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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 3

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Das Kloster

Die Abtei Frontenac stand, wie wir bereits erwähnt haben, in einiger Entfernung von der kleinen Stadt Florac in einer jener malerischen gesunden, vorteilhaften Umgebungen, welche die Mönche so gut zu erkennen wussten, wenn sie den Ort ihres Wohnsitzes wählten. Sie lag in einem pflanzenreichen Tal und ihr Klima hatte nicht die unwirtliche Rauheit des nördlichen Teils der Provinz. Obstbäume, der Weinstock, der im Oberland nur dem Namen nach bekannte Maulbeerbaum gediehen um das Kloster herum mit den Getreidearten, welche dem Menschen, und den Futterpflanzen, welche den Tieren zur Nahrung dienen.

Das Tal Frontenac gehörte schon zu jener gesegneten Region, welche man das südliche Frankreich nennt. Es war schon der Süden mit seinem blauen Himmel, seiner reinen Sonne und seinen glühenden Sciroccowinden. Allerdings sendeten ihm die langen Bergketten, welche sich wie azurne Schranken am Horizont hinzogen, dann und wann auch ihre Gewitterwolken, ihre verheerenden Ströme, ihre Schneestürme, aber die Natur besaß auf diesem bevorzugten Ort so viel Macht und Fruchtbarkeit, dass diese Missstände keine sichtbaren Folgen zurückließen und jedes Jahr zuletzt seinen Beitrag an Fülle und Überfluss lieferte.

Die Gründung des in diesem Tal errichteten Klosters gehörte, wie wir wissen, einer längst vergangenen Zeit an und mehrere seiner Häupter hatten in der Geschichte der Provinzen der Sprache von Oc eine wichtige Rolle gespielt. Die Mönche dieses Klosters waren gelehrte Kompilatoren, unter dem Namen von Bollandisten berühmt, Benediktiner, die sich historischen und literarischen Arbeiten widmeten. Eine ziemliche Zahl der staubigen Foliobände, welche noch heute auf den Brettgestellen unserer öffentlichen Bibliotheken stehen, sind in den Zellen von Frontenac geschrieben.

Die Höhe und der Umfang der Gebäude geben ebenfalls Zeugnis von der Wichtigkeit dieser berühmten Abtei. Man fand hier die Architektur aller Epochen, von der gotischen Bauart des 12. und 13. Jahrhunderts an bis zu den glatten Flächen und den geraden Winkeln der neueren Zeit.

Hier und da erinnerten verfallene Giebel und durch Feuersbrunst verkalkte Steine an die Revolutionen und Unglücksfälle, welche dieses geheiligte Haus erfahren hatte, die Gesamtheit der Bauwerke aber, welche mehre Höfe umschlossen, bot einen majestätischen Anblick dar.

Die Kreuzgänge besonders waren prachtvoll und ein umfangreicher Park, von hundertjährigen Bäumen beschattet, bot den Mönchen lange, den stillen Betrachtungen günstige Alleen.

Außer dieser umfassenden Gesamtheit von Gebäuden gab es auch noch einen isolierten Pavillon mit einem besonderen Garten und einem besonderen Eingang. Dies war so zu sagen der weltliche Teil der Abtei und man nannte ihn den Pavillon der Gäste. Er diente den Personen zur Wohnung, welche im Kloster zu tun hatten, den Verwandten und Freunden der Mönche, auch schlichten Besuchern. Alle wurden hier mit freigebiger Gastfreundschaft bewirtet.

Hier wohnte auch Leonce, dem seine nahe Verwandtschaft mit dem allmächtigen Prior von Frontenac eine solche Gunst verschafft hatte. Der geliebte Zögling des Klosters bewohnte in diesem sogenannten Pavillon ein kleines Logis, welches aus einem Schlafzimmer und einem Arbeitskabinett bestand.

So lange er Kind gewesen war, hatte eine alte Gouvernante ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit gepflegt und später hatte ein Laienbruder die Verrichtungen eines aufmerksamen und eifrigen Dieners bei ihm versehen.

Was die Erziehung und den Unterricht Leonces betraf, so waren diese ganz besonders das Werk seines Onkels, des Priors, gewesen. Die anderen Väter von Frontenac hatten jedoch ebenfalls großen Anteil daran genommen. Alles, was die Abtei an Linguisten, Historikern, Theologen und Mathematikern enthielt, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, den Geist dieses geliebten Mündels des Klosters zu schmücken. Niemals hätte ein junger Mann mehr ausgezeichnete Lehrer in den verschiedenen Zweigen der menschlichen Kenntnisse gehabt.

