vereinbarte Klopfzeichen. Pablo öffnete und sah den Gefährten besorgt an.

»Du warst lange fort.«

»Es hat sich eine neue Situation ergeben. Ich muss mit dem Käpt´n sprechen.«

»Er erwartet dich.«

Joe schob sich an Pablo vorbei in den schmalen Flur des Hauses. Weiter hinten war die Tür, hinter der seine Gefährten auf ihn warteten. Von dem Raum, der so etwas wie der Wohnraum des Hauses sein musste, gingen drei Türen in kleinere Kammern ab, in denen Betten standen. Ein weiterer kleiner Flur führte in eine Küche, neben der eine Vorratskammer noch einige Lebensmittel bereithielt. In einer der Schlafkammern lag die Gefangene und bangte um ihr Leben. Joe, der zum wiederholten Male im Verlauf der heutigen Nacht das Gefühl hatte, dass sich eine schwere Last auf seine Brust senkte, betrat den Wohnraum. Ein schwerer Holztisch beherrschte den Raum. Rundherum standen Stühle, die von Material und Farbe her zu dem Tisch passten. Einige Regale und ein kleiner Sessel in der Ecke des Raumes rundeten die Einrichtung ab. Jack saß am Kopfende des Tisches und sah Joe entgegen. Der alte Seebär ließ sich auf einen der leeren Stühle fallen und atmete erst einmal tief durch. Jack sah seinen Ersten Maat fragend an.

»Hattest du Erfolg?«

»Mehr als erwartet, Käpt´n. Ich war gerade im Hungrigen Eber angekommen, da kamen zwei Männer herein, die auch sofort auf mich zukamen. Sie müssen mir von diesem Haus aus bereits gefolgt sein.«

Jack zog beide Augenbrauen nach oben.

»Von hier aus? Was waren das für Männer und was wollten sie von dir?«

»Sie gehörten zur Mannschaft der Jungfrau von Cartagena. Und ich denke, sie wollten mich höflich und mit schlagfertigen Argumenten dazu bringen, dafür zu sorgen, dass die Tochter ihres Kapitäns freigelassen wird.«

»Erzähl mir genau, was geschehen ist.« Jack fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, nahm Joe einen Ausdruck in ihnen war, den er so bei seinem Kapitän noch nie gesehen hatte. »Wie es aussieht, beginnt die Angelegenheit allmählich interessant zu werden«, fügte der junge Kapitän hinzu.

Joe, der wissen wollte, wie es der Gefangenen ging und was Jack als Nächstes vorhatte, atmete tief durch, sammelte sich einen Moment und begann dann zu berichten, was ihm genau widerfahren war.

***

Zur vereinbarten Zeit traf Joe wieder im Hungrigen Eber ein. Seine beiden Gesprächspartner und ein weiterer Mann saßen bereits an einem der Tische und starrten die Tür an.

»Wann schließt dieser Laden eigentlich mal?«, fragte Joe verwundert, als er den Schankraum betrat. Es war zwar keine Kundschaft anwesend, bis auf ihn und die beiden Matrosen mit ihrem Begleiter, aber dennoch war der Wirt zugegen und auch seine Tochter nutzte den neuen Tag, um ihrem Vater erneut zur Hand zu gehen.

»Selten, Señor«, erwiderte der Wirt mit einem Lachen auf den faltigen alten Zügen.

Damit war das Gespräch mit dem Wirt auch bereits beendet. Joe konzentrierte sich jetzt voll auf den Tisch mit den drei Männern. Er ging zu ihnen und setzte sich unaufgefordert auf den vierten, noch freien Platz.

»Ihr seid also einer der Männer, die meine Tochter gefangen halten«, zischte der Mann, der zwischen den beiden Matrosen saß. Joe zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe.

»Ihr seid ausgezeichnet informiert, Señor. Mein Kapitän wünscht Euch zu sprechen. Und um Euch einen kleinen Anreiz zu bieten, soll ich Euch diesen Brief überreichen.«

Der Händler runzelte kurz die Stirn. Dann nahm er den Brief und begann ihn zu lesen.

Dem Kapitän und Händler der Jungfrau von Cartagena.

