Die drei Musketiere 24
Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere
4. bis 6. Bändchen
Historischer Roman, aus dem Französischen von August Zoller, Stuttgart 1844, überarbeitet nach der neuen deutschen Rechtschreibung
VIII.
Der Pavillon
Um sieben Uhr befand sich d’Artagnan bei der Villa der Garden. Er fand Planchet unter den Waffen. Das vierte Pferd war eingetroffen. Planchet hatte seine Muskete und eine Pistole bei sich. D’Artagnan war mit seinem Degen bewaffnet und steckte zwei Pistolen in seinen Gürtel. Dann schwangen sich beide zu Pferd und zogen geräuschlos ab. Es war finstere Nacht und niemand sah, wie sie sich entfernten. Planchet ritt zehn Schritte hinter seinem Herrn.
D’Artagnan ritt über die Kais, zog durch die Porte de la Conference und schlug sodann den reizenden Weg ein, der nach Saint-Cloud führt und damals noch viel schöner war, als heutzutage.
So lange man in der Stadt war, hielt sich Planchet in der ehrfurchtsvollen Entfernung, die er sich vorgeschrieben hatte. Aber als der Weg öder und dunkler zu werden anfing, näherte er sich ganz sachte, sodass er, als man das Bois de Boulogne erreichte, auf eine ganz natürliche Weise neben seinem Herrn einher zog. Wir können nicht verschweigen, dass die zitternde Bewegung der großen Bäume und der Widerschein des Mondes in dem düsteren Gehölz ihm eine lebhafte Unruhe verursachte.
D’Artagnan bemerkte, dass in seinem Bedienten etwas Außerordentliches vorging, und fragte ihn: »Ei, Monsieur Planchet, was haben wir denn?«
»Findet Ihr nicht, gnädiger Monsieur, dass die Wälder gerade wie die Kirchen sind?«
»Warum dies, Planchet?«
»Weil man in diesen wie in jenen nicht laut zu sprechen wagt.«
»Warum wagst du nicht laut zu sprechen, Planchet? Weil du Furcht hast?«
»Furcht, gehört zu werden, ja, gnädiger Monsieur.«
»Furcht, gehört zu werden? Unser Gespräch ist doch moralischer Natur und niemand wird etwas dagegen einzuwenden haben!«
»Ach, gnädiger Monsieur«, versetzte Planchet, auf den in ihm vorherrschenden Gedanken zurückkommend, »dass dieser Monsieur Bonacieux etwas Duckmäuserisches in seinen Augenbraunen und etwas Widerwärtiges im Spiel seiner Lippen hat, ist gewiss nicht zu leugnen!«
»Wer Teufel heißt dich an Bonacieux denken?«
»Gnädiger Monsieur, man denkt, an was man kann, und nicht an was man will.«
»Weil du ein Hasenherz bist, Planchet.«
»Gnädiger Monsieur, wir wollen nicht die Klugheit mit der Feigheit verwechseln. Die Klugheit ist eine Tugend.«
»Und du bist tugendhaft, nicht wahr, Planchet?«
»Gnädiger Monsieur, ist das nicht ein Musketenlauf, was da unten glänzt? Wenn wir uns bückten?«
»Wahrlich«, murmelte d’Artagnan, der sich an den Rat des Monsieur de Tréville erinnerte, »wahrlich, dieses Vieh könnte mir am Ende Bange machen.« Er setzte sein Pferd in Trab.
Planchet folgte der Bewegung seines Herrn so genau, als ob er sein Schatten gewesen wäre, und hielt sich trabend an seiner Seite.
»Werden wir die ganze Nacht so marschieren, gnädiger Monsieur?«, fragte er.