Aber Leonce war auch in der Tat ein Wunder von Gelehrsamkeit, während gleichzeitig die Gewohnheit, in dem Pavillon zahlreiche Gäste, größtenteils Leute von Distinktion, zu sehen, ihn unmerklich die Sitten und Gebräuche der Welt gelehrt hatte, in deren Mitte er dereinst leben sollte.

Seitdem aber Leonce mit seinem Onkel von Mercoire zurückgekehrt war, hatte infolge der uns bekannten Ereignisse im ruhigen Pavillon der Gäste alles eine andere Gestalt gewonnen. Der Bewohner dieses Ortes, früher so still, schweigsam und fortwährend durch Studien in Anspruch genommen, war laut und lärmend geworden. Zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ging er fort oder kam zurück. Er umgab sich mit dem Kloster fremden Personen. Er stieg zu Pferde und seine Jagdhunde störten zuweilen durch ihr Gebell das Gebet in der nahen Kirche. In seinem Arbeitskabinett fingen die mathematischen Instrumente an zu rosten, die Erd- und Himmelsgloben waren mit Staub bedeckt, die aus der reichhaltigen Abteibibliothek entlehnten Bücher lagen auf der Diele, während Stühle und Tische mit Peitschen, Sporen und Flinten beladen waren.

Mit einem Wort, der Bewohner des Pavillons war mit einem Mal aus dem wissenschaftlichen und kontemplativen Leben in das tätige und unruhige übergetreten, welches das Alter der Leidenschaften verkündet.

Dennoch aber hatte diese Veränderung den Prior und die anderen Würdeträger von Frontenac weder zu überraschen noch zu betrüben geschienen. Weit entfernt davon, belächelte man nachsichtig Leonces Treiben. Sein Onkel erlaubte ihm mit einer Nachgiebigkeit, welche an Schwäche zu grenzen schien, sich ohne Zwang seinen Geschmacksrichtungen hinzugeben.

Einige Mönche von untergeordnetem Rang murrten wohl zuweilen über die geräuschvollen Ausschreitungen des emanzipierten jungen Mannes, aber man hörte nicht auf sie.

Der Neffe des Priors bewahrte in seinem Verhalten eine unbedingte Unabhängigkeit. Wenn er einer Überwachung unterworfen war, so konnte diese, da sie sorgfältig verhehlt ward, ihm keinerlei Misstrauen einflößen.

So war der Anfang des Winters herbeigekommen. An einem schönen Novembermorgen war Leonce mit seinem Piqueur und seinem Diener auf die Jagd geritten. Begierig, ihn wiederzusehen, kam der Pater Bonaventura auf den Einfall, ihm entgegenzugehen. Er verließ daher die Abtei, schlug sein Brevier auf und verfolgte mit langsamen Schritten einen gut unterhaltenen Weg, welcher zum Teil der Wohnung führte, wo sich Leonce befand.

Obwohl die Kälte in den umliegenden Gebirgen sich so ziemlich streng gezeigt hatte, so hatte das glückliche Tal Frontenac doch noch nicht viel davon zu leiden gehabt. Das Gras war noch grün und die Kastanienbäume hatten noch nicht ihr Laub verloren. Übrigens erfreute ein warmer, obwohl bleicher Sonnenschein die Natur und machte die Vögel in den Gebüschen singen.

Nachdem der Prior das für diesen Tag bestimmte Gebet gelesen hatte, setzte er sich auf das Geländer einer hölzernen Brücke, von wo aus man eine weite Aussicht auf die Landschaft hatte. Diese Brücke war die Grenze seiner Spaziergänge. Hier gesellte sich sein Neffe gewöhnlich zu ihm.

Auch diesmal sollte das Warten des Pater Bonaventura nicht vergeblich sein. Es dauerte nicht lange, so verkündeten ein Schuss und fernes Hundegebell ihm die Rückkehr der Jäger. Dann kam Leonce selbst aus dem Dickicht heraus, mit der Flinte auf der Schulter, von seinen Piqueurs und Hunden gefolgt.

