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Der Spion – Kapitel 18

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 18

Der Gast im Lager

In Kansas City war es, wo Oliva und Nicodemo sich von Lydia Rutherfield und dem Captain Durlach trennten. Ihre Pferde und Feldausrüstung hatten sie den beiden jungen Otoe anvertraut, die ihr vorläufiges Unterkommen bei den in der Nachbarschaft ansässigen Kansas-Indianern fanden. Zugleich waren sie dahin verständigt worden, ihre Bewegungen von den Ratschlägen des Captains abhängig zu machen.

Während Oliva und Nicodemo auf einem Dampfer nach St. Louis fuhren, hatten Maurus und Lydia, Letztere in Begleitung des schwarzen Nestor und Evas, in einem Gasthaus Wohnung genommen. Von hier aus fragte Maurus, auf einen durch seinen Diener zu überbringenden Brief sich beziehend, bei dem Colonel Rutherfield telegrafisch an, wohin er seine Tochter führen solle. Nach Ablauf einer Woche erhielt er die telegrafische Antwort, dass sein Kommando auf unbestimmte Zeit verlängert worden sei, um Lydia stromaufwärts zu der bei den Council-Bluffs gelegenen presbyterianischen Mission zu begleiten; zuvor jedoch sollte er erst noch einen Brief abwarten. Vier Tage später traf dieser ein. In demselben erklärte der Colonel die Ursachen, weshalb er seine Tochter St. Louis fernzuhalten wünsche. Auf der Mission lebte dagegen als Leiter derselben ein Verwandter seiner verstorbenen Frau; außerdem lag dieselbe so weit abwärts von den verschiedenen Kriegsschauplätzen, dass er eine Überflutung jener Gegend durch Heeresabteilungen für ausgeschlossen hielt. Auf alle Fälle, die Möglichkeit seines Fallens eingerechnet, fand Lydia dort eine geeignete Zufluchtsstätte wenigstens auf so lange, bis die Verwertung seines Grundbesitzes – die eingeäscherten Fabriken zählten nicht mehr mit – ihr eine gewisse Unabhängigkeit sichern würde. An Lydia, schrieb der Colonel ferner, hätte er einen besonderen Brief gerichtet, in welchem er sie über seine Pläne unterrichtete und des Weiteren auf Maurus verwies.

»Heimatlos ist ein verhängnisvolles Wort«, erklärte Lydia klagend, nachdem Maurus die ihm übertragene Aufgabe vor ihr entwickelt hatte, »und wer weiß, ob der furchtbare Krieg mich desjenigen nicht beraubt, der allein mir eine neue Heimstätte bieten kann. Er glaubte in seiner treuen väterlichen Fürsorge, alles für mich getan zu haben, indem er mir eine sichere Zukunft begründete, und das erleichterte es ihm, als früherer Offizier in edler Selbstverleugnung dem Vaterland seine Dienste zu weihen. Wo liegt jetzt meine Zukunft? Doch wie Gott will. Das unerschütterliche Vertrauen, welches mein Vater dadurch bewies, dass er Sie zu meiner Rettung aussandte, bringe auch ich Ihnen entgegen. Bestimmen Sie die Stunde, und ich bin zum Aufbruch bereit.« Sie reichte Maurus die Hand, welche dieser ehrerbietig an die Lippen hob. Wohl standen ihm ermutigende Worte zu Gebot; aber sein Herz blutete, als er das schöne Mädchen hoch aufgerichtet vor sich stehen sah, entschlossen, sich von ihm führen zu lassen, wohin auch immer es sein mochte, mit ihm alle ferneren Erfahrungen zu teilen, ob gute oder böse, ohne zu klagen oder mit dem Geschick zu hadern. Mit allem war sie einverstanden, was er riet und verfügte, sie kannte keine Einwendungen, keine Zweifel.

Zunächst drang Maurus auf schleunigen Aufbruch, zumal er den Eindruck gewonnen hatte, dass, wie St. Louis, auch die Stadt Kansas von sezessionistischen Elementen, obwohl in geringerem Maß, durchsetzt sei. Er wusste daher nicht, wem er trauen, wem er mit Argwohn begegnen sollte. Am wenigsten ahnte er, dass Quinch, dieser verworfene, raubgierige Bandenchef, Freunde besaß, die um seinen Plan, sich der Tochter des Colonels Rutherfield zu bemächtigen, wussten und sie daher in seine Gewalt zu spielen trachteten. Noch weniger konnte Maurus ahnen, dass zu derselben Stunde, in welcher die telegrafische Nachricht des Colonels eintraf, ein berittener Bote die Stadt verließ, um eine Abschrift derselben in Eilmärschen Quinch zuzutragen.

