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Die Gespenster – Zweiter Teil – Vierzigste Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Vierzigste Erzählung

Ein verstorbener Prediger erscheint den Tag nach der Beerdigung wieder auf der Kanzel.

In einem, wenn ich mich recht erinnere, sächsischen Städtchen starb der zweite Prediger, Herr Magister N., ein allgemein geliebter, durchaus rechtschaffener Mann, von dem man eben darum nimmermehr hätte glauben sollen, dass er im Tod noch als Gespenst die Zurückgebliebenen erschrecken werde. Und doch geschah, was niemand gefürchtet hatte. Den Morgen nach der öffentlichen Beisetzung der Leiche in eines der Kirchengewölbe ging der Küster in aller Frühe zur Kirche, um, nach der herrschenden Gewohnheit des Städtchens, läutend den neuen Tag zu verkünden. Das Läuten geschah in einer Gegend, von welcher aus man die Kanzel sehen konnte. Zufällig warf der Küster einen Blick zur Kanzel hinauf. Gott im Himmel! Da stand leibhaftig der am Vortag beigesetzte Prediger genau so, als hielte er wie einst eine Kanzelpredigt. Der Küster wurde vom Schrecken betäubt und war kaum imstande, zum ersten Prediger und Inspektor zu eilen und Bericht abzustatten.

Der Inspektor, ein vorurteilsfreier Mann, hörte lächelnd die neue Mär erzählen und äußerte einige Zweifel. Der Erzähler, zu empfindlich wie viele seiner Dienstgenossen, nahm dieses Lächeln, diese Einwürfe und Zweifel förmlich übel und meinte, er sei kein Kind, dem die Furcht Gespenster zeige, und habe Herz genug, um vor keinem alltäglichen Blendwerk wegzulaufen.

»Aber neben der gepriesenen Entschlossenheit«, erwiderte der Inspektor bescheiden, »haben wir auch Einbildungskraft, die zuweilen auch den Klügsten hintergeht. Nicht immer schützt Männersinn vor dem Trug ihrer Gaukeleien. Könnten Sie nicht beim Anblick der Kanzel das Andenken an den uns allen so teuren Verstorbenen zu lebhaft in Ihre Seele zurückgerufen haben?«

Statt aller Antwort hierauf bat der Küster seinen Vorgesetzten dringend, mit ihm zur Kirche zu gehen, um sich von dem wirklichen Dasein des vielleicht noch nicht verschwundenen Gespenstes mit eigenen Augen zu überzeugen. Der Inspektor war ein zu gefälliger Mann, als dass er ihm diese billige Bitte hätte abschlagen sollen. Auch lohnte der Gang zur Kirche die kleine Mühe. Das Gespenst stand wirklich noch auf der Kanzel und machte auch gar keine Miene zum Verschwinden. Es sah mit unverwandten Blicken vor sich hin auf das Kanzelpult, auf welchem die aufgeschlagene Kirchenagenda lag, und schien im tiefsten Nachdenken begriffen zu sein.

Der zitternde Küster triumphierte über die Gerechtigkeit, welche der leichenblasse Inspektor ihm schweigend widerfahren ließ, indem er wie versteinert da stand und starren Blickes seinen wieder auferstandenen Amtsgefährten betrachtete. Er konnte lange kein zusammenhängendes Wort hervorbringen und spielte überhaupt nun vor seinem Untergeordneten eben nicht die vorteilhafteste Rolle. Mit beklommener Brust stotterte er endlich einige an das Gespenst gerichtete Fragen hervor, aber keine derselben wurde beantwortet.

Was war nun ferner zu tun? Man trat gemeinschaftlich der Kanzel näher, um das Gespenst dadurch entweder zum Verschwinden oder wenigstens zum Antworten zu bringen. Aber vergebens! Es erfolgte weder das eine noch das andere. Alles, was man durch diese Annäherung gewann, war die festere Überzeugung, dass es wirklich der am Vortag beerdigte Magister sei, mit dem man es zu tun habe. Der Inspektor trug dem Küster auf, auf die Kanzel zu gehen, um ganz in der Nähe eine Okularuntersuchung anzustellen. Allein dieser verstand sich viel zu gut auf seinen Dienst, als dass er seinem hohen Vorgesetzten hätte vorgreifen sollen.