Während der Mönch aber so auf das Herankommen seines Neffen wartete, warf er unwillkürlich einen Blick nach der entgegengesetzten Seite und bemerkte einen Gegenstand, welcher nicht verfehlte, seine Aufmerksamkeit zu teilen.

Es war eine von zwei Maultieren getragene verschlossene Sänfte, denn der Gebrauch der Karrossen war in dieser gebirgigen Gegend damals noch unmöglich. Außer dem Maultierführer, welcher voranging, war die Sänfte von vier berittenen Lakaien eskortiert.

Diese kleine Karawane kam eine der Anhöhen herab, welche das Tal beherrschten und lenkte ihre Schritte zur Abtei.

Der Prior wurde nachdenklich.

»Wer kann das sein?«, fragte er sich. »Wir erwarten niemanden im Kloster. Es müsste denn einer jener armen Edelleute der Umgegend sein, welche unseren Wein und unsere Küche zu schätzen wissen – doch nein, diese Edelleute würden zu Pferde kommen. Es ist eine Dame oder ein Geistlicher, welcher auf diese Weise reist. Eine Dame würde nicht in die Abtei eingelassen werden. Es muss daher also – aber ein auf diese Weise begleiteter Geistlicher müsste ein sehr hoher Würdenträger sein.«

Er schwieg und betrachtete die Reisenden.

»Ach was!«, hob er endlich wieder an, »das, was ich fürchte, kann ja gar nicht geschehen, wenigstens nicht so bald. Die Gerüchte, welche bis zu mir gedrungen sind, haben keine ernste Bedeutung. Ich wollte darauf wetten, dass es sich ganz einfach um irgendeinen hochwürdigen Pater von Saint-Enimie handelt, welcher unserem Abt einen Besuch abzustatten kommt.«

Er wurde in seinen Betrachtungen durch Leonce unterbrochen, welcher, seinen Leuten voraneilend, nur von einem schönen schwarzen Spürhund mit feuerfarbenen Flecken begleitet, herbeikam.

Der Neffe des Priors schien seit drei Monaten gewachsen und neue, vermehrte Körperkraft erlangt zu haben.

Seine Gesichtsfarbe war nun von der Bewegung und der Sonne gebräunt. Er hatte ein männliches Ansehen und eine dreiste Haltung, welche durchaus nicht an seine frühere halb geistliche Schüchternheit erinnerte.

Er trug ein elegantes Jagdkostüm von grünem Tuch mit Gold betresst und glich mehr einem jungen eleganten Edelmann und Freund geräuschvoller und weltlicher Freuden und Vergnügungen als jenem im Schatten des Klosters erzogenen fleißigen Schüler, der noch vor Kurzem wie um eine Gnade darum bat, sein Gelübde als Mönch in der Abtei Frontenac ablegen zu dürfen.

Nichtsdestoweniger aber hatte Leonce von seiner Ehrerbietung gegen seinen Onkel und Wohltäter durchaus nichts verloren. Als er sich ihm näherte, nahm er seinen Hut ab und küsste dem Pater Bonaventura die Hand. Erst nachdem er sich dieser Pflicht entledigt hatte, rief er in freudigem Ton: »Gute Nachricht, mein Onkel! Eine prächtige Jagd. Einen Fuchs und zwei Hasen habe ich auf mehr als sechzig Schritte Entfernung und zwar mit der Kugel erlegt. Denis, mein Piqueur und Lehrer, ist ganz entzückt. Was mich betrifft, so wage ich noch nicht auf meinen Erfolg mir etwas einzubilden. Ich messe ihn vielmehr hauptsächlich der Vortrefflichkeit dieser Lütticher Kugelbüchse zu, welche Ihr mir gegeben habt, ebenso wie dem wunderbaren Instinkt dieses Hundes, den Ihr, ich weiß selbst nicht wie, einer fürstlichen Meute abwendig zu machen gewusst habt.«

Er liebkoste das schöne Tier, welches um sie herumsprang und mit seinem buschigen Schweif wedelte.

