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Stephen King – Erhebung

Stephen King
Erhebung
Roman, Hardcover, Heyne, München, November 2018, 144 Seiten, 12,00 Euro, ISBN: 9783453272026, Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Der geschiedene Mediendesigner Scott Carey lebt allein mit seinem Kater in einem – inzwischen für ihn eigentlich zu großen Haus – in Castle Rock. Über mangelnde Aufträge kann er sich nicht beklagen, und auch sonst geht es ihm gut. Was man von seinen neuen Nachbarn, dem lesbischen Ehepaar Deirdre und Missy, nicht behaupten kann: Die Frauen betreiben seit einer Weile ein mexikanisches Restaurant in der konservativen Kleinstadt, in der Trumps Amerika nicht nur in den Köpfen ausgelebt wird. Die wörtlichen Anfeindungen gegen das homosexuelle Paar halten sich zwar in Grenzen, aber man meidet ihre Lokalität und will auch sonst nichts mit ihnen zu tun haben. Scott hat nichts gegen die beiden, aber ihre Hunde hinterlassen auf seinem Rasen oft ihr Geschäft, wenn die Frauen mit ihnen joggen. Darauf hingewiesen, reagiert vor allem Deirdre sehr empfindlich und vermutet eine weitere konservative Anfeindung.

Eine Gelegenheit, den unabsichtlichen Streit aus dem Weg zu schaffen, ergibt sich bei einem traditionellen 12-Kilometer-Lauf zu Thanksgiving. Deirdre ist die Favoriten des Laufs, und Scott hält mit einer Wette dagegen: Wenn er gewinnt, kocht er für die beiden Frauen und sie sprechen noch einmal über alles. Deirdre geht drauf ein, auch weil sie denkt, der leicht übergewichtige Scott wird nie mit ihr mithalten können. Sie weiß nicht, dass Scott unter mysteriösen Umständen gerade jeden Tag mindestens ein Kilo Körpergewicht verliert, egal, was er isst, trägt oder ob er Gewichte mit sich herumschleppt. Davon weiß bislang nur der befreundete pensionierte Arzt Bob Ellis. Scott ist sich also sicher, bis zum Lauf fit genug zu sein.

Nach dem langen Thriller Der Outsider legt Stephen King nur wenige Wochen später diesen kurzen Roman nach, der komplett im Kontrast zu dem Vorgänger steht. Mit nur 144 Seiten überschreitet er knapp die Grenze zur Novelle, konzentriert sich auf wenige Figuren und Handlungselemente, rafft die Geschichte und kommt fast gänzlich ohne das Übernatürliche aus. Dazu kehrt King nach Castle Rock, der fiktiven Kleinstadt zurück, in der schon einige seiner Klassiker wie Needful Things und Cujo spielten. Sie ist – neben Scotts unerklärlichem Gewichtsverlust – der Antagonist in der Geschichte. Denn Castle Rock steht für das konservative Amerika, das Homosexuellen, wenn nicht offen feindselig, so doch immer unterschwellig ablehnend gegenüber steht – und damit auch jenen, die sich für sie einsetzen wollen. Wer Kings Twitter-Account verfolgt, weiß ganz genau, was dieser vom aktuellen Präsidenten und seinen Ansichten hält. Sein Protest ist keinesfalls leise.

Auf einer anderen Ebene symbolisiert Scotts rätselhaftes Abnehmen die Konfrontation mit einer begrenzten Zeitspanne, die man empfindet, wenn man mit seinem eigenen nahenden Ende konfrontiert wird. Was wird passieren, wenn Scott eines Tages kein Gewicht mehr besitzt? Wie schon im Roman Der Fluch, den King Mitte der 1980er unter seinem Pseudonym Richard Bachmann schrieb, ist hier der Gewichtsverlust eine Metapher für eine schwere Krankheit. Kings Mutter starb an Krebs, ihr katastrophaler Krankheitsverlauf hat den Autor nachhaltig verstört, wie der geneigte Leser weiß. Auch hier kommt dieses unbestimmte Grauen wieder zum Vorschein, wird aber dadurch gelindert, dass Scott nach und nach seinen Frieden mit der Situation macht. Auch King wird älter und setzt sich immer mehr mit der eigenen Sterblichkeit auseinander.

Erhebung bekommt so trotz düsterer Subtexte eine interessante Leichtigkeit, die jenseits von Fatalismus Mut macht, für das, was einem wichtig ist und was man für gerecht hält, einzutreten. Das gilt insbesondere für Werte und Überzeugungen. Scott wird dabei in Kings Roman zu einer Art Held, der Castle Rock aufzeigt, wie man festgefahrene Denkmuster durchbrechen kann. Hier wird es zwar etwas knapp dargestellt, erfüllt aber die Aufgabe, eine positivere Stimmung zu verbreiten, zu Genüge. Das ist nicht sonderlich spannend, das beabsichtigt King hier aber auch gar nicht. In Erhebung geht es um Mut, Zivilcourage, Mitmenschlichkeit und Freundschaft – kurz: um Tugenden, die heute mehr und mehr verloren zu gehen drohen. King gemahnt an sie – und tut das wohldosiert in diesem stellenweise wunderschönen, knappen Roman.

(sv)