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Der Detektiv – Der Fakir von Nagpur – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Fakir von Nagpur
4. Kapitel

Fatima

Das Geschäft des Parsen lag in einem modernen Hause, hatte zwei große Schaufenster und enthielt schon in diesen eine Unmenge wertvollster, teilweise antiker Schmuckstücke. Als wir eintraten, schrillten sofort zwei sehr laute elektrische Glocken. Aus einem Nebenraum erschien sogleich auch ein älterer Mann, den man ebenso gut für einen Spanier hätte halten können. Und doch war es Mansur, der Parse, einer jener farbigen Bewohner Indiens, die äußerlich vollständig Europäer geworden sind. Sein gewandtes, sicheres Benehmen, seine liebenswürdigen Umgangsformen und die Offenheit seines Blickes nahmen sofort für ihn ein.

Er bat uns in sein Privatkontor, das mit seiner eleganten Einrichtung jedem ersten Berliner Geschäftshaus Ehre gemacht hätte. Auf Harsts Frage nach den Geschehnissen, die ihn zu der Anzeige veranlasst hätten, erzählte er recht übersichtlich Folgendes.

Vor zwei Monaten hatte er zum ersten Mal das Verschwinden eines einzelnen, großen Smaragds bemerkt. Der Stein war etwa 20.000 Mark wert gewesen. Von da an kamen ihm in jeder Woche gerade die kostbarsten seiner ungefassten Diamanten abhanden, ohne dass es je gelungen wäre, den Dieb zu erwischen. Er hatte deshalb auch seine beiden langjährigen Angestellten schließlich entlassen, da auch der hiesige Detektivinspektor erklärt hatte, nur einer von den beiden könnte der Dieb sein, oder aber sie arbeiteten gemeinsam.

Doch – trotzdem blieb es bei den unerklärlichen Diebstählen. Selbst die allerschärfste Bewachung des Ladens half nichts. Stets geschahen die Beraubungen der Kästen am Tage und stets so, dass nicht einmal der Schimmer eines Verdachts auf irgendjemand fiel.

»Sie können sich meine Aufregung und meine Verzweiflung denken, Master Harst«, fuhr der Parse fort. »Noch ein halbes Jahr, und ich bin ruiniert. Ich flehe Sie an: Klären Sie dieses geradezu unlösbare Rätsel auf! Wer bestiehlt mich – wer in aller Welt?«

Sein verstörtes Gesicht war wirklich mitleiderregend.

»Und Ihre andere Herzensangst?«, fragte Harst freundlich. »Wie steht es damit?«

»Oh, ich will Ihnen nichts verschweigen, gar nichts! Es handelt sich um mein einziges Kind, meine Tochter Fatima. Ich bin mit ihr schon in Bombay bei einem der berühmtesten Ärzte gewesen. Nichts vermag sie von dem entsetzlichen Wahn zu befreien, dass sie zeitweise in einen Marabu verwandelt wird.«

»Marabu?«, fragte Harst schnell.

»Ja. Ich sehe Ihnen an, Master, wie sehr Sie dies in Erstaunen setzt. Es gibt gewiss zahllose Formen zeitweiliger Geistesstörung. Doch so wie sich das Leiden bei Fatima äußert, hat es selbst Professor Sinclair in Bombay noch nie beobachtet. Wenn es nicht so unendlich traurig wäre, könnte man über all das lachen, was in diesen Stadien der Bewusstseinstrübung von meiner Tochter als Marabu getrieben wird. Nicht nur dass sie mit langsamen Storchenschritten im Haus hin- und herwandert, nein, sie spricht dann auch nicht ein einziges Wort, ahmt vielmehr nur das Schnabelklappern nach und nimmt auch nur mit dem Mund, ohne Fingerbenutzung, direkt vom Teller Speisen auf.«

Man merkte, wie schwer es ihm wurde, dies Unglück vor Fremden zu enthüllen. Harst winkte ihm denn auch zu, sagte sehr herzlich: »Ich danke Ihnen. Das Gehörte genügt mir. Nur noch eine Frage: Seit wann hat Ihre Tochter diese Anfälle und wie oft?«

»Seit vielleicht zwei Monaten und fast regelmäßig ein bis zwei Mal in der Woche.«

»Wie lange halten die Anfälle an?«

»Zumeist kaum eine Stunde.«

»Haben sie sich auch mal außerhalb des Hauses eingestellt?«

»Nein, niemals. Eigentlich regelmäßig stets vormittags.«

»Hatte Ihre Tochter heute einen Anfall?«

»Ja. Vor etwa anderthalb Stunden.«

»Was sagte der Professor zu dieser Krankheit?«

»Er hielt sie für den Beginn völliger Geistesumnachtung.«

Harst schüttelte den Kopf. »Da kann ich Sie jetzt schon beruhigen. Von Geistesumnachtung ist keine Rede. Ich möchte aber noch einiges über die Diebstähle wissen. Wann vermissten Sie den letzten Wertgegenstand?«

»Vor drei Tagen. Es war ein hellblauer Diamant.«

»Heute vermissen Sie nichts?«

»Oh, das kann ich erst abends nach Geschäftsschluss feststellen, wenn ich die Schaufensterkästen hereinnehme und den Inhalt dieser und der Auslagen des Verkaufstisches in den Stahlschrank für die Nacht lege.«

»Bitte, tun Sie es ausnahmsweise sofort«, meinte Harst.

