Stephen King – Der Outsider
Stephen King
Der Outsider
Horror, Hardcover, Heyne, München, August 2018, 752 Seiten, 26,00 Euro, ISBN: 9783453271845, Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Terry Maitland, ein bislang unbescholtener und beliebter Englischlehrer aus Flint City, wird während eines Baseballspiels der von ihm trainierten Jugendmannschaft vor den entsetzten Augen seiner Frau und seiner beiden Töchter in aller Öffentlichkeit verhaftet und abgeführt. Mehrere Zeugen haben ihn dabei beobachtet, wie er in der Nähe des Stadtparks auf einen elfjährigen Jungen traf, der später brutal geschändet und ermordet in einem Gebüsch aufgefunden wurde. Die Beweislast ist so erdrückend, dass sich der Polizist Detective Ralph Anderson zu dieser öffentlichen Festnahme entschließt, die zeitgleich den Ruf des potenziellen Mörders und seiner Familie nachhaltig zerstört. Zusammen mit einem befreundeten Anwalt versucht Maitland, seine Unschuld zu beweisen, obwohl am Tatfahrzeug, an der Tatwaffe und am Opfer nicht nur seine Fingerabdrücke, sondern auch seine DNA eindeutig nachzuweisen sind.
Aber Maitland beharrt darauf, unschuldig zu sein und sich im Beisein seines Kollegiums auf einer Konferenz in einer anderen Stadt befunden zu haben. Dabei sei er stetig mit einigen Personen zusammen gewesen – und auch die TV-Aufzeichnung eines Vortrags, an dessen Ende Mailand eindeutig dabei zu erkennen ist, wie er dem Redner eine Frage stellt, beweist, dass er im unmittelbaren Zeitumfeld nicht in der Nähe des Mordes gewesen sein kann. Aber wie kann das sein? Gibt es Maitland zweimal?
Nach der Bill Hodges-Trilogie und einer Co-Produktion mit seinem Sohn Owen (Sleeping Beauties) legt Stephen King nun wieder einen mit 750 Seiten gewohnt umfangreichen, eigenständigen Roman vor. Wobei das nicht ganz stimmt, aber dazu später mehr. Er beginnt den Roman direkt mit der Verhaftung Maitlands und zelebriert auf den folgenden 250 Seiten -also im ersten Drittel des Buches – die Dekonstruktion dessen Familie durch die Medien. Immer wieder kommen neue grausame Details über den Mord an dem Elfjährigen ans Licht. Eine ganze Stadt ächtet den Täter, der bisher sehr beliebt bei allen war. Niemand kann sich diese Tat erklären – aber jeder glaubt sie angesichts der erdrückenden Beweislast. Als die zu bröckeln beginnt, ahnt der Leser – und ahnen mit ihm die Protagonisten – dass die Lösung doch nicht so einfach ist. Vielleicht sind hier Mächte am Werk, die man sich nicht erklären kann.
Den Rest des Romans zu besprechen, ist unmöglich, ohne auf bestimmte Entwicklungen, die sich ergeben, kurz einzugehen. Wer also überhaupt nichts über den weiteren Verlauf der Geschichte erfahren will, sollte die Lektüre der Rezension an dieser Stelle abbrechen und sich unvoreingenommen der Lektüre von Der Outsider widmen. Trotz einiger Kritikpunkte lohnt sich der Roman nämlich. Aber ich will dem Fazit nicht vorgreifen, für die, die diese Besprechung noch weiter lesen wollen. Seid gewarnt, ab hier kommt es zu moderaten Spoilern!
Nach dem ersten Drittel tut King etwas, das er in dieser Form lange nicht mehr gemacht hat: Durch einen krassen Bruch in der Geschichte, der in einer atemberaubenden Sequenz geschildert wird, nimmt er den Fokus von den bisherigen Protagonisten und befördert eine der Nebenfiguren zur neuen Hauptfigur – nämlich Detective Ralph Anderson. Dieser muss sich nicht nur mit den Auswirkungen jener nicht näher ausgeführten Szene auseinandersetzen, sondern sieht sich nach und nach in seinem Glauben erschüttert, dass eben doch die Möglichkeit eines Doppelgängers Maitlands als Erklärung immer wahrscheinlicher wird.
Hundert Seiten später dann der nächste Hammer: King holt eine Hauptfigur als der zurückliegenden Bill Hodges-Trilogie (Mr. Mercedes / Finderlohn / Mind Control) in die Handlung – Holly Gibney. Dadurch, dass sie in der zweiten Hälfte des Romans zu einem weiteren tragenden Charakter wird, entwickelt sich Der Outsider zu einer Art inoffizieller Fortsetzung der Trilogie – und spoilert diese für Leser, die sie noch nicht kennen, in ziemlich vielen Details. Wer sich also nicht den Spaß verderben lassen will, sollte zuvor diese drei durchaus lohnenden Romane auch noch lesen – oder sich eben im neuesten Roman mit der Kürzest-Fassung in Rekapitulationen Hollys zufriedengeben. Für Leser, die Holly Gibney allerdings nicht seit bereits drei Romanen begleiten, erschließen sich die Eigenarten dieser Figur nur unzureichend. Das kann für Unbedarfte schon etwas irritierend wirken, ist jedoch für King-Viel- oder gar -Komplettleser eine tolle Überraschung.
Gibney ist es dann auch, die den ungläubigen Ermittlern glaubhaft machen kann, dass es übernatürliche Kräfte gibt, die durchaus in der Lage sein könnten, einen Menschen samt DNA zu imitieren. Diesen Outsider, wie sie ihn nennt, gilt es nun dingfest zu machen, denn er hat nicht zum ersten Mal auf diese Weise getötet – und droht es bald wieder zu tun. Mit dieser spannenden Jagd füllt King die zweite Hälfte des Buches.
Der Outsider ist ein faszinierendes Buch, das viele Stärken des Meistererzählers King in sich vereint. Dabei macht er jedoch auf der strukturellen Ebene viel falsch, was vor allem an den angesprochenen Überraschungselementen liegt. Denn bis Seite 250 tritt die Handlung auf der Stelle und King walzt die Situation, wie eine Gefangennahme eines Unschuldigen sein Umfeld zerstört, in aller Breite aus. Vom Outsider ist da noch lange nicht die Rede. Dann kommt allerdings etwas Fahrt in die Story, nur um dann etwa 100 Seiten später durch die Einführung Holly Gibneys ein weiteres Überraschungsmoment zu platzieren, das zwar als Fan-Service gut funktioniert, allerdings darin gipfelt, dass sehr viel diskutiert wird: Ermittlungsergebnisse werden verglichen, Fronten werden geklärt – und immer wieder wird ausführlich darüber verhandelt, was man beziehungsweise an was man glauben soll oder muss. Das bremst das Tempo, und für das etwas blasse Finale bleibt dann recht wenig Platz übrig.
Hinzu kommt, dass King hier viele Elemente früherer Romane nur leicht abgewandelt recycelt. Das fängt bei der Figur Gibney an und hört beim subterranen Finale auf, das an ähnliche Showdown-Schauplätze wie in Es oder Desperation erinnert. Wären diese Variationen eigenständig genug, um nicht beliebig zu wirken, käme man als King-Fan auf seine Kosten. So bleibt Der Outsider jedoch am Ende größtenteils wegen der erwähnten beiden Wechselmomente im Gedächtnis und ordnet sich im Gesamtwerk Kings eher als mittelmäßiger Roman ein, der als kleiner – letzter? – Nachschlag zur Bill Hodges-Trilogie gerade für begeisterte Leser dieser Romane interessant sein dürfte.
(sv)