»Nein, Planchet, denn du bist an Ort und Stelle.«
»Wie! Ich bin an Ort und Stelle! Und der gnädige Monsieur?«
»Ich gehe noch einige Schritte.«
»Und der gnädige Monsieur lässt mich hier allein?«
»Hast du bange, Planchet?«
»Nein, aber ich erlaube mir zu bemerken, dass die Nacht sehr kalt sein wird, dass die Kühle Rheumatismen verursacht und dass ein mit Rheumatismus behafteter Lakai ein trauriger Bedienter ist, besonders für einen so rüstigen Mann, wie der gnädige Monsieur.«
»Wohl, wenn du frierst, Planchet, so gehe in eine von den Schenken, die du da unten siehst, und erwarte mich morgen früh um sechs Uhr vor der Tür.«
»Gnädiger Monsieur, ich habe den Taler, den Ihr mir diesen Morgen gegeben habt, ehrfurchtsvoll verspeist und vertrunken, sodass mir kein elender Sou mehr übrig bleibt, falls ich frieren würde.«
»Hier ist eine halbe Pistole. Morgen also.«
D’Artagnan stieg vom Pferd, warf Planchet den Zügel über den Arm, hüllte sich in seinen Mantel und ging rasch weg.
»Gott wie kalt«, rief Planchet, sobald er seinen Herrn aus dem Gesicht verloren hatte. Um sich so schnell wie möglich wieder zu erwärmen, klopfte er eiligst an die Tür eines Hauses, das mit allen Zeichen einer Schenke geschmückt war.
D’Artagnan, der einen kleinen Fußpfad eingeschlagen hatte, setzte mittlerweile seine Wanderung fort und erreichte Saint Cloud, aber statt die Landstraße zu nehmen, wandte er sich hinter das Schloss, ging durch eine ziemlich verborgene Gasse und befand sich bald vor dem bezeichneten Pavillon. Dieser lag an einem völlig öden Ort. Eine große Mauer, an deren Ecke er den Pavillon gewahr wurde, zog sich an der einen Seite dieser Gasse hin, auf der anderen beschützte eine Hecke, in deren Hintergrund sich eine elende Hütte erhob, einen kleinen Garten gegen die Vorübergehenden.
Er hatte die Stelle des Rendezvous erreicht. und da man ihm nicht angedeutet hatte, dass er seine Gegenwart durch ein Signal kundgeben sollte, so wartete er.
Nicht das geringste Geräusch ließ sich vernehmen. Man hätte in der Tat glauben sollen, man wäre hundert Meilen von der Hauptstadt entfernt. D’Artagnan lehnte sich an die Hecke, nachdem er einen Blick hinter sich geworfen hatte. Jenseits der Hecke des Gartens und der Hütte hüllte ein düsterer Nebel den unermesslichen Raum in seine Falten, wo Paris schläft, eine gähnende Leere, in welcher noch einige leuchtende Punkte, düstere Sterne dieser Hölle glänzten.
Aber für d’Artagnan kleideten sich alle diese Ansichten in eine glückliche Gestalt, alle Gedanken hatten ein Lächeln, alle Finsternisse waren durchsichtig. Die Stunde des Rendezvous sollte schlagen. Nach Verlauf einiger Minuten ließ wirklich der Glockenturm von Saint Cloud langsam zehn Schläge aus seinem blökenden Rachen fallen. Es lag etwas Trauriges in dieser ehernen, mitten in der Nacht wehklagenden Stimme.
Aber jeder dieser Schläge, welcher die erwartete Stunde bildete, vibrierte harmonisch im Herzen des jungen Mannes.
Seine Augen blieben auf den kleinen an der Ecke der Mauer liegenden Pavillon gerichtet, dessen Fenster insgesamt durch Läden verschlossen waren, mit Ausnahme eines einzigen im ersten Stock. Durch dieses Fenster glänzte ein sanftes Licht, welches das zitternde Laubwerk einiger Linden versilberte, die eine Gruppe bildend, sich vor dem Park erhoben. Hinter diesem so anmutig beleuchteten Fenster erwartete ihn offenbar die hübsche Madame Bonacieux.