Seit zwei Tagen befanden Rutherfields Briefe sich im Besitz der beiden Gefährten, und die Sonne lugte eben erst über die spätsommerlich farbenreiche Landschaft und den gelbwirbelnden Missouri, als Maurus an Lydias Seite ohne Angabe seines Ziels die Stadt verließ. Ihnen folgten Nestor und Eva, zwei beladene Packtiere mit sich führend. Außerhalb der Stadt gesellten Schahoka und Schinges sich zu ihnen. Auch sie hatten sich mit einem Pferd versehen, welches ihre geringen Habseligkeiten trug. Den auf dem Missouri-Ufer hinlaufenden Pfad wählten sie zu ihrem Weg, und als die Sonne erst heißer vom Himmel niederbrannte, da lag die Stadt weit hinter der zweiten Strombiegung. Die Dauer der Reise erfuhr dadurch eine Abkürzung, dass sie folgenden Tages Gelegenheit fanden, samt ihrer ganzen Ausrüstung an Bord eines Dampfers zu gehen. Derselbe lief nicht über die Stadt St. Joseph hinaus, wo noch etwa sechs mäßige Tagesreisen sie von ihrem Ziel trennten. Das Wetter begünstigte sie, und da Nestor und Eva ihre junge Herrin mit patriarchalischer Zärtlichkeit bedienten, Überanstrengungen aber nicht gefordert wurden, entwich die Zeit verhältnismäßig schnell. Fand Lydia doch auch in Maurus einen Begleiter, der befähigt war, auf jedes Gespräch mit ihr einzugehen, sie zu fesseln durch seine unerschöpflichen Schilderungen aus fernen Landen, wie aus den mit ihrem Vater durchlebten Kriegszeiten.

 

So waren die Reisenden allmählich bis dahin gelangt, wo sie die Tagesmärsche bis an ihr Endziel zu berechnen vermochten. Der gelbe Strom hatte bei ihrem Vorrücken einen immer wilderen Charakter angenommen. In dem breiten, von Hochebenen begrenzten Tal wand er sich ungestüm einher, fortgesetzt in Arbeit, in heftigem Andrang sein Bett zu verändern. Auf der einen Seite das sandige Erdreich zuweilen sogar bis an die Abhänge der Hochebene fortreißend, trug er es nach dem jenseitigen Ufer hinüber, um an gleicher Stelle neue Bodenflächen zu bilden. Hier und dort setzten die Fluten auch, vielleicht durch gestrandetes Treibholz bedingt, ihre schwereren Bestandteile in der Mitte des Stromes ab, um kleinere und größere Sandbänke über den Wasserspiegel hinauswachsen zu lassen. Weiden-Dickichte untermischt mit üppig emporschießenden Waldbäumen, bekleideten sie binnen verhältnismäßig kurzer Zeit, und die Inseln waren fertig. Wie sie entstanden waren, riss der launenhafte Strom andere, wie beiläufig geschaffene Eilande wieder auseinander, um sein Werk auf einer anderen Stelle von Neuem zu beginnen. So geschah es auch, dass er unablässig schwere Holzlasten auf seinem Rücken einher schleppte. Was er in dem einen Jahr von der Uferwaldung nicht abzulösen und zu entführen vermochte, das untergrub und lockerte er wenigstens, um es im darauffolgenden mit leichter Mühe als gute Beute in seinen Schoß sinken zu lassen. Ein seltsamer, tückischer Strom, der Missouri! Kein Verlass auf ihn, mag er immerhin zu Zeiten das glatte unschuldige Gesicht eines durchtriebenen Heuchlers aufsetzen.

Ein überaus lieblicher, sonniger Nachmittag war es, als die Reisenden auf dem rechten Ufer in der Nähe der Mündung des Nebraska oder flachen Flusses eintrafen. Da sie, um über diesen Strom hinüber zu gelangen, gezwungen waren, eine Strecke an demselben hinaufzuwandern, wo eine Furt das Kreuzen erleichterte, beschloss Maurus, in dem von den beiden Strömen gebildeten Winkel den folgenden Morgen zu erwarten. Auf einer Lichtung des bewaldeten Tals in der Nähe des Ufers wurde das Lager aufgeschlagen. Während Eva sich mit der Zubereitung des Mahls beschäftigte, schnitt Nestor Zweige, um in Ermangelung eines Zelts gewohnter Weise eine Laube für Lydia herzustellen. Schinges hatte es übernommen, in mäßiger Entfernung stromabwärts auf einem Wiesenstreifen die Pferde an zu pflocken, wogegen Schahoka sich auf den Weg begab, um vielleicht ein Stück Wild zu erlegen. Schon nach kurzer Zeit kehrte er in Schinges‘ Begleitung zurück. Nachdem sie Nestor streng geraten hatten, zur Unterhaltung des Feuers nur ganz trockenes, keinen Rauch erzeugendes Holz zu verwenden, entfernten sie sich bald wieder.

Maurus und Lydia hatten sich in der Nähe des abschüssigen Ufers auf einem umgebrochenen altersmorschen Baumstamm niedergelassen. Über sich die breitverzweigten Wipfel mehrerer Pappelweiden, erfreuten sie sich der Aussicht über den gegen fünfundzwanzig Fuß tiefer gelegenen Stromspiegel und die jenseitige Talerweiterung, die in der Ferne von den Abhängen der Hochebene wie von einer Hügelkette begrenzt erschien. Bis dorthin wechselten höhere und niedrigere Waldstreifen mit Umfang reichen Lichtungen. Es war eine Wiederholung des Bildes, welches hinter ihnen in einem kleineren Rahmen gefasst war. Der Missouri, obwohl bei niedrigem Wasserstand, gurgelte und sprudelte melancholisch zu ihren Füßen, indem er unermüdlich die nachgiebige Uferwand benagte. Sonst ruhte es wie stiller Friede auf der weit gestreckten Landschaft. Leben schufen nur die abwärts treibenden Wirbel, die zwischen dem Geäst größerer Holzrisse hindurch schäumenden Fluten, vereinzelte Baumstämme, die sich gemächlich davon tragen ließen, und andere, die mit dem Wurzelende auf dem Grund gleichsam verankert und dem Druck der Strömung unterworfen, in unablässiger Bewegung das Spiel lächerlich eifriger, sogenannter Taucher und Säger veranschaulichten.