»Ich bin jederzeit hinter Ihnen«, hieß es. »Es würde sich nicht schicken, Ihnen in diesem wichtigen Amtsgang voranzugehen. Ihnen, dem ersten Prediger und Inspektor der Kirche und Schule, gebührt die Ehre des Vortritts. Ich aber, der unterste Kirchendiener, werde Ihnen pflichtschuldigst auf dem Fuße folgen. Der Inspektor schien mit dieser für ihn so ganz zur Unzeit angebrachten Bescheidenheit nicht zufrieden zu sein und beschloss nun, in Gottes Namen selbst voranzugehen. Dem Kirchendiener rief er zu: »Folgen Sie mir!«

Nie mochte ihm ein Kanzelgang saurer geworden sein, als dieser! Er tat ihn mit Besonnenheit und langsam, jedoch nicht ohne Entschlossenheit.

Als er nur noch eine Stufe von dem Gespenst entfernt war, wiederholte er sanft und bescheiden die Frage nach der Ursache seiner Erscheinung. Da auch nun keine Antwort erfolgte, so wagte er es, die Hand nach dem auferstandenen Herrn Magister auszustrecken, und ihn ein wenig am Leichenhemd zu zupfen. Kaum war dies geschehen, so fiel das Gespenst über den Inspektor her. In diesem Augenblick des unbeschreiblichsten Entsetzens verriet der vollkommenste Totengeruch den Nasen der Zitternden das Geheimnis.

Was dem Inspektor in die bebenden Arme sank, war kein Gespenst, auch nicht der gewesene Amtsbruder selbst, sondern dessen zurückgelassene Hülle. Auch war sie in diesem Augenblick nicht etwa nur scheintot, sondern wirklich entseelt. Dem Inspektor durchschauderte der niederschlagende Gedanke, dass sein Freund im Zustand der gebundenen Lebenskraft als ein Scheintoter in das Kirchengewölbe gebracht worden war und in der Nacht hier auf der Kanzel erst wirklich gestorben sein mochte. Vielleicht ging der Auferstandene besinnungslos auf die Kanzel, anstatt zur Kirchentür zu gehen, zu klopfen und nach Hilfe zu rufen. Vielleicht rief er wirklich, aber ohne gehört zu werden.

Dergleichen beängstigende Möglichkeiten quälten den guten Inspektor, bis endlich der weniger erschütterte und daher kaltblütigere Küster beim Anblick des gewaltsam aufgebrochenen Totengewölbes die richtige Bemerkung machte, dass der Auferstandene, um aus seiner vermauerten Gruft zu kommen, notwendig einer fremden Hilfe bedurft hätte. In der Tat bemerkte man auch da, wo das Gewölbe durchbrochen war, unverkennbare Spuren von Hammerschlägen, die von außen getan waren.

Noch nie hatte die Entdeckung eines gewaltsamen Einbruchs dem menschenfreundlichen Inspektor eine größere Freude verursacht, als dieses Mal!

Aber nun entstanden neue Fragen: Welcher Übermütige fand Beruf, den schwierigen Einbruch zu unternehmen? Wie kam er in die fest verschlossene Kirche? Und welche sonderbare Idee veranlasste ihn, die Leiche auf die Kanzel zu stellen?