Von diesem süßen Gedanken gewiegt, harrte d’Artagnan eine halbe Stunde ohne die geringste Ungeduld, den Blick auf die reizende kleine Wohnung geheftet, von der er teilweise den Plafond mit den vergoldeten Leisten erblickte, welche auf die Eleganz des Übrigen schließen ließen.
Im Glockenturm von Saint Cloud schlug es halb elf Uhr. Diesmal durchlief ein Schauer die Adern unsres Helden, ohne dass er begriff, warum. Vielleicht bemächtigte sich die Kälte seiner, und er nahm eine ganz körperliche Empfindung für einen moralischen Eindruck.
Dann kam ihm der Gedanke, er habe schlecht gelesen und das Rendezvous sei erst auf elf Uhr bestimmt.
Er näherte sich dem Fenster, stellte sich in einen Lichtstrahl, zog den Brief aus der Tasche und las ihn abermals. Er hatte sich nicht getäuscht; das Rendezvous war auf zehn Uhr festgesetzt. Er begab sich wieder auf seinen Posten und fing an, über diese Stille und Einsamkeit sehr traurig zu werden.
Es schlug elf Uhr.
D’Artagnan begann nun wirklich zu fürchten, es könnte Madame Bonacieux etwas widerfahren sein.
Er schlug dreimal in seine Hände, das gewöhnliche Zeichen der Verliebten, aber niemand antwortete, nicht einmal das Echo.
Dann dachte er, nicht ohne einen gewissen Ärger, die junge Frau sei vielleicht, während sie ihn erwartete, eingeschlafen. Er näherte sich der Mauer und versuchte hinaufzusteigen, aber sie war neu bestrichen und d’Artagnan brach sich vergeblich die Nägel ab.
In diesem Augenblick bemerkte er die Bäume, deren Blätter fortwährend vom Licht versilbert wurden. Da einer derselben auf den Weg vorsprang, so glaubte er, aus seinen Zweigen würde sein Blick in den Pavillon dringen können.
Der Baum war leicht zu ersteigen. D’Artagnan zählte überdies erst zwanzig Jahre und erinnerte sich seiner Schülerübungen. Sogleich befand er sich mitten unter den Zweigen und durch die durchsichtigen Scheiben tauchte sein Blick in das Innere des Pavillons.
Seltsamer Anblick, der d’Artagnan vom Scheitel bis zur Fußsohle schaudern machte. Dieses sanfte Licht, diese ruhige Lampe beleuchtete eine Szene furchtbarer Zerstörung. Eine der Fensterscheiben war zerbrochen, die Tür hatte man eingestoßen und sie hing halb zertrümmert an ihren Angeln. Ein Tisch, auf dem ein elegantes Abendbrot gestanden haben musste, lag auf dem Boden. Scherben von den Flaschen lagen aus dem Fußteppich umher und zwischen denselben sah man Früchte und Speisen umhergeworfen. Alles zeugte dafür, dass in diesem Zimmer ein heftiger, verzweiflungsvoller Kampf stattgefunden hatte. D’Artagnan glaubte sogar mitten unter diesem seltsamen Durcheinander Fetzen von Kleidern und Blutflecken am Tischtuch und an den Vorhängen zu erkennen.
Er beeilte sich mit grässlichem Herzklopfen wieder auf die Straße herabzusteigen und wollte sehen, ob er keine andere Spuren von Gewalttat wahrnehmen könnte.
Das sanfte Licht glänzte immer noch in der Stille der Nacht. D’Artagnan bemerkte nun, was ihm früher entging, da ihn nichts vorher zu einer näheren Prüfung antrieb, dass der Boden, da und dort eingetreten und durchlöchert, verworrene Spuren von Menschentritten und Pferdehufen zeigte. Überdies hatten die Räder eines Wagens, der von Paris zu kommen schien, in der weichen Erde einen tiefen Eindruck ausgehöhlt, der nicht über die Höhe des Pavillons ging und gegen Paris zurückkehrte.