»Alles so grün, so sonnig und geschmückt mit gelben und braunen Herbstlichtern«, bemerkte Lydia im Lauf des Gesprächs schwermütig, während ihre Blicke in die Ferne schweiften. »In seiner träumerischen Stille und Vereinsamung erinnert es in mancher Beziehung an die Schilderungen der ersten Ansiedler am Susquehanna oder den Süßwasserseen, bei deren Lesen geheimnisvolle Schauer mich durchrieselten. Ähnliche Empfindungen beschleichen mich jetzt. Und so erfordert es keine übermäßig lebhafte Fantasie, nach jenen Vorbildern sich geistig in die fern liegenden Zeiten zurückzuversetzen.«

»Eher natürliche Regung«, pflichtete Maurus bereitwillig bei, »sie wird gezeitigt durch die uns umringende tiefe Ruhe der Natur. Um so mehr, als nicht, wie bei jenen ersten Ansiedlern, der Gedanke an die Möglichkeit stört, dass, während wir sorglos zu einander sprechen, grausame Feinde uns beobachten, jeden einzelnen unserer Schritte überwachen und nur auf die Gelegenheit harren, von anderen erlittene Unbilden an uns zu rächen. Denn was in der Nachbarschaft der Mission lebt, sind Stämme, die im Verkehr mit den Weißen stets große Friedfertigkeit an den Tag legten.«

»Ich gebe meiner Fantasie weiteren Spielraum«, erwiderte Lydia zweifelnd, »und frage: Können sie nicht zur der Zeit, wie so manche andere eingeborene Nationen, das Kriegsbeil ausgegraben haben und zu den barbarischen Gewohnheiten ihrer Väter zurückgekehrt sein? Ich erlebte zu viel in den jüngsten Tagen, um mich gänzlich von düsteren Bildern lossagen zu können.«

»Das geschah sicher nicht«, beteuerte Maurus heiter überzeugend, »die Stämme, auf welche ich mich bezog, leben zu weit abwärts von den Gefilden, wo die Kriegsfurien ihre Fackeln schwingen. Hätten sie aber tatsächlich den Kriegspfad betreten, so ständen sie, wie unsere Otoe, unzweifelhaft aufseiten derjenigen, von welchen sie seit einer langen Reihe von Jahren nicht zu unterschätzende Vorteile genossen. Wie ich hörte, werden Sie auf der Mission wie in deren Nachbarschaft hinlänglich Gelegenheit finden, sich von deren Harmlosigkeit zu überzeugen.«

 

Ein Schuss dröhnte, durch die Entfernung gedämpft aus der Richtung des Übergangspunktes des Nebraska herüber.

»Unsere braunen Freunde scheinen mit ihrer Jagd Erfolg gehabt zu haben«, schaltete Maurus ein, fügte aber bald, gleichsam unwillkürlich, zweifelnd hinzu: »Sie müssen sich sehr beeilt haben, um innerhalb der kurzen Zeit so weit zu gelangen. Eine halbe Stunde Wegs beträgt es bis dahin, wo der Schuss abgefeuert wurde.«

Lydia, vielleicht durch den Ton seiner Stimme betroffen, sah befremdet zu ihm auf. Maurus gewahrte es, lachte sorglos und sprach erzwungen gleichmütig: »Ich wollte nur andeuten, dass man durch die über den Prärien lagernde Atmosphäre sehr leicht über die Entfernung eines Schalles getäuscht wird …«

»Jemand kommt!«, rief Nestor von dem Küchenfeuer herüber, und als Maurus und Lydia sich zu ihm umdrehten, gewahrten sie, dass er aufmerksam stromabwärts in das Gehölz hineinspähte. »Jemand kommt!«, wiederholte er zuversichtlicher, »er hält die Fährte, die von unseren Gäulen gebrochen wurde.«

Gleichzeitig unterschied Maurus den Hufschlag eines einzelnen Pferdes und das Geräusch, mit welchem es sich durch das den Pfad beengende Gesträuch Bahn brach.

