Elbsagen 12
Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig
12. Die weiße Frau bei Niedergrund
Im Wald bei Niedergrund, ganz oben beim sogenannten tiefen Grund, stand einst das Schloss eines Zauberers. Der entbrannte in Liebe zu der schönen Tochter eines vornehmen Mannes, der jenseits der Elbe wohnte. Aber die Jungfrau wollte von dem Liebhaber nichts wissen. Eines Tages gelang es dem Zauberer, die Geliebte auf sein Gebiet zu locken, da nahm er sie gefangen und zwang sie, seine Frau zu werden. So lebten sie nun miteinander und bekamen auch einen Sohn. Aber die junge Frau konnte sich an das neue Leben nicht gewöhnen. Ihr Mann behandelte sie schlecht und vernachlässigte sie bald in jeder Weise. Oft blieb er lange von Zuhause fort, und dann war sie allein dem Schrecken des Waldes preisgegeben, in dem noch Bären, Wölfe und andere wilde Tiere hausten. Daher sehnte sie sich, in ihre Heimat zurückzukehren, und versuchte einen vertrauten Menschen zu finden, der sie aus den Händen des Zauberers rettete. Dies war aber nicht möglich, weil der Zauberer ihre ganze Dienerschaft so verzaubert hatte, dass niemand mit ihr sprechen konnte. Sie weinte viel und ging oft auf eine Anhöhe, um nach einem Weg zur Flucht auszuschauen. Davon hat diese Höhe den Namen Jungfernkuppe erhalten. Als der Mann wieder einmal fortgegangen war, nahm die Frau ihr Söhnchen auf den Arm und machte sich entschlossen auf den Weg, um dem Machtbereich des Zauberers zu entfliehen. Schon war sie eine gute Strecke vom Zauberschloss entfernt, da begegnete ihr ein schöner Jägersmann, den sprach sie um Hilfe an. Aber auch der Jäger war verzaubert und konnte sich ihr nicht verständlich machen, so sehr er sich auch anstrengte. So war sie sich wieder selbst überlassen und eilte auf gut Glück in der eingeschlagenen Richtung weiter.
Als der Zauberer nach Hause zurückkehrte, entdeckte er bald, dass seine Frau mit dem Kind entflohen war. Sogleich machte er sich an die Verfolgung, fand die Spur der Entflohenen und holte sie schließlich ein. Beim Felsenkegel, der von den Leuten die Jungfrau, von den Schiffern die lange Lotte, von anderen wieder die Liesel oder auch die Nonne genannt wird, stürzte er die flüchtende Frau samt ihrem Kind wütend zwischen der Kutschken- und der Lehnischwand hinab.
Seit jener Zeit sieht man in der Gegend, wo diese Untat geschah, oft eine weißgekleidete Erscheinung umherwandeln. Um den Leib trägt sie eine schwarze Binde, die von einer silbernen Schnalle zusammengehalten wird. Auf dem Arm hat sie ihr Söhnchen, das sein Gesicht wie vor Angst an ihrer Schulter birgt. Der Zauberer aber ist seit jener Zeit mit seinem Schloss verschwunden.