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Jack Lloyd Folge 14

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Eine unerwartete Wendung

Joe wählte erneut den Weg zum Hungrigen Eber. Wo sonst konnte man Klatsch und Tratsch besser unter die Leute bringen, als in einer Hafentaverne? Zum Glück kannten die Gasthäuser in den kubanischen Hafenstädten keine Sperrstunde. In einer gesitteten englischen Gemeinde wäre zu dieser Zeit kein Mensch mehr auf den Straßen unterwegs. Doch hier in Santiago sah Joe auch zu dieser Stunde weit nach Mitternacht noch immer den einen oder anderen Betrunkenen auf der Straße. Der Hungrige Eber war, wie Joe es erwartet hatte, bereits relativ leer. Doch geschlossen wurden derartige Häuser in der Regel erst, wenn der letzte zahlende Gast gegangen war. Die junge Bedienung war hinter der Theke verschwunden. Wahrscheinlich wollte ihr Vater, der Herr des Hauses, nicht, dass sie zu einer solchen Stunde noch in den Schankräumen zu sehen war. Wer wusste schon, was sich ein betrunkener Seemann, wenn der Raum leerer wurde, herausnehmen würde? Die meisten dieser Männer waren oft wochenlang auf See. Und selbst wenn die Handelsschiffe in den verschiedenen Häfen vor Anker gingen, hatte die Mannschaft noch lange nicht in jeder dieser Städte Landgang. Joe setzte sich an einen Tisch ziemlich in der Mitte des Raumes. Von hier aus konnte er die vier noch anwesenden Zecher beobachten und hatte trotzdem die Tür im Auge. Kaum saß der alte Seebär, da wurde die Tür aufgestoßen und zwei Männer betraten den Schankraum. Der eine war klein und drahtig, der andere ein wahrer Hüne von einem Mann. Während der größere sich bücken musste, um überhaupt durch die Tür zu passen, ließ sein Geselle den Blick durch den Raum schweifen. Schließlich blieb dieser auf Joe haften und verharrte dort. In diesem Moment wurde dem Freibeuter schmerzlich bewusst, dass er bis auf seinen Dolch keine Waffe bei sich trug. Joe versuchte den Blick der beiden Neuankömmlinge zu meiden, doch die Männer hatten sich bereits in seine Richtung in Bewegung gesetzt. Bevor Joe in irgendeiner Form reagieren konnte, hatten die Fremden seinen Tisch erreicht. Der kleinere fragte freundlich: »Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir uns zu Euch gesellen?«

Joe sah sich im Raum um. In möglichst abweisenden Ton erklärte er, mit beiden Händen eine weit ausholende Geste machend: »Ich sehe genug freie Plätze im Raum. Warum also sollte ich meinen Tisch mit Fremden teilen?«

»Weil wir interessante Neuigkeiten haben, die jeden ehrlichen Gast hier in Santiago interessieren sollten.« Die Worte ehrlichen Gast hatte der Mann so betont, dass Joe, ohne es zu wollen, leicht zusammengezuckt war. Wussten diese Männer etwa, wer oder was er war?

Ohne weiter auf Joes Einwand einzugehen, ließen die beiden sich dem Seemann gegenüber nieder. Joe rückte etwas vom Tisch zurück, bereit notfalls aufzuspringen, um sofort die Flucht anzutreten. Doch ein Blick auf den Riesen auf der anderen Seite des Tisches zeigte ihm, dass dieser Mann genau das von ihm erwartete. Joe versuchte sich zu entspannen. Was auch immer die beiden von ihm wollten, er musste ruhig bleiben.

»Und was sind das für wichtige Neuigkeiten?«

Joe gab sich Mühe, gelangweilt zu klingen. Doch das Lächeln auf dem Gesicht des kleineren der beiden, der offenbar der Wortführer war, zeigte ihm, dass er absolut durchschaubar war.

»In der Nähe von Santiago ist ein Segelschiff in einer versteckten Bucht vor Anker gegangen. Da fragt man sich doch, warum diese Seeleute nicht in den Hafen einlaufen?«

Joe starrte die Tischplatte vor sich an. Diese beiden wussten alles. Nur woher? Mit belegter Stimme antwortete er: »Vielleicht brauchten sie nur frisches Wasser oder mussten Kleinigkeiten ausbessern. Dafür muss man nicht zwangsläufig in einen Hafen einlaufen.«

»Das ist wahr. Aber wenn es sich bei der Besatzung des Seglers um eine Piratenbande handelt, sieht die Angelegenheit doch schon ganz anders aus, oder?«

»Wer wäre so wahnsinnig, in der Nähe einer Stadt mit einer so starken Garnison an Land zu gehen?«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Fremden vertiefte sich noch. Joe lief eine Gänsehaut über den Rücken. Was war an Bord der Swallow geschehen? Woher konnte dieser Mann so viel wissen?

»Vielleicht wollte sich der Kapitän mit einer kleinen Gruppe seiner Männer in die Stadt schleichen.«

»Sollte ihm das gelungen sein? Das wäre ja …«

Joe wurde unterbrochen, als der größere der beiden ein wütendes Knurren ausstieß. Joe bedachte ihn mit einem finsteren Blick, schwieg aber. Die Stimme des Kleineren war zu einem drohenden Flüstern geworden.