Indem man über diese Fragen nachdachte, entdeckte man in einem der niedrigsten Kirchenfenster eine gewaltsame Öffnung, so groß, dass ein Erwachsener bequem hindurch konnte. Neben derselben fand man einen metallenen Kommisknopf von der Stiefelette eines Soldaten. Der Inspektor eilte zum Kommandeur des Städtchens, erzählte ihm den Verlauf der Sache und überließ es seiner Einsicht, ob und wie er vielleicht mittelst des Knopfes den Täter entdecken könne. Der Kommandeur ließ sogleich die Kompanie antreten und die Stiefeletten in Hinsicht auf etwa fehlende Knöpfe untersuchen. Da aber nur einer Einzigen ein Knopf fehlte und diese gerade demjenigen Soldaten gehörte, welcher von jeher in allem Betracht ein musterhaftes Leben geführt hatte, so war keine Hoffnung da, den Täter durch den gefundenen Knopf zu entdecken. Indessen nahm man ihn in Haft.

Ganz wider aller Erwartung bekannte er gleich im ersten Verhör, er sei der Schuldige und sagte Folgendes aus:

»Als die Leiche des seligen Magisters auf dem Paradebett lag, bemerkte ich an der einen Hand derselben einen schönen Ring. Schade, dachte ich, dass diese Kostbarkeit im Sarg für die Welt verloren gehen soll, während ich mit einer kranken Frau und sieben hungrigen Kindern Not leide. Alberne Furcht vor Gespenstern kenne ich nicht. Was hätte mich also von dem Entschluss abhalten sollen, mir aus Liebe zu den meinen in der Nacht den Ring zu holen? Stehlen, dachte ich, kann man das nicht nennen, denn stehlen heißt, seinem Nächsten heimlich das seine entwenden. Die Erde, in deren Schoß der Ring sich verloren haben würde, ist nicht mein Nächster. Das Einzige, was bei meinem Vorsatz mich noch beunruhigte, war der Umstand, dass ich das Fenster und die Gruft, welche ich durchbrechen und beschädigen musste, nicht wiederherstellen lassen durfte, obwohl ich für einen Teil des Wertes des Ringes dies hätte tun können und auch gerne getan haben würde. Die Liebe zu den meinen besiegte aber diese Bedenklichkeit nach und nach, indem mir das in die Enge getriebene Gewissen zuletzt zuflüsterte, die Kirche sei reich und ihre Armenkasse werde einen so unbedeutenden Schaden gern tragen, sofern dadurch der Not einer armen Familie abgeholfen würde. Indessen leuchtet es mir nun mehr als vor der Tat ein, dass ich wegen dieses Umstandes dennoch strafbar bin. Als ich in der Gruft ganz erschrocken bemerkte, dass die hinterbliebene Predigerwitwe, die des Ringes vielleicht selbst bedarf, diesen vor der Beisetzung der Leiche im Stillen wieder an sich genommen haben mochte, wurde ich böse und fasste im ersten heftigen Verdruss den übereilten Entschluss, zur Züchtigung der lächerlich eitlen Witwe ihres Mannes Leiche auf die Kanzel zu schleppen. Indessen auch in dieser Hinsicht gebe ich jetzt bei kälterem Blut gern zu, dass es – ob ich gleich einzig durch diese unzeitige Prahlerei der Frau Magister zu der Tat veranlasst wurde – doch mir nicht zukam, die weibliche Unbesonnenheit zu ahnden. Ich griff gleichsam einer höheren Hand vor und werde auch dafür die mir zuerkannte Strafe willig tragen.«

Dies aufrichtige Geständnis eines Sünders von seltener Gutmütigkeit machte einem jeden, der davon hörte, innige Freude und hätte auch die Richter desselben fast bestochen und dahin vermocht, anstatt zu strafen, noch obendrein eine Belohnung zu spenden. Allein die eingelaufene Nachricht, dass die Kanzelszene dem plötzlich erkrankten Inspektor ein hitziges Fieber zugezogen habe, erinnerte die Richter, die Sache auch noch aus dem Gesichtspunkt des zufällig veranlassten Schadens zu betrachten. Sie fanden daher für gut, ungeachtet der anderweitigen Unverdorbenheit des Schuldigen, auf eine der Sache angemessene Bestrafung desselben zu erkennen, und zwar von Rechtswegen.