»Nur nicht allzu bescheiden, mein Sohn,« sagte der Mönch in gütigem Ton. »Diese Erfolge haben ihren Grund vor allen Dingen in deiner Geschicklichkeit. Ich freue mich aber sehr, dass dein Hund sich gut hält. Um deine Jagdequipage vollständig zu machen, wirst du in der Abtei den Hund Jean Godarts finden, jenes mutige Tier, welches allein von allen Hunden dieser Gegend die Bestie des Gévaudan zu verfolgen und anzugreifen wagt.«

»Wäre es möglich, mein Onkel! Ich hatte aber doch sagen hören, dass Herr von Laroche-Boisseau …«

»Der Baron hatte allerdings eben so wie du die Wichtigkeit eines solchen Beistandes begriffen, denn er scheint einen Feldzugplan entworfen zu haben, welcher mit dem deinen große Ähnlichkeit hat. Deshalb hat er Jean Godart zwanzig Louisdor für den Besitz seines Hundes bieten lassen, aber ich hatte schon vierzig dafür gegeben und Jean Godart hat mir soeben dieses kräftige Tier zugeschickt, welches du im Stall des Pavillons angebunden finden wirst. Eben um dir das glückliche Resultat meiner Bemühungen zu verkünden, bin ich dir entgegengekommen.«

Leonce war außer sich vor Freuden und gab dem Prior seinen Dank auf die wärmste Weise zu erkennen.

»Aber, mein lieber Onkel«, fuhr er fort, »wer hindert mich dann, mich schon jetzt zur Verfolgung des Untiers aufzumachen? Meine Ausbildung zum Schützen und Jäger ist beendet – meine Ausrüstung mit allem Zubehör ist bereit. Denis und Gervais, mein zweiter Piqueur, sind mir einer so ergeben wie der andere. Sie werden mir überall folgen, wohin ich gehe. Warum wollt Ihr daher zögern, mich zu beurlauben? Nach den letzten Berichten steht die Bestie in den Gebirgen des Mézenc, aus welchen man sie nicht herauszutreiben vermag. Ohne Zweifel werden wir sie dort finden und wenn Gott uns begünstigt …«

»Leonce, mein Sohn«, sagte der Mönch seufzend, »warum willst du dich so sehr beeilen, den Gefahren eines solchen Unternehmens entgegenzugehen? Ich fürchte dich preiszugeben und dann hoffe ich immer noch, dass ein neues Ereignis dich der Notwendigkeit überheben soll, zu diesem äußersten Mittel zu schreiten.«

»Aber, mein Onkel, wie kann man vollendete Tatsachen ändern? Ich beschwöre Euch, haltet mich nicht länger zurück. Herr von Laroche-Boisseau ist, wie man mir sagt, von seiner Wunde wieder vollständig hergestellt. Er könnte meine Saumseligkeit benutzen, um die versprochene Belohnung zu gewinnen. Dieses Unglück aber würde ich nicht überleben.«

»Sage nicht das, Leonce. Du weißt nicht, wie untröstlich mich solche Eventualitäten machen und wenn ich bedenke, dass du ganz gewiss nicht der Einzige wärest, der darunter leiden würde! Auch sie, jene stolze junge Dame, sie würde vor Kummer und Scham sterben, wenn sie sich in die Notwendigkeit versetzt sähe, einen Gatten zu nehmen, der ihrer nicht würdig wäre.«

»Die Undankbare und Unkluge! Sie hat durch ihre Torheit die weisesten Pläne in Verwirrung gebracht. Vergebens habe ich, seitdem sie jenes unheilvolle Gelübde ausgesprochen hatte, mich erboten, sie durch das Oberhaupt der Kirche wieder davon entbinden zu lassen. Trotz der Sanftheit und Unterwürfigkeit aber, welche sie gegenwärtig zeigt, hat sie sich geweigert, darin zu willigen und mir mit ihrem gewohnten Stolz geantwortet, dass eine Tochter des Hauses Barjac niemals und in keinem Falle ihrem Wort untreu werden dürfe.«

»Und vielleicht, mein Onkel, hat sie recht,« sagte Leonce in wehmütigem Ton. »Niemand beklagt diesen verhängnisvollen Schwur mehr als ich, aber scheint es nicht, als bestünde das beste Mittel, ihn zu büßen, darin, ihn zu halten?«

Während dieses Gespräches kehrten der Prior und sein Neffe langsam zur Abtei zurück. Sie wurden von Denis und Gervais eingeholt, welche der eine die Gewehre und der andere das erlegte Wild ihres Herrn trugen.

Denis war ein Mann von sechzig Jahren, mit einem ehrlichen Gesicht, der trotz seines Alters noch eine eiserne Gesundheit und unermüdliche Körperkraft besaß. Gervais, der viel jünger war, schien die Einfalt, aber auch zugleich die Offenheit und Biederkeit der Gebirgsbewohner zu besitzen.