Kurze Zeit herrschte das Schweigen einer lebhaften Spannung. Alle Blicke waren auf die Stelle gerichtet, aus welcher der Fremde im Freien erscheinen musste. Dann noch einige Sekunden, und das Gebüsch schloss sich hinter einem Reiter, dessen verschlissener Lederanzug samt ganzer Ausrüstung einen westlichen Jäger kennzeichnete. Um den ihn auf dem engen Pfad hindernden Zweigen leichter begegnen zu können, trug er seine lange Kentuckybüchse auf der Schulter. Vom Sattelknopf hing auf jeder Seite eine straff gefüllte Ledertasche nieder, während hinter ihm auf der Kruppe des hageren, jedoch augenscheinlich zähen und ausdauernden Pferdes eine in Mantelsackform zusammen geschnürte wollene Decke festgebunden worden war. Daran gewöhnt, mit nicht mehr Hilfsmitteln, als diejenigen, welche er seinem Tier, ohne es zu überlasten, aufbürden durfte, die westliche Wildnis zu kreuzen, prägten sich auf seinem sonnenverbrannten Gesicht mit dem verwitterten Bart und dem wilden gelbblonden Lockenhaar so viel heitere Zufriedenheit und frischer Lebensmut aus, als ob er im Kreis leichtfertiger Kameraden sich an einem kräftigen Trunk beteiligt hätte, und wohl mehr noch. Denn derjenige, der sein Pferd sorglos auf das ein gutes Mahl verheißende Feuer lenkte, war kein anderer, als Kit Andrieux selber, der sich augenscheinlich überglücklich schätzte den Aufenthalt in der beängstigenden Stadt wieder mit der heimischen Wildnis vertauscht zu haben. So empfingen Maurus und Lydia auch den günstigsten Eindruck von seiner ganzen Erscheinung, in welcher sich neben trotzigem Selbstbewusstsein ein hoher Grad von Gutmütigkeit verriet. Es fesselte sie sein offener, ruhiger und doch seltsam scharfer Blick, wie die zuversichtliche Haltung, die so himmelweit verschieden von der knabenhaften Unselbstständigkeit, mit welcher er im Lustigen Rekruten in seiner Unbeholfenheit bald hier, bald dort anstieß und genug zu tun hatte, da, wo die Redegabe zum Schlichten plötzlich auftauchenden Haders nicht ausreichte, mit den Fäusten, sogar dem Messer ein wenig nachzuhelfen. Und so war es beinah ein Wunder zu nennen, dass er mit heiler Haut aus St. Louis entkommen war; nebenbei mit einer Tasche voll der geliebten Dollars, die er aus seinem Pelzwert löste.

 

»Besten Gruß euch allen!«, rief er munter aus, indem er Nestor die Büchse reichte, den am Hals seines Pferdes befestigten Lasso auseinanderrollte und zur Erde warf. Er schwang sich aus dem Sattel, zäumte sein Tier ab, ihm durch einen leichten Schlag zu verstehen gebend, dass es sich frei bewegen möge, woraus er fortfuhr: »Und nochmals guten Gruß allen miteinander, und verdammt will ich sein, wenn es eine zweite Mähre der meinigen nachtut. In sieben Tagen schaffte sie es von Kansas City bis hier heraus, und obendrein bei einem Futter, wobei der bescheidenste Esel hätte zugrunde gehen müssen.«

Er reichte Lydia vertraulich die Hand, demnächst Maurus, worauf er deren Einladung, es sich bequem zu machen, mit der Erklärung beantwortete: »Es ist sonst nicht meine Art, an Bequemlichkeit zu denken, bevor der Gaul sich komfortabel fühlt, und drei Tage wollt ich gern mit einem Stück steinhart gedörrten Büffelfleisches vorlieb nehmen, könnte ich dem Tier dafür ein halb Dutzend Maiskolben auftischen, die ich bei euch sicher vergeblich suche. Hol‘s der Henker! Wo nichts ist, ist nichts, und bevor ich ihm den Sattel von dem heißen Rücken nehme und einen Trunk verabreiche, muss es ordentlich abdampfen. Ich bin nämlich geritten wie der leibhaftige Satan hinter einer armen Seele, um euch einzuholen, denn nach den Fährten zu schließen, die ich heute früh aufnahm, konntet ihr nicht viel weiter gekommen sein, als bis hierher. Ist es aber den Herrschaften angenehm und recht, so übernachte ich bei ihnen, da mögen wir morgen den Nebraska gemeinschaftlich kreuzen und die Reise nach den Council-Bluffs fortsetzen.«

»Nicht nur angenehm, sondern auch dankbar sind wir Ihnen für die Begleitung«,  versetzte Maurus, welchen das freimütige derbe Wesen des redseligen Fallenstellers ergötzte und immer mehr für ihn einnahm, »sind in diesem Teil des Landes auch keine räuberischen Überfälle zu befürchten, so reitet man doch lieber zu Sieben, als zu Sechsen.«

»Recht so, Mann«, bestätigte Kit, und er lachte belustigt, jedoch in einer Weise, dass Maurus schärfer auf ihn hinsah, »der Teufel hat zuweilen sein Spiel, dass einem das Raubgesindel unter den Händen aus dem Erdboden wächst – die Lady da braucht deshalb nicht zu erschrecken. Denn geredet muss werden, gleichviel, ob es einen festen Hintergrund hat oder die Zunge rostet einem an den Zähnen fest, wie ein Spann-Nagel in feuchtem Holz.«

