Fantômas – Kapitel 25
Gurn ging nach diesem Gespräch nervös in seiner Zelle auf und ab, als die Tür geöffnet wurde und das fröhliche Gesicht des Wärters Nibet hineinblickte.
»Guten Abend, Gurn«, sagte er, »es ist sechs Uhr, und der Gastwirt gegenüber will wissen, ob er dir dein Abendessen schicken soll.«
»Nein«, knurrte Gurn. »Ich will das normale Gefängnisessen haben.«
»Ach so!«, sagte der Wärter, »die Geldmittel reichen nicht aus, was? Natürlich ist es nicht an dir, unsere Nahrung zu verachten, aber trotzdem. Regierungsbohnen …«
Er kam weiter in die Zelle, ignorierte Gurns ungehaltene Einstellung zu seinem Gemüt während seiner Anwesenheit und sagte in einem tiefen Ton: »Da, nimm das«, und schob eine Banknote in die Hand des verblüfften Gefangenen. »Und wenn du noch mehr willst, werden sie kommen«, fügte er hinzu. Er machte ein Zeichen zu Gurn, um nichts zu sagen, und ging zur Tür. »Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Ich gehe einfach und bestelle ein anständiges Abendessen für dich.«
Gurn hatte das Gefühl, als wäre ein gewaltiges Gewicht von ihm genommen worden. Die Zelle schien größer, die Gefängnismauern weniger hoch. Er war sich sicher, dass Lady Beltham ihn nicht im Stich lassen würde. Er hatte nie an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle für ihn gezweifelt, aber er war sich durchaus bewusst, dass es einer Frau in ihrer heiklen Situation peinlich sein könnte, zugunsten eines Gefangenen einzugreifen, und noch viel mehr im Falle desjenigen, von dem die ganze Welt glaubte, dass er der eigenhändige Mörder ihres Mannes sei. Aber nun war Lady Beltham eingeschritten. Es war ihr gelungen, mit ihm über das Medium dieses Wärters zu kommunizieren. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie noch viel mehr tun.
Die Tür öffnete sich wieder. Der Wärter trat ein und trug einen langen Binsenkorb mit mehreren Tellern und einer Flasche Wein.
»Nun, Gurn, das ist eine angenehmere Art von Abendessen, was?«
»Mein Gott, ich wollte es doch«, sagte der Mörder mit einem Lächeln. »Es war eine gute Idee von Ihnen, Monsieur Nibet, darauf zu bestehen, dass ich mein Abendessen von draußen bekommen habe.«
Nibet blinzelte. Er schätzte den Takt seines Gefangenen. Offensichtlich war er nicht einer, der unangebrachte Anspielungen auf den Disziplinarverstoß des Wärters machte, der ihm so einfach, aber sehr unregelmäßig Geld übermittelte.
Als er aß, unterhielt sich Gurn mit Nibet.
»Ich nehme an, Sie sind es, der Siegenthals Wohnung bekommen wird?«
»Ja«, sagte Nibet und trank den Wein, den Gurn ihm angeboten hatte. »Ich habe um die Wohnung gebeten, aber bekam sie nie. Mir wurde immer gesagt, ich solle warten, weil die Wohnung nicht frei war, und für Siegenthal, der mein Vorgesetzter war, musste zunächst eine andere gefunden werden. Aber das alte Tier hätte nie einen Antrag gestellt. Vor drei Tagen wurde ich jedoch zum Ministerium geschickt. Einer der Mitarbeiter erzählte mir, dass sich jemand in der Botschaft, in der Regierung oder irgendwo für mich interessiert. Sie stellten mir viele Fragen und ich erzählte ihnen alles darüber. Dann wurde Siegenthal plötzlich nach Poissy versetzt und ich bekam hier seinen Posten.«
Gurn nickte. Er sah Licht am Ende des Tunnels.