Der Mönch blieb stehen und lächelte sie an.

»Guten Tag, meine wackeren Leute«, sagte er mit seinem gewohnten Wohlwollen. »Ich freue mich sehr, Euch zu sehen, um Euch für Euren Eifer und Eure Hingebung für meinen Neffen zu danken. Welch einen geschickten Zögling habt Ihr aus ihm gemacht, Meister Denis! Aber glaubt Ihr wirklich, dass er schon imstande sei, der furchtbaren Bestie des Gévaudan die Spitze zu bieten?«

»O, mit Verlaub, hochwürdiger Herr«, entgegnete Denis mit Enthusiasmus, »unser junger Herr wäre imstande, selbst dem Teufel die Spitze zu bieten, wenn die Haut des Teufels von einer Kugel durchlöchert werden könnte! Ich wünschte, hochwürdiger Herr, Ihr hättet gesehen, wie er soeben erst diesem Fuchs auf zweiundsechzig Schritte Entfernung einen Stangenposten mitten durch den Kopf geschossen hat. Mehr kann man von Pulver und Blei nicht verlangen. Noch niemals habe ich eine solche Gewandtheit, einen so sicheren Blick, eine so feste Hand gesehen. Und wie versteht Monsieur Leonce auch den Hirschfänger zu führen! Man soll sich nicht selbst rühmen, aber wenn man erwägt, dass Monsieur Leonce von niemanden Unterricht erhalten hat, als von mir …«

»Ihr habt recht, Denis«, entgegnete der Prior in heiterem Ton, »man muss gerecht sein, auch gegen sich selbst. Wohlan, Ihr werdet uns immer voranschreiten, um in die Abtei zurückzukehren und Euch so schnell wie möglich Eurer Bürden zu entledigen. Dann werdet Ihr in meinem Namen den Vater Ökonom aufsuchen und ihm sagen, dass er Euch, Denis, zwanzig, und Euch, Gervais, zehn Louisdor auszahlen soll. Fahrt beide fort, meinem Neffen treu zu dienen. Ihr werdet dafür belohnt werden.«

Denis und Gervais wollten, außer sich vor Freude dem Prior für seine Freigebigkeit danken. Der Pater aber gab ihnen durch einen Wink zu verstehen, dass er mit Leonce allein zu bleiben wünsche.

Deshalb begnügten sie sich mit einer tiefen Verbeugung und setzten ihren Weg zum Schloss weiter fort.

Als sie sich entfernt hatten, hob Leonce in schüchternem Ton an: »Ich bewundere Eure Freigebigkeit, mein Onkel, aber zuweilen fürchte ich, dass sie Euch lästig werden müsse. Meine Liebhabereien kosten Euch schwere Summen.«

»Haben diese Bedenklichkeiten vielleicht ihren Grund in dem Geschenk, welches ich soeben diesen armen Leuten gemacht habe?«, fragte der Prior lächelnd. »Lass dich dadurch nicht beunruhigen, Leonce. Du kannst auf würdige Weise alle Dienste belohnen, welche dir geleistet werden. Zu diesem Zweck habe ich heute Morgen selbst auf deinen Tisch eine Rolle von hundert Louisdor gelegt, wovon du nach deinem Gutdünken Gebrauch machen wirst.«

»Eure Güte beschämt mich, mein Onkel, und ich weiß nicht, ob ich …«

»Nimm es nur getrost an, mein Sohn, denn dieses Gut ist das deine. Du bist bis jetzt zu zartfühlend gewesen, Leonce, um dich nach deinem väterlichen Erbteil zu erkundigen, aber es ist bedeutend, und wenn ich dir davon Rechenschaft ablegen werde, was nun nicht lange mehr dauern kann. So wirst du sehen, dass es mit Weisheit und Umsicht verwaltet worden ist. Verfüge daher schon jetzt darüber. Du hast bei uns von deiner Kindheit an Nüchternheit, Klugheit und Mäßigung in deinen Wünschen gelernt. Du wirst dich daher deines Reichtums mit Maß bedienen, davon bin ich überzeugt.«

Leonce wollte antworten, als die große Glocke der Abtei plötzlich geläutet wurde, wie an hohen Festtagen.