Seine Nachsuchungen weiter verfolgend, fand d’Artagnan in der Nähe der Mauer einen Frauenhandschuh, der jedoch an allen Punkten, wo er die schmutzige Erde nicht berührt hatte, von tadelloser Frische war. Es war in der Tat einer jener duftenden Handschuhe, wie die Liebenden sie so gerne einer hübschen Hand entreißen.
Je länger d’Artagnan seine Forschungen fortsetzte, desto stärker troff ein eisiger Schweiß von seiner Stirn. Sein Herz schnürte sich in furchtbarerer Angst zusammen, sein Atem wurde keuchend. Dennoch suchte er sich durch den Gedanken zu beruhigen, dieser Pavillon habe vielleicht nichts mit Madame Bonacieux gemein. Die junge Frau habe ihn ja vor und nicht in den Pavillon beschieden. Sie könnte in Paris durch ihren Dienst, durch die Eifersucht ihres Gatten zurückgehalten worden sein. Aber alle diese Betrachtungen wurden abgeschwächt, zerstört, über den Haufen geworfen durch jenes schmerzliche innere Gefühl, das sich bei gewissen Veranlassungen unseres ganzen Seins bemächtigt und uns durch all das, was wir zu hören bestimmt sind, zuruft, dass ein großes Unglück über uns schwebe.
D’Artagnan wurde nun beinahe wahnsinnig. Er lief zur Landstraße, schlug denselben Weg ein, den er bereits gemacht hatte, und ging bis zu der Fähre, um den Fährmann zu befragen.
Gegen sieben Uhr abends hatte der Fährmann eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Frau übergesetzt, der viel daran zu liegen schien, dass man sie nicht erkenne. Aber gerade wegen der Vorsichtsmaßregel, die sie nahm, betrachtete sie der Fährmann mit größerer Aufmerksamkeit und erkannte, dass es eine junge und schöne Frau war.
Damals wie heutzutage gab es eine Menge junger und schöner Frauen, welche nach St. Cloud kamen, und denen sehr viel daran lag, nicht erkannt zu werden. Und dennoch zweifelte d’Artagnan nicht einen Augenblick daran, dass Madame Bonacieux vom Fährmann erkannt worden war.
D’Artagnan benutzte die Lampe, welche in der Hütte des Fährmanns brannte, um das Billett von Madame Bonacieux noch einmal zu lesen und sich zu überzeugen, dass er sich nicht getäuscht, dass das Rendezvous in St. Cloud, und nicht anderswo, vor dem Pavillon des Monsieur d’Estrées und nicht in einer anderen Straße stattfinden sollte. Alles wirkte zusammen, um d’Artagnan zu beweisen, dass seine Ahnungen ihn nicht täuschten und dass sich ein großes Unglück ereignet hatte.
Er lief rasch auf dem Weg zum Schloss zurück. Er dachte, es sei in dem Pavillon vielleicht etwas Neues vorgefallen, und es müssen ihn Nachrichten dort erwarten.
Die Gasse war immer noch öde und derselbe ruhige, sanfte Schein verbreitete sich aus dem Zimmer. D’Artagnan dachte nun an das blinde und taube Gemäuer, das aber ohne Zweifel gesehen hatte und vielleicht sprechen konnte. Die Tür des Zauns war geschlossen, aber er sprang über die Hecke und näherte sich der Hütte trotz des Bellens eines Kettenhundes.
Auf die ersten Schläge antwortete niemand. Es herrschte eine Todesstille in der Hütte wie im Pavillon. Da jedoch diese Hütte seine letzte Zuflucht war, so blieb er beharrlich.
Bald glaubte er im Inneren ein leichtes Geräusch zu vernehmen, ein furchtsames Geräusch, ein Geräusch, das zitterte, gehört zu werden.
