Die Gespenster – Zweiter Teil – Neunundzwanzigste Erzählung
Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil
Neunundzwanzigste Erzählung
Der kalt anhauchende Geist im Anker zu Torgau
Der im Jahre 1796 verstorbene Hofrichter Müller zu Lübben war vor mehreren Jahren als Sachwalter in einer Rechtsangelegenheit nach Leipzig gereist und hatte dort für seinen Klienten eine beträchtliche Summe Geldes in Empfang genommen, womit er nach Lübben zurückkehrte. Sein Weg führte ihn über Torgau, wo er sein Nachtquartier im Gasthof Zum Anker nahm. Da er sehr spät hier ankam und fast alle Zimmer des Gasthofes belegt fand, so musste er mit einer Stube im Hintergebäude vorliebnehmen. Er verriegelte die Stubentür hinter sich, legte das Kapital, welches er bei sich hatte, unter die Kissen des Kopfendes seines Bettes und auf einen Tisch neben dem Bett seine Schutzwehr gegen Einbruch und gewaltsame Behandlung ein paar geladene Pistolen. So überließ er sich nun unbesorgt dem Schlaf, ohne zu wissen, dass ihm ein spukender Nachtgeist umschwebe, auf dessen luftige Wesenheit die Ladung keines irdischen Schießgewehrs haftet.
Nach Mitternacht erweckte ihn ein spukhaftes Etwas, welches ihm empfindlich unter die Nase blies. Heftig fuhr er mit einem Wer da! in die Höhe und blickte forschend um sich. Die matten Strahlen des abnehmenden Mondes machten ihm dicht am Fenster neben dem Bett eine lange, fast bis an die Decke reichende weiße Geistgestalt anschaulich.
Herr Müller, der als denkender Mann der Gespensterfurcht nie Raum gegeben hatte, glaubte, es sei ein Dieb durchs Fenster gestiegen. Sein Entschluss war daher auf der Stelle gefasst. Er ergriff eine Pistole und rief ihn nochmals mit drohender Stimme sein Wer da! Antwort oder ich schießen! entgegen. Allein anstatt aller Antwort nahte sich ihm das Schreckbild, hauchte ihn an, kalt und schauderlich, wie der Todesengel anzuhauchen pflegt und wich dann an seinen vorigen Standort zurück.
Immer dachte Müller noch an nichts weniger, als an etwas Übernatürliches. Er donnerte daher zum dritten Mal ein Wer da! heraus. Da auch jetzt keine Antwort erfolgte, so drückte er eine Pistole auf das Ungetüm ab. Aber o Wunder! Im nämlichen Augenblick, wo die Kugel durch den Geist hinfuhr, schwebte er wieder so wie vorher auf den Verwegenen zu und ließ ihn nochmals seinen erstarrend kalten Hauch empfinden.
Jeder weniger entschlossene Gespensterleugner würde nun zu Kreuze gekrochen sein; nicht so der brave Müller. Völlig überzeugt, dass er kein menschliches Wesen vor sich habe – und eine andere Art von Gästen fürchtete er nicht – sprang er nun aus dem Bett auf die Schreckensgestalt zu und ergriff ziemlich unsanft das, was an dem luftigen Spuk körperlich war. So hatte er nun nicht mehr und nicht weniger als einen Fenstervorhang in seinen Händen. Dieser ohnmächtige, von der abgeschossenen Kugel durchlöcherte Geist, hatte seine Furchtbarkeit folgenden zufälligen Umständen zu verdanken: Der Wirt, vermutlich ein Freund der frischen Luft, hatte bei Tage ein Oberfenster im Zimmer geöffnet und wieder zuzumachen vergessen. Vor diesem Fenster hing eine lange weiße, unten nicht angebundene Gardine, so, dass man das aufstehende Fenster umso weniger bemerkte, je weniger bei der völligen Windstille, welche beim Schlafengehen geherrscht hatte, der Vorhang von der äußeren Luft bewegt worden war. Allein bald nach Mitternacht erhob sich plötzlich ein Sturm, der unserem Reisenden, dessen Bett nahe am Fenster stand, das Spiel des Windes, den Gegenstand des Schreckens – die Gardien – unter die Nase trieb.