»Weshalb? Dass ich wieder bestohlen werde, Master Harst, entweder heute oder morgen, das weiß ich ja leider ganz bestimmt. Aber selbstverständlich tue ich ganz, wie Sie es wünschen.«

Bereits eine Viertelstunde darauf konnte er Harst, nun gänzlich verstört, erklären, dass ein Brillant, den er für den Maharadscha von Bikara hatte umschleifen sollen, verschwunden sei. Vorhin habe der Stein, so behauptete er jammernd, noch auf der Schleifbank gelegen. Und kein Fremder habe die einem Stahlkäfig gleichende kleine Werkstatt neben dem Kontor betreten.

»Sie werden den Stein wiedererhalten«, sagte Harst tröstend. »Verlassen Sie sich ganz auf mich – Ich muss jetzt schnell noch anderswohin. Ich gebe Ihnen jedoch noch heute genaue Verhaltungsmaßregeln.«

Wir eilten dann wieder dem öffentlichen Park zu.

»Ich kann dir jetzt schon mitteilen«, erklärte Harst mir unterwegs, »dass der alte Yogi bei alledem eine mir bis jetzt noch etwas unklare Rolle spielt. Wir müssen unbedingt versuchen, ihm auf den Fersen zu bleiben und festzustellen, wo er seinen Schlupfwinkel hat. Wir werden zu diesem Zweck getrennt arbeiten. Der eine von uns, ich selbst, will hinter dem Fakir hergehen. Du aber siehst zu, dich seitwärts von ihm zu halten.«

Der Yogi saß noch auf dem Rasen wie vorhin. Der Zuschauerkreis war noch dichter geworden. Wir hatten Glück gehabt. Der Alte hätte ebenso gut auch bereits seine Vorstellung beendet haben können.

Wir schritten daher gemächlicher auf den Menschenhaufen zu. Als wir noch fünf Schritt entfernt waren, packte Harst plötzlich meinen Arm, blieb stehen und starrte wie gebannt geradeaus. Dann machte er kehrt. Sein Tempo wurde immer schneller. Eine Rikscha kam uns entgegen. Er rief den Kuli. Wir stiegen ein und ließen uns zum Hotel fahren. Hier erklärte Harst dem Geschäftsführer, wir würden auf vier Tage einen Jagdausflug unternehmen. Unsere Zimmer sollten für uns freigehalten werden. Gleich darauf brachte uns dieselbe Rikscha zur Polizeidirektion. Der hiesige Detektivinspektor hieß Smith und war ein rothaariger Engländer von etwas poltriger Art. Als Harst sich ihm vorstellte, war er sofort die Liebenswürdigkeit selbst, wenn auch auf seine Weise, lachte dann aber schallend los, als der deutsche Liebhaberkollege ihm erklärte, man würde nun vielleicht die Diebe der Juwelen des Parsen Mansur fassen können.

»Diebe, Master Harst, Diebe?«, meinte er. »Lassen Sie sich doch keinen Bären von Mansur aufbinden. Der schlaue, reiche Herr schwindelt ja. Von den Diebstählen ist kein Wort wahr. Das ist meine feste Überzeugung. Ich habe ihm das auch durch die Blume zu verstehen gegeben. Seitdem lässt er uns in Ruhe und sucht zum Schein einen Privatdetektiv. Die Parsen sind die gerissensten Geschäftsleute. Er hat seine Verluste bisher auf etwa 15.000 Pfund angegeben. Die braucht er jetzt nicht mehr zu versteuern! Das ist der Witz!«

Harst sah den Inspektor ernst an. »Das ist nicht der Witz, Master! Ganz im Gegenteil! Ich habe die Beweise, dass die Diebe existieren. Vielleicht genügt Ihnen das, wenn ich so etwas sage.«

Smith wurde unsicher. »Wirklich, Master Harst? Da bin ich gespannt. Erzählen Sie doch bitte.«

»Später werde ich es tun. Jetzt möchte ich Sie bitten, drei gewandte Beamte hinter dem sogenannten Fakir von Nagpur herzuschicken, die jedoch lediglich feststellen sollen, wo der Alte sein Versteck hat. Nichts weiter, und natürlich, ohne sich sehen zu lassen

»Hinter dem Fakir?« Smith war sprachlos. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich jedoch schnell. »Oh, von dem Mann müssen wir die Finger weglassen, Master Harst! Den verehren die hier hausenden Hindu als Heiligen. Meine Beamten sind sämtlich Hindu, und …«

»Schon gut. Dann geben Sie mir bitte alles Nötige, dass wir uns schleunigst als Eingeborene maskieren können. Und schweigen Sie gegen jedermann! Dass muss ich unbedingt von Ihnen verlangen. Ich habe Ihr Wort, nicht wahr?«

»Gewiss – gewiss …«

In Smiths Dienstzimmer verwandelten wir uns in Kurzem in durchaus echt aussehende Hindu der ärmeren Volksschichten. Wir hatten abermals Glück. Der Yogi schickte gerade die Zuschauer weg, als wir in die Nähe seines altgewohnten Platzes kamen. Wir hatten uns getrennt und taten, als ob wir nicht zusammengehörten.