D’Artagnan hörte nun auf zu klopfen und bat mit einem Ton so voll Unruhe und Versprechungen, voll Schrecken und Schmeichelei, dass seine Stimme auch den Furchtsamsten beruhigen musste. Endlich wurde ein alter, wurmstichiger Laden ein wenig geöffnet, aber sogleich wieder geschlossen, als der Schein einer elenden Lampe, welche in einem Winkel brannte, d’Artagnans Wehrgehänge, seinen Degengriff und den Schaft seiner Pistolen beleuchtete. So rasch die Bewegung gewesen war, so hatte d’Artagnan doch Zeit gehabt, flüchtig den Kopf eines Greises wahrzunehmen.
»Um Gottes willen!«, rief er, »hört mich. Ich erwarte jemand, der nicht kommt, und sterbe vor Unruhe. Sollte ein Unglück in der Gegend vorgefallen sein? Sprecht!«
Das Fenster öffnete sich langsam zum zweiten Mal und dasselbe Gesicht erschien wieder, nur war es viel bleicher als das erste Mal.
D’Artagnan erzählte ganz unumwunden seine Geschichte beinahe bis auf die Namen. Er sagte, wie er mit einer jungen Frau vor diesem Pavillon hätte Rendezvous haben sollen, und wie er, da sie nicht erschienen war, auf eine Linde gestiegen und beim Lampenschein die Zerstörung im Inneren des Zimmers gesehen habe.
Der Greis hörte ihm aufmerksam zu und bestätigte durch Zeichen, dass es sich so verhalten müsse. Als d’Artagnan geendet hatte, schüttelte er den Kopf mit einer Miene, die nichts Gutes andeutete.
»Was wollt Ihr sagen?«, rief d’Artagnan. »Ich beschwöre Euch im Namen des Himmels, erklärt Euch.«
»Oh! Monsieur«, sprach der Greis, »fragt mich nicht, denn wenn ich Euch sagte, was ich gesehen habe, würde es mir sicherlich schlimm ergehen.«
»Ihr habt also etwas gesehen?«, versetzte d’Artagnan. »In diesem Fall bitte ich Euch um Gotteswillen«, fuhr er, dem Alten ein Goldstück zuwerfend, fort, »sagt, sagt, was Ihr gesehen habt, und ich gebe Euch mein Wort als Edelmann, dass nichts von dem, was Ihr mir mitteilt, über meine Lippen kommen soll.«
Der Greis las in d’Artagnans Gesicht so viel Schmerz und Offenherzigkeit, dass er ihm ein Zeichen gab, er möge hören, und mit leiser Stimme sprach: »Es war ungefähr neun Uhr. Ich vernahm ein Geräusch auf der Straße und wollte wissen, was das sein könnte, als man sich meiner Tür näherte und ich sah, dass jemand hereinzukommen versuchte. Da ich arm bin und mich nicht vor Dieben zu fürchten habe, so öffnete ich und erblickte einige Schritte vor mir drei Männer. Im Schatten stand ein Wagen mit angespannten Pferden und Reitpferden. Letztere gehörten offenbar den drei Männern, welche als Reiter gekleidet waren.«
»Aber meine guten Messieurs«, rief ich, »was verlangt Ihr?«
»Du musst eine Leiter haben«, sprach derjenige von ihnen, welcher der Anführer der Eskorte zu sein schien.
»Ja Monsieur, diejenige, mit welcher ich mein Obst pflücke.«
»Gib sie uns und geh wieder in deine Hütte. Hier ist ein Taler für die Störung. Erinnere dich jedoch, dass du, wenn du ein Wort von dem sagst, was du sehen oder hören wirst, und du wirst sehen und hören, wie sehr wir dich auch bedrohen mögen, dass du, sage ich, verloren bist.«
»Bei diesen Worten warf er mir einen Taler zu, den ich aufhob, und nahm meine Leiter.