»Und was ist mit dem Geld?«
»Das ist noch seltsamer, aber ich habe trotzdem verstanden. Eine Dame traf mich neulich Abend auf der Straße und sprach mich beim Namen an. Wir unterhielten uns dort auf dem Bürgersteig, denn die Straße war leer. Sie schob mir ein paar Banknoten in die Hand, nicht nur … ein oder zwei, sondern einen großen Batzen. Sie sagte mir, dass sie an mir interessiert sei … an dir, und dass, wenn die Dinge sich herausstellen würden, wie sie sich wünschte, gäbe es noch viel mehr Banknoten, wo auch immer diese herkommen.«
Während der Wärter sprach, beobachtete Gurn ihn aufmerksam. Der Mörder war ein erfahrener Leser von Gesichtszügen. Schnell erkannte er, dass die Auswahl seiner Geliebten auf ein ausgezeichnetes Objekt gefallen war. Dicke Lippen, eine schmale Stirn und markante Wangenknochen suggerierten eine materielle Natur, die vor nichts zögerte, was seinen fleischlichen Appetit stillen würde. So entschied Gurn, dass weitere Umschreibung so viel Zeitverschwendung sei und dass er sicher zum Punkt kommen könne. Er legte seine Hand vertraut auf die Schulter des Wärters.
»Ich habe es satt, hier zu sein«, bemerkte er.
»Ich wage zu sagen«, antwortete der Wärter unruhig, »aber du musst dich von der Vernunft leiten lassen. Die Zeit vergeht, und die Dinge regeln sich von selbst.«
»Das tun sie, wenn du ihnen hilfst«, sagte Gurn entschieden. »Du und ich werden ihnen helfen.«
»Das bleibt abzuwarten«, sagte der Wärter.
»Natürlich muss alles bezahlt werden«, fuhr Gurn fort. »Man kann nicht erwarten, dass ein Wärter seine Stellung aufs Spiel setzt, nur um einem Gefangenen bei der Flucht zu helfen.« Er lächelte, als der Wärter einen Aufschrei vor Nervosität machte. »Hab keine Angst, Nibet. Wir werden keine dummen Spiele spielen, aber lass uns ernsthaft reden. Sicherlich hast du noch ein Treffen mit der ehrenwerten Dame, die dir das Geld gegeben hat?«
»Ich werde sie heute Abend um elf Uhr auf dem Boulevard Arago treffen«, sagte Nibet nach einem Moment des Zögerns.
»Gut«, sagte Gurn. »Nun, du sollst ihr sagen, dass ich zehntausend Franc haben muss.«
»Was?«, rief der Mann erstaunt aus, aber seine Augen strahlten vor Gier.
»Zehntausend Francs«, wiederholte Gurn ruhig, »und bis morgen früh. Fünfzehnhundert davon sind für dich. Ich werde morgen Abend verschwinden.«
Es herrschte ein angespanntes Schweigen. Der Wärter schien unsicher zu sein. Gurn brachte seine gesamte Willenskraft auf, um ihn zu überreden.
»Angenommen, sie verdächtigen mich?«, sagte Nibet.
»Idiot!« Gurn erwiderte: »Alles, was du tun wirst, wird sein, einen Fehler in deiner Pflichterfüllung zu machen. Ich will nicht, dass du ein Komplize wirst. Hör zu: Es wird noch fünftausend Franken für dich geben. Wenn es dir unangenehm wird, brauchst du nur nach England zu gehen und dort für den Rest deiner Tage vorzüglich wohnen.«
Der Wärter war offensichtlich fast bereit, sich daran zu halten.
»Wer wird mir das garantieren?«, fragte er.
»Die Dame, ich sage dir, die Dame vom Boulevard Arago. Hier, gib ihr das.« Er riss ein Blatt aus seiner Tasche und gab es Nibet, indem er ein paar Worte darauf schrieb.
»Nun«, sagte der Wärter zögernd, »ich sage nicht nein.«
»Du musst ja sagen«, betonte Gurn.
Die beiden sahen sich ständig in die Augen, dann wurde der Wärter schwach.
»Ja«, sagte er.
Nibet ging weg und war schon fast im Flur, als Gurn ihn in aller Ruhe zurückrief.
»Du wirst einen Plan entwickeln, und ich werde morgen damit anfangen. Vergiss nicht, mir einen Fahrplan zu bringen. Der Fahrplan der Orléans Entreprise wird genügen.«
***
Der Mörder war von seinen Erwartungen nicht enttäuscht. Am nächsten Morgen erschien Nibet mit einem geheimnisvollen Gesicht und eifrigen Augen. Er zog ein kleines Bündel unter seinem Trikot hervor und gab es Gurn.
»Versteck das in deinem Bett«, sagte er.
Gurn gehorchte.