Anstatt auf Maurus‘ Einladung, neben ihm auf dem Baumstamm Platz zu nehmen, warf er sich gemächlich vor den beiden jungen Leuten auf den Rasen, und wie, um die nicht oft gebotene Gelegenheit zum Sprechen gehörig auszuruhen, fuhr er leichtfertig fort: »Nebenbei ist‘s ein Vorteil, beim Plaudern sich gegenseitig ins Angesicht zu schauen, und das soll man bleiben lassen, sitzt man längsseits von einander. Und nochmals, schöne junge Lady, muntern Sie sich auf; denn wäre nur‘n Strohhalm Gefahr vorhanden, so hätten Sie verdächtige Spuren kreuzen müssen – und es gibt ja ungeschlachtes Pack, das sich den Henker d‘rum schert. Wie tief die Hufe ihrer Mähren sich ins Erdreich eingraben oder wessen Blicke sich darauf legen. Verdammt! Sie denken eben, wenn ihrer zwanzig und mehr beisammen sind, kann die ganze Welt ihnen nachpfeifen; aber ich vermute, von Fährten bemerkten Sie nichts unterwegs.«

»Nichts«, beteuerte Maurus, »und die beiden Otoe, die uns begleiten, ließen doch keinen Fußbreit des Tals zwischen dem Missouri und der Hochebene außer Acht.«

Andrieux lachte herzlich und blinzelte Maurus in einer so seltsam verschmitzten Weise zu, dass dieser sich dadurch tief beunruhigt fühlte. Was in ihm vorging, las Andrieux unzweifelhaft auf seinen Zügen, denn er bemerkte unschuldig grinsend: »Was wollen Sie denn weiter! Keine Spur weit und breit, sie möchten denn einige Meilen von hier oben auf der Ebene zu finden sein; außerdem im Bereich zweier Tagereisen die Council-Bluffs vor uns verdammt, da gibt es keine Ursache, ängstlich darein zu schauen, wie die liebliche junge Lady da. Aber Sie redeten von den Otoe – die muss ich nämlich kennen – ich rechne, die sind nach einem Stück frischen Fleisches aus. Auch hörte ich einen Schuss aus der Richtung der Furt. Hoffentlich hat der Bursche, der ihn abfeuerte, dabei die Nase gerade gehalten.«

»Sie gingen tatsächlich am Nebraska hinauf«, versetzte Maurus, sich ebenfalls einer gewissen Sorglosigkeit im Ausdruck befleißigend, »erlegten sie wirklich ein Stück Wild, so werden wir wohl noch eine Weile warten müssen, bevor sie zurückkehren.«

Die braune Eva erschien und meldete, dass das Mahl angerichtet sei.

»Auch für unseren Gast?«, fragte Lydia fürsorglich.

»Auch für ihn, Miss Lydia, und besäße er Appetit wie der größte Walfisch unter der Sonne«, hieß es stolz zurück.

»Ich hoffe, Sie lehnen die Einladung, sich an unserem Mahl zu beteiligen, nicht ab«, wendete Lydia sich freundlich an Andrieux.

»Noch soll ich zum ersten Mal ein nahrhaftes Gericht ausschlagen, nachdem ich meine acht Stunden ritt, ohne mehr als ein Viertelpfund gedörrtes Wildfleisch über die Zähne geschoben zu haben«, erklärte Andrieux, dessen gute Laune mit jedem neuen Wort, welches Lydia sprach, zu wachsen schien. »Zuerst aber das liebe Vieh; nachher komme ich erst an die Reihe. Warten Sie daher nicht auf mich, wenn Sie mir eine Güte erweisen wollen, oder es packt mich eine Unruhe. Speise ich ein Viertelstündchen später, mundet es umso besser«, und eine Erwiderung nicht abwartend, schritt er zum Feuer hinüber. Dort zog er ein glimmendes Reisig aus der Glut, setzte seine Pfeife in Brand und gemächlich begab er sich zu seinem Pferd, um es unter fortgesetzten Komplimenten und Schmeichelworten abzusatteln. Nachdem er es unter Nestors Beihilfe, der mittels eines an langer Leine befestigten Blecheimers Wasser aus dem Strom herausholte, getränkt hatte, verschwand er mit ihm in der Richtung, aus welcher er gekommen war, um es den anderen Pferden beizugesellen.

Zum Lager zurückkehrend, wählte er zu seinem Weg den kaum bemerkbaren Pfad, der beinahe hart am Uferrand entlangführte. Dort war er plötzlich abermals ein anderer geworden. Nicht mehr leichtfertig schaute er darein, wie kurz zuvor, oder mit dem Trog eines gereizten Stiers, wie einst im Lustigen Retruken, sondern eigentümlich ernst und überlegend. Zugleich schienen die Blicke seiner wasserblauen Augen die Schärfe derer eines Falken angenommen zu haben. Aufmerksam betrachtete er eine bewaldete Insel, welche sich eine Strecke stromabwärts aus dem Missouri erhob. Nicht minder gespannt prüfte er die Strömung, die, vom jenseitigen Ufer schräg herüber stehend, vor ihm die steile Uferwand traf, eine Strecke an ihr hinglitt und dann die Richtung zur Insel hinüber einschlug. Endlich sah er während des langsamen Einherschreitens, wie deren Wert abschätzend, zu den Treibholzmassen hinüber, welche in dem stillen Wasser unterhalb der Nebraska-Mündung gestrandet waren und bei dem niedrigen Wasserstand, gebleichten Riesenskeletten ähnlich, hoch über den Stromspiegel emporragten. Was dabei in seinem Kopf vorging, wäre schwer zu erahnen gewesen. In seinen verwitterten Zügen prägte sich wenigstens nichts anderes aus, als jene Befriedigung wie sie der Ackerbauer zur Schau tragen mag, wenn er die Blicke über seine verheißenden Saatfelder hinschweifen lässt. Erst als er die Lichtung wieder betrat und dort Lydias anmutiger Gestalt ansichtig wurde, beherrschte eine Anwandlung von Bedauern flüchtig sein Antlitz, um bald vor dem Ausdruck fröhlicher Laune zu weichen.