»Nachdem ich die Tür der Hecke hinter ihnen verschlossen hatte, stellte ich mich wirklich, als kehrte ich in das Haus zurück, aber ich ging sogleich wieder durch eine Hintertür hinaus und schlüpfte in den Schatten. Es gelang mir, das Holundergebüsch zu erreichen, aus dem ich alles sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Die drei Männer hatten den Wagen ohne Geräusch vorfahren lassen und zogen einen kleinen, dicken, kurzen, ärmlich gekleideten Mann heraus, welcher vorsichtig die Leiter hinaufkletterte, duckmäuserisch in das Innere des Zimmers schaute, leise wieder herabstieg und mit gedämpfter Stimme murmelte: ›Sie ist es!‹ Sogleich näherte sich derjenige, welcher mit mir gesprochen hatte, der Pavillontür und öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich trug, verschloss die Tür wieder und verschwand. Zu gleicher Zeit stiegen die zwei anderen die Leiter hinauf. Der kleine Alte blieb am Kutschenschlag, der Kutscher hielt die Wagenpferde und ein Lakai die Reitpferde. Plötzlich ertönte ein gewaltiges Geschrei im Pavillon. Eine Frau lief an das Fenster und öffnete es, als wollte sie sich hinausstürzen. Aber sobald sie die zwei Männer erblickte, warf sie sich zurück; die zwei Männer sprangen ihr ins Zimmer nach. Nun sah ich nichts mehr, aber ich hörte ein Getöse, als ob Möbel zerschlagen würden. Die Frau kreischte und schrie um Hilfe. Bald wurde ihr Geschrei erstickt. Die drei Männer näherten sich, die Frau in ihren Armen tragend, dem Fenster. Zwei stiegen auf der Leiter herab und brachten sie in den Wagen, in den der kleine Alte nach ihr hineinkletterte. Derjenige, welcher im Pavillon geblieben war, verschloss das Fenster wieder, trat einen Augenblick nachher zur Tür heraus und überzeugte sich, dass die Frau im Wagen gut untergebracht war. Seine zwei Gefährten erwarteten ihn bereits zu Pferde. Er sprang ebenfalls in den Sattel. Der Lakai nahm seinen Platz neben dem Kutscher ein. Der Wagen entfernte sich, von den drei Reitern geleitet, im Galopp, und alles war vorüber. Von diesem Augenblick an habe ich nichts mehr gehört, nichts mehr gesehen.«
Niedergeschmettert von einer so furchtbaren Kunde, blieb d’Artagnan stumm und unbeweglich, während in seinem Inneren alle Teufel des Zorns und der Eifersucht wüteten.
»Aber, mein edler Monsieur«, versetzte der Greis, auf den diese Verzweiflung eine größere Wirkung hervorbrachte, als ob er geschrien und geweint hätte. »Lasst Euch doch nicht vom Schmerz so sehr niederbeugen. Sie haben sie Euch nicht getötet, das ist die Hauptsache.«
»Wisst Ihr vielleicht«, sprach d’Artagnan, »wer der Mann ist, der diese höllische Expedition anführte?«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Aber da er mit Euch sprach, so konntet Ihr ihn doch wohl sehen?«
»Ah! Ihr verlangt sein Signalement von mir.«
»Ja.«
»Ein großer, magerer Mann von schwärzlicher Gesichtsfarbe, mit schwarzem Schnurrbart, schwarzen Augen und dem ganzen Wesen eines Edelmanns.«
»Der ist es!«, rief d’Artagnan, »abermals er! Immer er! Das ist mein böser Dämon, wie es scheint! Und der andere?«
»Welcher?«
»Der Kleine.«
»Ah! Das ist kein vornehmer Monsieur! Dafür stehe ich. Auch trug er keinen Degen, und die anderen behandelten ihn durchaus nicht mit Achtung.«
»Irgendein Lakai«, murmelte d’Artagnan. »Oh! Arme Frau, arme Frau! Was haben sie mit dir gemacht?«
»Ihr habt mir Geheimhaltung versprochen«, sagte der Greis.