»Was ist das, mein Onkel?«, fragte er stutzend.

»Ich weiß es nicht; es ist jetzt kein Gottesdienst. Dieses Läuten muss daher notwendig die Ankunft eines Oberen oder die sofortige Versammlung des Kapitels, vielleicht auch beides verkünden. Da nun unser vortrefflicher Vater Abt in diesem Augenblick an einem seiner Gicht- und Rheumatismusanfälle leidet, so muss ich ihm sehr rasch zu Hilfe eilen. Ich bitte dich deshalb, Leonce, deinen Schritt zu beschleunigen.«

»Sehr gern, lieber Onkel, aber erratet Ihr nicht die Ursache?«

»Ich hoffe immer noch, dass es sich bloß um einen Staats besuch handelt. Monseigneur der Bischof von Mende haben gerade seit einigen Tagen seine Rundreise begonnen. Aber«, hob Bonaventura an, als er einen Mönch gewahrte, der ganz außer Atem auf sie zugeeilt kam, »was will denn der gute Vater Anselm von uns? Es muss etwas Außerordentliches vorgehen, dass er sich hat überwinden können, so schnell zu laufen.«

In der Tat dauerte es nicht lange, so erreichte sie ein großer, starker, keuchender Mönch, dessen gewöhnlich freundliches Gesicht in diesem Augenblick Unruhe und Aufregung zu erkennen gab.

»Ach, teurer Pater Prior,« rief er, »beeilt Euch hereinzukommen. Noch niemals ist unser heiliges Haus in einem solchen Wirrwarr gewesen. Man verliert den Kopf – man sucht Euch überall. Nur Eure Gegenwart kann uns wieder beruhigen.«

»Um was handelt es sich denn?«, fragte Bonaventura, indem er seinen Schritt beschleunigte. »Ist der Gast, welcher soeben angekommen, nicht der Bischof von Mende?«

»Ach, leider nein, Pater Prior. Wohl ist es ein Bischof, aber nicht der von Mende. Er heißt Monseigneur de Cambis, Bischof von Aleppo in partibus, und nennt sich Kommissär des Königs beim Abt und dem Kapitel von Frontenac.«

»Commissär des Königs?«, wiederholte Bonaventura, welcher nicht umhinkonnte, zu erbleichen. »Und warum sollte die weltliche Macht in den Angelegenheiten der Abtei einschreiten?«

»Das müsst Ihr besser wissen als ich, Pater Prior; aber Monseigneur von Cambis spricht mit uns allen in einem strengen Ton, an den wir nicht gewöhnt sind. Er behauptet, mit besonderem Befehl des Königs und von Monseigneur dem Bischof von Mende beauftragt zu sein, zu dessen Sprengel wir gehören. Kaum angelangt, hat er die Erfrischungen zurückgewiesen, welche wir uns beeilten, ihm anzubieten, und befohlen, das Kapitel zu versammeln, nicht das große, welches aus sämtlichen Vätern von Frontenac besteht, sondern das kleine, welches bloß aus den Würdenträgern des Klosters zusammengesetzt ist. Man hat ihm gehorcht, denn man zittert schon vor ihm. Und die Mitglieder des kleinen Kapitels sind im Zimmer des Abtes versammelt. Was Euch aber besonders in Erstaunen setzen wird, hochwürdiger Prior, ist der Umstand, dass Monseigneur sich vor allen Dingen nach Euch erkundigt hat.«

»Nach mir?«

»Ja, und als er von Eurer Abwesenheit erfuhr, hat er zu fürchten geschienen, dass Ihr das Kloster für immer verlassen hättet, was ihn sehr zornig gemacht hat, und ist erst wieder ruhig geworden, nachdem man ihm gesagt hat, dass Ihr bloß um eines einfachen Spazierganges willen ausgegangen wäret. Der Vater Abt ist ganz erstarrt und hat mich beauftragt, Euch entgegenzueilen, um Euch zu bitten, so schnell als möglich zu kommen.«

» Nun gut! Eure Aufgabe ist beendet, Vater Anselm, und wir sind endlich angelangt. Gott schütze uns vor allem Übel!«

In der Tat trat man in diesem Augenblick in den ersten Hof der Abtei. Dieser sonst so ruhige Hof bot in diesem Augenblick ein lebensvolles Schauspiel dar. Die Sänfte, welche der Pater Bonaventura gesehen hatte, stand noch fertig angespannt in einem Winkel. Die vier Lakaien der Eskorte waren abgestiegen, standen aber unbeweglich da, den Zaum ihrer Pferde über den Arm geworfen, als ob sie Befehle erwarteten.