»Wir sollten mit den Spielchen aufhören. Mein Kapitän will seine Tochter zurück.«

»Und mein Kapitän will den Euren.«

»Dann haben wir ein Problem. Ich denke, wir werden Euch mitnehmen, Euch eine kräftige Tracht Prügel verabreichen und dann stückchenweise zu Eurem Herrn zurückschicken. Vielleicht wird er dann vernünftig.«

Joe spürte, dass die Nervosität mit einem Mal von ihm abfiel. Er brach in schallendes Gelächter aus. Die beiden Matrosen sahen sich erst gegenseitig, dann Joe verwirrt an. Es dauerte einen Moment, bis der alte Seemann sich wieder beruhigt hatte.

»Darf ich fragen, was Euch an dieser Aussicht so belustigt?« Der Fremde klang verwundert, teilweise sogar besorgt.

Joe, der sich jetzt in der deutlich besseren Verhandlungsposition sah, schaute dem Wortführer der beiden direkt ins Gesicht. »Ihr glaubt zu wissen, wer wir sind und was wir wollen? Ihr irrt Euch, mein Freund. Wenn Ihr mir irgendetwas antut, dann ist eines sicher: Die Tochter Eures Kapitäns wird Leiden erfahren, die sie den Rest ihres kümmerlichen Lebens nicht mehr vergessen wird. Ihr solltet nicht vergessen, sie ist derzeit in einem Haus mit einer Horde Piraten, wie Ihr uns nennt. Allein.« Joe senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab. »Gefesselt. Es gibt nur einen Grund dafür, dass noch keiner der Männer sie angerührt hat. Mein Kapitän ist kein Freund von Quälereien. Aber wenn er nicht bekommt, was er will …«

Joe lehnte sich zurück, mit einem fiesen Grinsen im Gesicht. Ihm war schlecht. Alles in ihm wehrte sich gegen dieses Schauspiel, dass er hier darbot. Allein der Gedanke daran, dass der jungen Frau irgendetwas getan werden könnte, bereitete ihm Unbehagen und Schuldgefühle. Nur durfte er das seinen Gesprächspartnern nicht zeigen.

»Ihr werdet es nicht wagen …«

Joe fuhr dem Fremden über den Mund: »Ihr droht mir, mich zu zerstückeln und glaubt ernsthaft, meine Kameraden würden mit der geliebten Tochter Eures Kapitäns feinfühliger umgehen? Denkt das nächste Mal nach, bevor Ihr leere Drohungen aussprecht.«

Zum ersten Mal meldete sich jetzt der Hüne zu Wort. Seine Stimme klang dumpf und dunkel. Doch Joes erster Eindruck, dass er es mit einem Koloss von Mann mit einem zu klein geraten Hirn zu tun hatte, relativierte sich schnell.

»Wir waren auf einer friedlichen Handelsfahrt, als Ihr uns überfallen habt. Freunde sind gestorben. Wir haben sie an Deck verbluten sehen, ohne etwas dagegen tun zu können.«

»Ihr hättet Euch ergeben können«, murmelte Joe, mit einem Mal voller Schuldgefühle.

»Damit Ihr uns alle massakriert hättet? Was wollt Ihr von uns?«

»Das sollte Euer Kapitän mit dem Meinigen besprechen.«

»Damit Ihr ihn töten könnt wie einen räudigen Hund? Er wird sein Versteck nicht verlassen.«

»Das sollte er aber. Andernfalls wird seine Tochter sterben.«

Der Kleinere der beiden ächzte auf. Sie hatten sich den Verlauf dieses Gesprächs offenbar völlig anders vorgestellt. Auch Joe war mit einer anderen Erwartung in den Hungrigen Eber gekommen. Doch mittlerweile hatte er das Gefühl, das Auftauchen der beiden vereinfachte seine Mission, auch wenn sie dadurch nicht minder gefährlich wurde.

»Ich werde jetzt zu meinen Kameraden zurückkehren. In sieben Stunden bin ich wieder hier, mit einem Brief meines Herrn. Einer von Euch sollte dann hier warten, um diesen Eurem Kapitän zu überbringen.«

»Und was macht Euch so sicher, dass wir nicht die Stadtwache informieren und Euer Schiff hochnehmen lassen?«

»Wenn Euer Kapitän bereit wäre, das Risiko einzugehen, dass seiner Tochter etwas zustößt, hätte die Wache das Haus längst gestürmt. Wir werden ihr nichts tun … wenn Ihr Euch an diese Absprache haltet.«

Joe erhob sich ächzend. Er klopfte noch einmal mit der Faust leise auf den Tisch und erklärte:

»Und wenn Ihr wirklich wüsstet, wo unser Schiff liegt, wärt Ihr wohl längst dort, um Eure toten Kameraden zu rächen.« Ohne eine Antwort der beiden abzuwarten, ging er in Richtung Tür. Der Kleinere rief ihm nach: »In sieben Stunden! Und kommt allein!«

Joe verließ die Taverne und spürte, wie seine Beine zu zittern begannen. Sie hatten Menschen getötet, die nichts anderes waren als einfache Händler. So wie sie selbst noch vor einigen Monaten. Und jetzt hielten sie eine junge Frau in ihrer Gewalt, die wahrscheinlich Todesängste ausstand, von den Sorgen ihres Vaters ganz zu schweigen. Tränen traten ihm in die Augen. Es musste einen Weg geben, diesen Wahnsinn zu beenden. Schnell. Ohne weiteres Blutvergießen. Was Joe nicht sah, war der Mann, der sich aus dem Schatten der Taverne löste und sich an seine Fersen heftete.

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2011 by Johann Peters