»Ich erneuere Euch mein Versprechen. Seid unbesorgt, ich bin ein Edelmann. Ein Edelmann hat nur sein Ehrenwort, und ich habe Euch das meine gegeben.«
Mit tief verwundeter Seele schlug d’Artagnan wieder den Weg zur Fähre ein. Bald konnte er nicht glauben, dass es Madame Bonacieux gewesen war, und er hoffte sie am anderen Tag wieder im Louvre zu finden. Bald befürchtete er, sie könnte einen Liebeshandel mit einem anderen haben, und ein Eifersüchtiger habe sie überfallen und entführt. Er schwankte, er wütete, er verzweifelte.
»O, wenn meine Freunde hier wären!« rief er, »dann hätte ich wenigstens Hoffnung, sie wiederzufinden, aber wer weiß, was aus ihnen geworden ist?«
Es war beinahe Mitternacht, und er musste Planchet aufsuchen. D’Artagnan ließ sich nach und nach alle Schenken öffnen, in denen er etwas Licht bemerkte. In keiner derselben fand er Planchet. Bei der sechsten bedachte er, dass die Nachforschung etwas gewagt war. D’Artagnan hatte seinen Bedienten erst auf sechs Uhr morgens bestellt, und derselbe befand sich in seinem Recht, wo er auch sein mochte. Überdies kam dem jungen Mann der Gedanke, dass er, wenn er in der Nähe des Ortes bliebe, wo das Ereignis vorgefallen war, vielleicht einige Aufklärung über die geheimnisvolle Geschichte erhalten würde. In der sechsten Schenke blieb d’Artagnan also, verlangte eine Flasche Wein erster Qualität und zog sich in den dunkelsten Winkel zurück, entschlossen, hier den Tag zu erwarten. Aber auch diesmal wurde er in seiner Hoffnung getäuscht. Obwohl er mit gespitzten Ohren horchte, vernahm er doch mitten unter den Flüchen, den Späßen und den Grobheiten, welche die Arbeiter, Lakaien und Fuhrleute, in deren ehrenwerte Gesellschaft er geraten war, einander zuwarfen, durchaus nichts, was ihn auf die Spur der entführten Frau bringen konnte. Nachdem er also, um kein Aufsehen zu erregen, seine Flasche in aller Muße geleert hatte, musste er in seinem Winkel eine möglichst entsprechende Lage suchen und wohl oder übel schlafen. D’Artagnan zählte, wie man sich erinnern wird, erst zwanzig Jahre, und in diesem Alter hat der Schlaf unverjährbare Rechte, die er gebieterisch auch von dem verzweiflungsvollsten Gemüt fordert.
Gegen sechs Uhr morgens erwachte d’Artagnan mit jener Unbehaglichkeit, welche gewöhnlich bei Tagesanbruch nach einer schlechten Nacht eintritt. Seine Toilette machte ihm nicht lange zu schaffen. Er betastete sich, um sich zu überzeugen, dass man seinen Schlaf nicht zu einer Beraubung benutzt hatte. Als er seinen Diamant am Finger, seine Börse in der Tasche und seine Pistolen im Gürtel fand, stand er auf, bezahlte seine Flasche und ging hinaus, um nachzusehen, ob ihn das Glück beim Aufsuchen seines Lakaien am Morgen nicht mehr begünstigen würde, wie in der Nacht. Das Erste, was er durch den feuchten, graulichen Nebel erblickte, war wirklich der ehrliche Planchet, der ihn, die zwei Pferde an der Hand, vor der Tür einer kleinen Winkelschenke erwartete, vor welcher d’Artagnan vorübergegangen war, ohne nur ihr Dasein zu ahnen.