Obwohl Lydia und Maurus ihr Mahl beendigt hatten, saßen sie noch auf den zusammen gerollten Decken vor den auf dem Rasen geordneten Blechschüsseln. Unwillkürlich suchten beide die Augen Andrieux‘. Dessen einzelne Bemerkungen, obgleich wie beiläufig hingeworfen, hatten dennoch ein gewisses Unbehagen hinterlassen, welches durch sein munteres Wesen nicht ganz verwischt werden konnte.

»Der Gaul wäre besorgt«, sprach er, indem er vor ihnen niederkauerte und auf Lydias freundlichen Zuspruch unter den frisch für ihn aufgetragenen Speisen aufzuräumen begann, »so gut besorgt, wie es in dieser gesegneten Wildnis überhaupt nur möglich ist. Da würde ich Ihrer Gastfreundschaft wenig Ehre erweisen, wollte ich es einem zimperlichen Schulmädchen nachtun, das seine Kinnbacken weiter auseinanderzureißen scheut, als dass gerade ein geröstetes Maiskorn über die Zunge gleiten kann«, und durch die Tat bewies er die Wahrheit seiner Behauptung. Doch gut wie die Speisen ihm munden mochten, immer fand er noch Zeit, das Gespräch mit seinen Gastfreunden im Fluss zu erhalten.

 

»Mit einem Unbekannten zu Tisch zu sitzen, halte ich nicht für vereinbar mit den Gesetzen der geringsten Höflichkeit«, erklärte er auf seine Art zuvorkommend, ohne die Tätigkeit der beiden weißen Zahnreihen einzuschränken, »mein Name ist nämlich Kit Andrieux, meines Zeichens bin ich Trapper, und wenn ich irgendetwas in der Welt bedaure, so ist‘s die Aussicht, dass es nicht allzu lange dauert, bis die Eisenbahnen Sonntagsjäger – mögen sie alle zur Hölle fahren – haufenweise in unsere Jagdgründe tragen, und die letzten Otter und Biber sich in einen heimlichen Winkel verkriechen und vor Scham sich selber das Leben nehmen.«

»Und ich heiße Durlach«, erwiderte dieser ergötzt. »Captain Maurus Durlach, und hier habe ich die Ehre, Ihnen Miss Lydia Rutherfield vorzustellen, womit ich meinerseits ebenfalls die Pflichten der Höflichkeit erfüllt zu haben glaube.«

»Durlach?«, versetzte Andrieux, und mutwillig grinste er dem auf seinem Teller liegenden Fleisch zu, »ich mein‘, diesen Namen heut nicht zum ersten Mal zu hören. Doch was liegt an Namen? Hauptsache ist, dass deren Träger ehrliche Leute sind. Ich bin übrigens erstaunt, dass Ihre Otoe noch nicht zur Hand sind. Es ist sonst nicht braunen Mannes Art, sich fernzuhalten, wenn eine saftige Hirschkeule im Tiegel schmort.«

»Ich hoffe, sie fanden zu längerem Säumen keine andere Ursache, als dass sie an der Beute schwer zu tragen haben«, bemerkte Maurus, in wachsender Unruhe das Gesicht des rauen Fallenstellers aufmerksam prüfend.

»Immerhin der denkbar feinste Grund«, erwiderte dieser gelassen, »es gibt aber auch andere Ursachen. So erlebte ich schon, dass einer gar nicht heimkehrte und geholt werden musste, weil er sich den Fuß verstauchte – aber bei Gott, Mann, ein schönes Stück Fleisch hier das; zart und saftig, als ob das Tier, dem es von der Karkasse herunter geschnitten wurde, mit den schönsten Eicheln gemästet worden wäre. Ich will den Otoeschlingeln nur wünschen, dass der Schuss ihnen nichts Schlechteres in die Hände lieferte«, und abermals grinste er vergnügt vor sich hin.

Doch so viel er grinsen, so lustig die Scherzreden von seinen bärtigen Lippen fließen mochten, es gelang ihm nicht, die heimlichen Besorgnisse zu verscheuchen, welche er wider Willen wachgerufen hatte. Einsilbiger wurde Lydia in ihren Erwiderungen, schweigsamer Maurus. Sie fühlten gleichsam heraus, dass wie hinter einzelnen Bemerkungen ihres Gastes, auch hinter seiner Person irgend welche Rätsel verborgen waren, nach welchen ihn offen zu befragen Maurus um seiner holden Begleiterin willen sich scheute. Nachdem Andrieux sich aber gesättigt und seine Pfeife angezündet hatte, brauchten sie nicht langer auf die betreffenden Enthüllungen zu warten.