Meinen Gruß. Wie Ihr sicher mittlerweile wisst, befindet Eure Tochter sich in meinem Gewahrsam. Ich bin bereit, sie Euch heil und vollkommen unversehrt zurückzugeben, wenn Ihr dafür einige Bedingungen erfüllt. Als Erstes sei einmal erwähnt, dass ich weiß, dass Ihr Dokumente für den Gouverneur von Havanna bei Euch tragt. Ich wünsche, dass Ihr hier erscheint und diese Dokumente bei mir abliefert. Dann werdet Ihr Eure Tochter in einem Stück zurückbekommen. Wenn ich aber das Gefühl habe, dass Ihr mich betrügt, wird Eure Tochter sterben.

Der Mann war bei der Lektüre des kurzen Briefes vollkommen erblasst. Natürlich machte er sich Sorgen um seine Tochter, doch auf der anderen Seite war ihm auch klar, dass er zu einem Staatsfeind werden konnte, übergab er die Dokumente einfach einem Mann, für dessen Augen die Schriftstücke nicht gedacht gewesen waren. Er las den Brief ein zweites Mal, eher er ihn auf den Tisch sinken ließ und Joe feindselig anstarrte.

»Euer Kapitän will, dass ich mit den Dokumenten in Euren Unterschlupf komme und Euch die Unterlagen übergebe. Euch dürfte klar sein, dass das eine Forderung ist, die ich unmöglich erfüllen kann.«

»Ihr habt die Wahl. Kommt heute Abend, wenn die Sonne gerade untergegangen ist. Und versucht nicht, uns zu hintergehen. Wir würden es ohnehin bemerken.«

»Und wenn ich mich weigern würde?«

»Nun, dann würdet Ihr Eure Tochter trotzdem zurückerhalten. Fein säuberlich zerteilt und in einen Sack gesteckt.« Joe zuckte mit gespieltem Gleichmut die Schultern. »Es ist allein Eure Entscheidung, Kapitän.«

»Und wer garantiert mir, dass ihr uns nicht alle tötet, wenn wir erst einmal in Eurem Haus sind?«

»Das Ehrenwort meines Herrn.«

»Wie kann ein Pirat von Ehre sprechen«, brummte der Größere der beiden Begleiter wütend. Doch sein Kapitän zeigte ihm an, dass er schweigen sollte.

»Ich werde da sein. Allein.«

»Es freut mich, das zu hören, Kapitän. Und ich bin mir sicher, Eure Tochter wird sich darüber auch freuen.«

»Sollte ich nicht zurückkehren, werden meine Männer nicht zögern, der Wache mitzuteilen, wo Ihr Euch verbergt. Dann wird es kein Entrinnen mehr geben«, drohte der Kaufmann.

Doch Joe merkte, dass der Mann derartige Situationen nicht gewohnt war. Die Drohung, die ihm das Gefühl geben sollte, es mit einem gleichwertigen Gegner zu tun zu haben, klang leer und hohl, eher wie ein letztes schwaches Aufbegehren. Joe nickte lächelnd und erhob sich.

»Und kommt allein. Euch wird nichts geschehen, wenn Ihr Euch an diese einfache Aufforderung haltet.«

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, machte Joe auf der Stelle kehrt und verließ den Hungrigen Eber. Der Tochter des Kaufmanns ging es nach wie vor gut, davon hatte der alte Seemann sich mit eigenen Augen überzeugt. Jetzt musste nur noch diese verfluchte Übergabe reibungslos verlaufen, dann konnten sie Santiago verlassen und nach Port Royal zurückkehren. Dort würde Joe seinem Kapitän ins Gewissen reden. Er musste dieses Piratenabenteuer beenden und dafür sorgen, dass kein weiteres mehr folgte. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte er sich wesentlich wohler als in den Stunden davor. Wenn da nur nicht das Gefühl gewesen wäre, das ihm sagte, dass er die ganze Zeit über verfolgt wurde. Allein, wenn er sich umsah, war da niemand, der ihm aufgefallen wäre. Joe schob es auf die nervliche Anspannung. Er sollte bald merken, dass das einer der größten Fehler war, den er hatte begehen können.

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2011 by Johann Peters