Elbsagen 01
Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig
Vorwort
Während die Sagen vom Rhein schon seit mehreren Menschenaltern in zahlreichen Ausgaben die Jugend erfreuen, gab es bisher von der Elbe nur kleinere Sagensammlungen von örtlicher Bedeutung. Für die vorliegende umfassendere Zusammenstellung bildeten die bekannten Sagensammlungen von J. G. Th. Graeße (Verlag C. Flemming, Glogau) die reichste Fundgrube. Neben diesen und anderen älteren Werken durfte ich auch einige neuere benutzen. Zu besonderem Dank bin ich verpflichtet der J. G. Cotta’schen Verlagsbuchhandlung Nchf. in Stuttgart für die Erlaubnis, mehrere Stücke aus »Otto Beneke, Hamburgische Geschichten und Sagen« entnehmen zu dürfen sowie den Beneke’schen Erben, insbesondere Herrn Landgerichtsdirektor Dr. Wulff in Hamburg. Ferner Frau Julie Kirschner in Außig, die mir den Nachdruck einer Anzahl von Sagen aus »Adolf Kirschner, Ein Sagenschatz aus dem Elbetal« gestattete, und Herrn Prof. Dr. Meiche in Dresden, dessen »Sagenbuch des Königreichs Sachsen« (Schönfelds Verlag, Leipzig) ich einige Sagen entlehnen durfte.
Berlin-Halensee, im Juli 1921.
Dr. Ebermann
1. Das Vaterunser
Ein Leitmeritzer Zinngießer hatte einst einen Lehrling, namens Jakob. Der schlenderte eines Abends auf der Prager Straße herum und begegnete dort einem kleinen Mann in dunklem Mantel, der ungefähr wie ein ehrbarer Handwerksmeister aussah. Der Fremde sprach den Lehrling an und fragte ihn, ob er nicht bei ihm in den Dienst treten wollte, er solle einen guten Herrn an ihm haben. Aber Jakob schüttelte den Kopf und antwortete, er habe schon einen Meister und brauche bei keinem anderen Dienste zu nehmen. Doch der kleine Mann meinte, was er ihm anbieten wollte, könnte er nebenbei verrichten und sich einen guten Lohn verschaffen, ohne bei seinem Meister etwas zu versäumen. Nun fragte Jakob, worin denn die Arbeit und der Lohn bestehen sollten.
Der Alte erwiderte: »Ich verlange nur, dass du jeden Abend an dieser Stelle ein Vaterunser betest. Dafür wirst du jedes Mal einen silbernen Zwanziger auf dem Eckstein finden, wenn du die Zeit nicht versäumst und das Gebet niemals unterlässt.«
Als Jakob das hörte, meinte er, es könnte kein Unrecht sein, durch Beten Geld zu verdienen, zumal wenn es geschehen könnte, ohne seines Herren Dienst zu vernachlässigen. Er erklärte sich also bereit und willigte in den Handel. Darauf übergab ihm der Unbekannte ein Pergament, auf dem das Gebet gar wunderschön geschrieben stand, und fragte ihn zugleich, wie er hieße.
»Jakob Nowak«, entgegnete der Lehrjunge.
Doch der Alte versicherte, den Namen könne er sich nicht merken, er solle ihn auf einen Zettel schreiben und zugleich das Versprechen hinzufügen, dass er in der verabredeten Weise täglich das Vaterunser beten wollte. Jakob war bereit, das aufzuschreiben, sagte aber, es sei ja kein Schreibzeug vorhanden. Da brachte der kleine Mann eine Feder hinter dem Ohr hervor, die der Junge vorher gar nicht gesehen hatte, und zog ein Papier aus der Tasche, auf dem Jakob las: Ich, Endesunterfertigter, verpflichte mich hierdurch, gegen den Lohn von zwanzig Kreuzern täglich in der Prager Gasse ein Vaterunser zu beten. Noch immer fehlte die Tinte, doch auch da wusste der Alte Rat. Ehe es sich Jakob versah, hatte ihm der Fremde mit einem kleinen Messer die linke Hand geritzt, sodass ein Tropfen Blut hervorquoll, der gerade ausreichte, um den Namen auf das Blatt zu schreiben. Nun graute dem Jungen doch ein wenig, aber er dachte, mit dem Beten könne so nichts Böses vereinbart sein, und so unterschrieb er den Vertrag. Als er darauf sogleich den ersten blanken Silberzwanziger erhielt, schwanden ihm vollends alle Bedenken, sodass er kaum bemerkte, wie der kleine Mann augenblicklich verschwunden war.
Jakob betete von nun an getreulich sein Vaterunser und fand jedes Mal seinen Zwanziger auf dem Eckstein. Dafür machte er sich gute Tage und kaufte sich so viel Naschwerk und Spielereien, dass sich der Meister und die Mutter sehr darüber wunderten. Indessen glaubten beide, er erhalte das Geld von dem anderen geschenkt, bis endlich der Meister Zinngießer die Mutter zu sich rufen ließ und sie warnte, dem Jungen so viel Geld zuzustecken. Er sagte, das sei der beste Weg, um den Jungen zu einem liederlichen Menschen und Taugenichts zu erziehen. Dagegen versicherte ihm die Mutter ganz erschrocken, sie sei eine arme Witwe, die ihrem Kind gar nichts geben könne, und habe geglaubt, der Meister mache ihm manchmal ein kleines Geschenk. Beide erschraken und fürchteten schon, Jakob möchte das Geld irgendwo gestohlen haben. Sie nahmen also den Jungen ins Gebet und fragten ihn, wie er zu dem Gelb komme. Da erzählte ihnen Jakob die Geschichte von dem alten Mann, der ihn für das Vaterunser bezahlte, und zeigte den Zwanziger vor, den er am vorigen Abend auf dem Eckstein gefunden hatte. Die Mutter atmete schon erleichtert auf. Als sie aber von der blutigen Unterschrift hörte, wurde sie von neuer Sorge befallen. Der Zinngießer fragte Jakob, ob er wohl schon gehört habe, dass ein Meister, wenn er einen Lehrling oder Gesellen aufnimmt, sich einen Vertrag mit Blut unterschreiben lasse. Da schüttelte der Junge traurig den Kopf.
Auf die weitere Frage, ob denn jener Alte ein richtiger Mensch gewesen sei, entgegnete er: »Das kann ich nicht ganz bestimmt behaupten, aber er hat einem gewöhnlichen Menschen ganz ähnlich gesehen.«
Hierauf ermahnte der Meister Jakob, die Sache ganz aufzugeben und nicht mehr zur Prager Gasse zu gehen, damit er nicht dem Teufel verfalle. Der Junge war auch gleich willig, den Alten laufen zu lassen. Darauf brachte ihn die Mutter zu ihrem Beichtvater, der erkannte das Vaterunser, das Jakob vom kleinen Mann erhalten hatte, als gefälscht. Er betete das wahre Vaterunser mit ihm und schloss ihn auch in das Kirchengebet mit ein. Das falsche Vaterunser verbrannte er in der Kirche.
Als Jakob am nächsten Sonntag der Messe beiwohnte, fiel die Verschreibung, die er dem Fremden gegeben hatte, zerrissen zu seinen Füßen nieder.