 

»Mir ergeht es, wie den rothäutigen Gentlemen«, hob er an, und auf der Seite liegend und den Oberkörper nachlässig auf den Ellenbogen stützend, sah er freundlich zu den beiden jungen Leuten auf. »Wenn die sich nämlich mit einer Botschaft tragen, so übereilen sie sich nicht mit der Bestellung. Sie wollen zuvor ihre Leute kennenlernen und hassen daher weiberhafte Überstürzung. Wie Sie ernst schauen, Captain. Aber nennen Sie mich den elendesten Grünling, der je eine regelrechte Biberfalle für einen Stiefelknecht ansah, wenn ich Sie binnen einer Minute und einer halben nicht übers ganze Gesicht lachen mache, wie ein hungriger Präriewolf, der einem verschlafenen Jäger die Mokassins unter dem Kopf fortstahl. Sie glauben es nicht? Verdammt! Da – und unter seinen Lederrock greifend, zog er einen zusammen geknitterten Papierstreifen hervor, und überreichte ihn Maurus.

Dieser entfaltete denselben unter Lydias erwartungsvollen Blicken. Knabenhafte Neugierde schwebte dagegen auf dem Gesicht des Fallenstellers. Maurus hatte nicht sobald einen Blick auf die Schrift geworfen, als er freudig erstaunt ausrief: »Von meiner Schwester!« Dann las er laut:

»Jemand, der sich unsere Achtung und Freundschaft erwarb, soll Dir hiermit dringend empfohlen sein. In Liebe und endlosen Sorgen um Dich

Deine Schwester.«

Er kehrte sich Andrieux zu, und ihm die Hand reichend, fragte er verwundert: »Aber Freund, warum ließen Sie mich so lange warten! Schon vor einer Stunde hätten Sie mich zu hellem Jubel bringen können.«

»Hätte es gern getan«, antwortete Andrieux herzlich lachend, »allein ich wollte zuvor versuchen, wie weit ich ohne solchen Empfehlungswisch käme, und doppelt erfreute mich Ihre und der schönen jungen Lady Güte, weil es auf Rechnung meines ehrlichen Angesichtes ging. Und so will ich Ihnen jetzt alle Grüße von Ihrer herzlichen Schwester vermelden, aber auch von dem queren alten Institut von Sargfabrikanten, der Sie seinen dickköpfigen Neffen nannte. Er lässt Ihnen nämlich sagen – ganz heimlich raunte er mir es zu – wenn es Ihnen mit dem Soldat spielen leid werden sollte, stände eine Hobelbank in der Werkstatt für Sie bereit. Auch fragte er mich, ob ich selbst nicht Lust hätte, als Lehrjunge bei ihm …«

Hell auf lachte Maurus, und sich Lydia zukehrend, die ihn wehmütig, sogar mit einer Anklage von Neid betrachtete, bemerkte er sichtbar belustigt: »Hätte unser Freund Andrieux kein anderes Wort für mich gehabt, so wäre es mir ein vollgültiger Beweis dafür gewesen, dass er unter dem Dach meines ebenso wunderlichen wie ehrenwerten Verwandten verkehrte.« Und wieder zu Andrieux: »Trafen Sie nicht andere, die einen freundlichen Gruß für mich hatten?«

»Sicher, Captain. Da war zunächst ein Mann, der sich ausnahm, wie‘n halbgeschorener Pudel mit seinen drei Bartzipfeln. Der redete zu mir von Kunst und Tod und Teufel, aber ich verstand ihn nicht …«

»Weiter, weiter, Kit Andrieux. Da müssen noch andere gewesen sein.«

»Natürlich, Captain, nämlich derselbe Gentleman, der mich nach Kansas City sandte, Nicodemo hießen sie ihn, und der riet mir, wenn ich den Captain nicht mehr dort finden sollte, nach den Council-Bluffs zu eilen …«

»War da nicht noch jemand! Ich meine ein junger Bursche mit bräunlichem Gesicht, langem schwarzen Haar und in der Bekleidung eines mexikanischen Viehtreibers?«

»Nein Bursche, aber ein Frauenzimmer, auf welches Ihre Beschreibung passt, wie‘ne regelrecht gepflasterte Kugel in den Büchsenlauf. Verdammt! Bei aller Schönheit stand ein rechtschaffener Manneswille auf ihrem Angesicht geschrieben, dass ich eine große Achtung vor ihr hegte. Nun ja, Captain, die schickt Ihnen ebenfalls einen warmen Gruß, aber deren mindestens anderthalb Dutzend an Miss Lydia Rutherfield, und mit jedem Gruß so viele Segen, dass die ganzen Vereinigten Staaten genug daran hatten«, und bevor Lydia Zeit fand, ihn um Oliva weiter zu befragen, nahm Maurus wieder schnell das Wort.

»Also nach den Council-Bluffs wurden Sie geschickt?«, fragte er lebhaft, »welcher Art waren denn die Aufträge, welche man Ihnen erteilte?«

»Nach jemand auslugen sollte ich, nämlich nach dem eisernen Mark, einem Freund von mir, und den sollte ich überreden, mich nach Kansas City zu begleiten, und wenn es anginge, noch ein halb Dutzend gesunder Jäger und Fallensteller dazu. Sie hörten vielleicht von dem eisernen Mark? Einer der feinsten Burschen, die jemals am Yellowstone einem Elkhirsch eine Kugel ins Auge schossen«, und in seiner sorglosen Weise grinste er vergnüglich zu Lydia empor.