Die Menge verlief sich. Bei dem Alten, der nun sein Handwerkszeug in einen Korb packte, blieben nur ein paar Kinder und ein Buckliger zurück, dem Anzug nach gleichfalls ein Heiliger mit Vorliebe für eine Schmutzkruste und einen zerlöcherten Mantel.

Der Bucklige, dessen Turban bis über die Ohren reichte, nahm jetzt den Korb und ging davon. Der Fakir folgte langsam, sich auf einen Stecken stützend, und machte des Öfteren halt, als müsse er ausruhen. Bei dem lebhaften Verkehr auf den Straßen konnten wir, seine Verfolger, gar nicht auffallen. Aber wir konnten ihm leider auch nicht auf den Fersen bleiben. In der Eingeborenenstadt bestiegen er und der Bucklige nämlich ein kleines Boot auf einem der breitesten Kanäle und verschwanden rasch in dem Gewirr der schmalen, labyrinthartigen Wasserstraßen.

Harst gesellte sich mir wieder zu.

»Lieber Schraut, das war vorauszusehen!«, meinte er. »Nun, wenn wir den Yogi nicht mit den Augen finden können, müssen wir es mit dem Verstand tun. Gehen wir zu dem Parsen. Aber wieder einzeln. Vielleicht spukt Warbatty hier bereits herum.«

Mansur, der Edelsteinhändler, erkannte uns nicht. Erst als Harst ihm seinen Namen zuflüsterte, nickte er verständnisinnig und führte uns in sein Privatkontor.

Hier machte Harst ihm den Vorschlag, er solle uns den seinen gegenüber als neue Geschäftsbekannte, gleichzeitig aber als Naturheilkundige vorstellen, die Fatima vielleicht von ihrem Leiden befreien könnten.

Wir gingen in Mansurs Privatwohnung hinauf, die vollständig europäisch eingerichtet war. Auch seine Frau, eine wandelnde Fettmasse, besaß ganz das Benehmen einer europäischen Dame. Fatima selbst war ein auffallend schönes Mädchen, wie ich bereits bemerkt habe, und gab sich völlig zwanglos, obwohl sie sofort hörte, dass Harst versuchen wolle, sie zu heilen.

Er begann sie auszufragen. Sie erklärte, sie selbst wisse nichts davon, dass sie zeitweise ihr Menschentum abstreife und sich ganz wie ein Marabu benehme.

Weiter gab sie an, nie ernstlich krank gewesen zu sein. Nur an Zahnschmerzen litte sie viel. Sie sei eigentlich dauernd bei dem indischen Arzt und Zahnarzt Doktor Kodowira hier in Nagpur in Behandlung.

Wir erfuhren, dass dieser Doktor in England studiert habe und einer der gesuchtesten Ärzte der Stadt, etwa fünfzig Jahre alt sei und im Eingeborenenviertel in der Nähe des großen Brahmatempels in einem prächtigen, modernen Haus wohne.

Was mir an Fatima auffiel, war eine gewisse ängstliche Scheu im Blick, die zu ihrem sonstigen Benehmen wenig passte. Sie vermied es, Harst bei dieser Unterredung anzusehen. Schnute sie ihm gelegentlich ins Gesicht, so glitten ihre Augen schnell darüber hinweg.

Harst bat uns jetzt, ihn mit Fatima allein zu lassen. Erst nach einer halben Stunde betrat er das Nebenzimmer, in dem ich mit Mansurs Gattin saß. Wir verabschiedeten uns. Unten im Laden erklärte Harst dem Parsen, er hoffe nun ganz bestimmt ihm all seine Betrübnis nehmen zu können, nur müsse er noch ein paar Tage Geduld haben.

Wir suchten darauf Inspektor Smith wieder auf, der uns beim Pförtner der Polizeidirektion, einen Mohammedaner, unauffällig unterbrachte. Wir bewohnten dort ein winziges Zimmerchen.

In den folgenden Tagen ließ Harst mich viel allein. Ich durfte nur nach Dunkelwerden mit ihm zusammen eine Stunde spazieren gehen. Er wechselte die Verkleidung häufiger, und ich merkte, dass er mit den Erfolgen seiner Spürtätigkeit sehr zufrieden war. Was er jedoch eigentlich zur Tages- und Nachtzeit außerhalb des Hauses trieb, darüber schwieg er beharrlich.