Laienbrüder irrten um sie herum und schienen ihre Rosenkränze zu beten. Einige am Eingang eines Korridors, der zum Zimmer des Abtes führte, stehende Väter sprachen eifrig miteinander, während die große Glocke des Klosters fortfuhr, mit ihrem sonoren Geläute das alte Gebäude zu erschüttern.

Bei der Ankunft des Priors schwieg man und aller Augen wendeten sich auf ihn. Sei es nun aber, dass die Gesetze des Hauses verboten, einen Oberen auszufragen, sei es, dass man schon Kenntnis von irgendeinem dem Pater Bonaventura ungünstigen Gerücht hatte. Niemand wagte ihn anzureden. Man begnügte sich damit, sich vor ihm zu verneigen, während er vorüberging.

Der Prior hatte seinerseits die Ruhe und Heiterkeit seines Geistes wiedergewonnen. Nachdem er die Vorhalle der Abtei durchschritten hatte, sagte er in freundschaftlichem Ton zu seinem Führer: »Ich danke für Eure Mühe, Pater Anselm. Da Ihr aber noch nicht zum kleinen Kapitel gehört, so müssen wir uns hier trennen. Ich werde zu unserem hochwürdigsten Abt hinaufgehen. Ihr, liebe Brüder, betet unterdessen.«

»In welcher Absicht, wenn ich fragen darf?«, fragte der Mönch mit schlecht verhehlter Neugier.

»Damit Gott uns allen die Kraft gebe, eine peinliche Pflicht zu erfüllen und dass er uns öffentliches Ärgerniß vermeiden lasse.«

Er verdoppelte seinen Schritt, während Anselm nicht wusste, was er aus dieser Antwort machen sollte.

Als Bonaventura eben die Schwelle des vom Abt bewohnten Gebäudes überschreiten wollte, fühlte er sich sanft zurückgehalten.

Leonce, der ihn nicht verlassen hatte, fragte ihn mit unruhiger Miene: »Mein Onkel, ich bitte Euch, was geht denn da vor? Man sollte meinen, es drohe Euch ein Unglück! Könnet Ihr mir nicht sagen …«

Bonaventura lächelte ihn friedlich an. »Nichts, es ist nichts, mein Sohn«, hob er an. »Du würdest unrecht daran tun, wenn du dich beunruhigen wolltest. Es handelt sich ohne Zweifel um eine Angelegenheit der inneren Disziplin, welche sich mit Sr. Eminenz dem Bischof von Aleppo leicht ordnen lassen wird. Kehre in den Pavillon zurück, Leonce, und denke nicht weiter an alles dies. Und«, setzte er mit nachdenklicher Miene hinzu, »da du so lebhaft wünschst, dich aufzumachen, um die Bestie des Gévaudan zu jagen, so sehe ich nicht ein, weshalb ich deinen Wünschen länger widerstehen sollte. Triff daher schon jetzt deine Anstalten zur Abreise. Sobald das Kapitel geschlossen ist, werde ich dich in deinem Zimmer aufsuchen und wir werden dann über die letzten Maßnahmen, welche zu treffen sind, uns besprechen.«

»Was, mein Onkel,« rief Leonce ganz erfreut, »Ihr wollt endlich einwilligen …«

»Ich muss wohl, böser Knabe, da du dich so sehr danach sehnst. Ich bin übrigens in Bezug auf diese Trennung noch nicht ganz entschieden und will mich erst über gewisse Punkte aufklären, ehe ich dich definitiv verabschiede. Indessen richte alles so ein, als ob du noch heute die Abtei verlassen wolltest. Auf baldiges Wiedersehen also, mein lieber Leonce. Man erwartet mich. Gott behüte dich.«

Er lächelte nochmals, grüßte mit der Hand und trat in das Kloster.

Leonce ahnte, dass sein Onkel nicht so ruhig sei, wie er scheinen wollte, aber die Freude hinderte ihn, eine Menge Umstände zu bemerken, welche zu jeder anderen Zeit seinen Argwohn erweckt hätten. Er begab sich zurück zum Pavillon der Gäste.