»Mark?«, wiederholte Maurus nachdenklich, »ich entsinne mich nicht. Es käme freilich darauf an, welchen Familiennamen er führt.«

»Richtig, Captain«, versetzte Andrieux gut gelaunt, und heimlicher Triumph sprühte förmlich aus seinen fröhlichen Augen, »wir da oben rufen ihn zwar nur Mark; unter seinen Verwandten mag er dagegen mit Markolf Durlach angeredet werden, was weiß ich …«

Bestürzt war Maurus aufgesprungen. Sein Antlitz strahlte in überschwänglicher Freude.

»Was, Mann! Markolf Durlach? Der ist ja mein eigener Bruder!«, rief er in einem Ton aus, der Lydia, die sich plötzlich vergessen sah, bis ins Mark hinein erschütterte.

»Ich sollte beinahe denken«, gab Andrieux behaglich spöttelnd zu, »und wenn alles hier gut verläuft, so sehen Sie ihn spätestens Übermorgen leibhaftig vor sich.«

»Ich kann es nicht glauben, nachdem ich so lange nichts von ihm hörte«, kehrte Maurus sich Lydia zu, »bedenken Sie doch, mein Bruder« – er gewahrte, dass helle Tränen über ihre Wangen rannen, und die Ursache leicht erratend, fügte er, wie sich entschuldigend hinzu: »Es war nicht männlich von mir, durch die ungeahnte Kunde mich gänzlich hinreißen zu lassen …«

»Von den natürlichsten Empfindungen überwältigt zu werden, bedarf sicher keiner Entschuldigung«, fiel Lydia ein und sie reichte Maurus die Hand; »wurde ich aber durch die Freudenbotschaft tiefer ergriffen – mein Gott, ein Vergleich lag ja so nahe. Ein Gefühl der Vereinsamung beschlich mich, ich gestehe es offen. Weder Brüder noch Schwestern lernte ich kennen – außerdem weiß ich zu keiner Stunde, ob ich noch einen Vater besitze.«

 

Da schnellte Andrieux auf seine Füße empor, und nunmehr seinerseits Lydias Hand ergreifend, sprach er treuherzig: »Lernten Sie nicht Bruder noch Schwester kennen, so gibt es anderes, woran Sie sich erfreuen mögen, ich meine, dass jeder, der Ihnen begegnet und in Ihre guten Augen schaut, für Sie denken und sorgen möchte, als ob Sie seine leibeigene Schwester wären, das weiß ich an mir selber«, und kräftig schlug er mit der Faust auf seine Brust. Hastig kehrte er sich der nahen Hochebene zu. Stimmen drangen von dorther durch die Waldung herüber.

»Die beiden Otoe«, bemerkte Maurus wie erleichtert, nachdem deren langes Fernbleiben bereits ernstere Befürchtungen in ihm wachgerufen hatte.

»Da will ich hin und sie begrüßen, zu sehen, ob es nicht alte Bekannte aus den Council-Bluffs sind«, versetzte Kit Andrieux, und gleich darauf verschwand er auf der anderen Seite der Lichtung im Gebüsch.

»Weshalb erwartete er sie nicht hier?«, fragte Lydia befremdet, als sie gewahrte, dass Maurus ihm zweifelnd nachsah, und schnell kehrte dieser sich ihr mit den Worten zu:

»Die westlichen Jäger besitzen ihre Eigentümlichkeiten; bei ihnen darf man sich über nichts wundern. Ich vermute, dass er, wahrscheinlich durch Nicodemo und Oliva darauf hingewiesen, sich mit ihnen über die Fortsetzung der Reise ins Einvernehmen zu setzen wünscht.«

»Eine wunderbare Erscheinung«, erwiderte Lydia träumerisch, »und doch kann man nicht anders: Trotz der Rauheit seines Wesens muss man Vertrauen zu ihm gewinnen.«

»Eine Erscheinung«, bestätigte Maurus bedachtsam, »in welcher sich der Mut eines grauen Bären mit der Kaltblütigkeit eines indianischen Kriegers und der Einfalt eines gut gearteten Kindes eint. Ruft es den Eindruck hervor, als ob er zuweilen gedankenlos in den Tag hinein redete, so bezweifle ich doch nicht, dass er jedes einzelne seiner Worte zuvor reiflich überlegt. Seine Persönlichkeit bietet eine gewisse Bürgschaft für unsere Sicherheit. Auf einem gefährlichen Weg würde ich mir keinen anderen zum Begleiter wünschen, als gerade ihn.«

Lydia hatte sich ebenfalls erhoben, und schweigend begaben sie sich zu ihrem früheren Sitz, dem Baumstamm hinüber. Nur kurze Bemerkungen fielen zwischen ihnen. Sie erwarteten die Otoe. Aus der Haltung Kit Andrieux‘ glaubten beide, mehr herausgelesen zu haben, als zu offenbaren er für gut befand.