Der Morgen verging ohne weitere Vorfälle. Zahlreiche Aufseher kamen und gingen auf dem Gang, kümmerten sich um die Gefangenen. Gurn konnte kein privates Gespräch mit Nibet führen, der jedoch versuchte, unter verschiedenen Vorwänden mehrmals in seine Zelle zu kommen und ihm mit einem Nicken oder einem Wort zu versichern, dass alles gut ging. Aber nun, als sie während des Hofganges herumliefen, konnten die beiden Männer ein Gespräch miteinander führen.
Nibet zeigte einen Verstand, von dem seine äußere Erscheinung keinen Rückschluss gab. Aber es scheint eine Tatsache zu sein, dass originelle Fähigkeiten, selbst von Menschen minderwertiger geistiger Qualitäten, geschärft werden, wenn sie in Unheil verwickelt sind.
»In den letzten drei Wochen«, sagte er, »haben etwa eine ganze Reihe von Maurern im Gefängnis gearbeitet, das Dach repariert und einige der Zellen renoviert. Zelle 129, die nächste neben dir, ist leer, und es gibt keine Gitter am Fenster. Die Maurer gehen durch diese Zelle durch das Fenster, um auf das Dach zu gelangen. Sie unterbrechen die Arbeit kurz nach sechs Uhr. Der Pförtner kennt sie alle, aber er schaut nicht immer genau auf ihre Gesichter, wenn sie bei ihm vorbeigehen. Vielleicht kannst du ja mit ihnen hinausgehen. In dem Bündel, das ich dir gegeben habe, ist eine Arbeiterhose, eine Weste und ein Filzhut. Zieh alles an. Um etwa viertel vor sechs kommen die Männer, die durch die Zelle auf das Dach gestiegen waren, über die Dachfenster zur Treppe, vorbei am Büro, wo ihnen keine Fragen gestellt werden, überqueren die beiden Höfe und gehen durch das Haupttor hinaus. Ich werde die Tür deiner Zelle ein paar Minuten vor sechs öffnen. Du musst in die leere Zelle neben deiner gehen, auf das Dach schlüpfen und dich hinter dem Schornstein verstecken, bis die Männer ihre Arbeit beendet haben. Lass sie vor dir hinuntergehen und folgte ihnen mit einem Pickel oder einer Schaufel auf deiner Schulter. Wenn du an dem Angestellten vorbeikommst, oder irgendwo, wo du beobachtet werden könntest, solltest du die Männer einen oder zwei Meter vor dir gehen lassen. Wenn das Tor nach dem letzten Arbeiter geschlossen wird, dann ruf unauffällig, aber so natürlich wie möglich: ›Warte, Monsieur Morin, denk daran, dass du mich nicht einsperrst. Ich bin nicht einer deiner Mieter, lass mich nach meinen Kameraden raus.‹ Mach einen solchen Witz. Wenn du einmal vor dem Tor bei George, meinem Jungen, bist, musst du verduften!«
Gurn hörte aufmerksam auf die Anweisungen des Wärters. Lady Beltham muss in der Tat großzügig gewesen sein und den Mann bei der Gestaltung seiner eigenen Zukunft vollkommen entlastet haben.
»In einer der Taschen der Klamotten«, fuhr Nibet fort, »habe ich zehn Hundert-Franc-Noten deponiert. Du hast um mehr gebeten, aber ich konnte nicht so viel auftreiben. Wir können das ein anderes Mal klären.«
Gurn gab keinen Kommentar ab.
»Wann wird meine Flucht entdeckt werden?«, fragte er.
»Ich bin im Nachtdienst«, antwortete der Wärter. »Ordne deine Klamotten auf deinem Bett so an, dass es aussieht, als wärst du im Bett. Dann werden sie denken, dass ich vielleicht getäuscht worden bin. Ich habe um fünf Feierabend, die nächste Runde ist um acht. Mein Kollege wird die Tür der Zelle öffnen, und bis dahin bist du schon über alle Berge.«
Gurn nickte verständnisvoll. Die Zeit ließ ein längeres Gespräch nicht zu. Vor wenigen Minuten hatte die Glocke geläutet und verkündet, dass der Hofgang vorbei sei. Die beiden Männer liefen nach oben zur Zelle 127 im dritten Stock. Der Gefangene wurde wieder eingeschlossen, während Nibet wie gewohnt seinen Dienst verrichtete.