Anne Boleyn Band 1 – Kapitel 12
Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Erster Band
12.
Annes Entfernung vom Hof. Abschied bei Katharina. Annes Leben auf dem Lande.
»Wisst Ihr schon die neueste Begebenheit am Hofe!«, fragte einer der Kavaliere den anderen.
»Bedaure nur, dass wir die schöne Boleyn verlieren müssen.«
»Verlieren, wieso? Hat der König sich erweichen lassen?«
»Weit entfernt davon! Er soll wütend sein. Man hat ihm berichtet, dass Percy und seine Geliebte im Gemach ihrer Zofe ein Rendezvous gehabt und sich nochmals ewige Treue gelobt haben.«
»Kein anderer als Wolsey hat den Verräter machen können!«, war die Antwort. »Er hat ja auch für jede Sünde bereits im Voraus Generalabsolution.«
»Pst! Ormond, du sprichst ja wie ein Ketzer oder einer der neuen Sekte der Protestanten!«
»Wenn die Ketzerei begehen, welche gegen die Schlechtigkeit und die Hinterlist der rechtgläubigen Pfaffen protestieren, so gehöre ich allerdings dazu, mon cher. So viel ich weiß, teilt Ihr sonst meine Ansichten.«
»Nun ja, freilich. Um aber von den Liebenden zu reden: Percy ist auf seinem Zimmer als Staatsgefangener, bis er heute Abend in Begleitung eines königlichen Offiziers zu seinem liebenswürdigen Vater abreist.«
»Bei Gott, das ist seltsam!«
»Wieso? Die Sache ist wohl klar genug, sie haben den König beleidigt.«
Graf Ormond sah den Sprecher scharf an, dann sagte er in flüsterndem Ton: »Ahnst du nicht in all diesem eine verborgene Absicht? Kümmert sich der König sonst um die Herzen seiner Untertanen, wenn es nicht zu seinem eigenen Vorteil ist?«
»Aber was weißt du? Ich verstehe dich nicht!«
»Um so besser, mein Freund, dann wirst du dich und mich nicht verraten. Du wirst aber sehen, dass diese Trennung der Liebenden in Verbindung mit der geheimen Sache des Königs steht. Es kann nichts Gutes sein, wenn Wolsey sich dabei beteiligt.«
»Die arme Königin!«, seufzte Lord Gray.
Annes Abschied von der Königin, denn um seine Rolle als beleidigter Beschützer noch auffallender vor den Augen des Hofes zu spielen, hatte der König auch sie verbannt, war vonseiten beider ein herzlicher.
Katharina sah sich ihres Argwohns wegen gegen Anne beschämt und beeiferte sich in jeder Weise, ihr Unrecht wieder gut zu machen. Liebreich bot sie ihr die Hand zum Kuss dar mit den sanften Worten: »Bedenkt, Lady Anne, dass jeder Schmerz,
den Menschen uns zufügen, eine Läuterung für unsere Seele sein soll. Ihr werdet in der Einsamkeit den verlorenen Frieden wiederfinden, dort vergeben und vergessen lernen. Des Weibes Los auf Erden ist sich beugen und still leiden. Auch ich habe vergeben gelernt, einem größeren Unrecht, als Ihr erfahren habt. Lasst uns beten, meine Liebe, dass uns Gott nicht einst an dem Urheber unserer Leiden rächen möge.«
»Hohe Frau, vergebt mir!«, sagte Anne. »Meine schwache Seele vermag sich nicht zu der Höhe der Euren zu erheben. Ich empfinde meine Wunde noch zu scharf und frisch, nie werde ich diese Stunde vergessen, noch vergeben. Vielleicht schlägt die Stunde, in der ich unserer beider Leiden rächen werde.«
»Still, still!«, bat Katharina ängstlich und blickte auf die Hofleute, welche in geringer Entfernung im Saal weilten und neugierig die Nebenbuhlerin beobachteten. »Kein solches Wort in diesen Räumen, Mädchen, wenn dir deine Freiheit lieb ist. Noch herrscht er mächtig in England, und seiner schlauen Arglist beugt sich sogar der stolze Heinrich. Geht! Gott und seine Heiligen begleiten Euch!«
Anne verbeugte sich dreimal und verließ den Saal. Sie wechselte hastig ihre Kleider und trat in Begleitung ihrer Zofe und des treuen Wyatt ihre Rückkehr nach Never an.
Lady Boleyn, Annes sanfte, liebenswürdige Stiefmutter, sowie ihr Vater empfingen die Verbannte mit offenen Armen.
»Willkommen, meine Tochter!«, sagte Sir Thomas, »wir haben lange den schönen Stern vermisst, der unsere Einsamkeit erheiterte.«
Lady Boleyn brachte sie auf ihre Zimmer, welche sie mit mütterlicher Zärtlichkeit hergerichtet hatte. »Sei gern bei uns«, bat sie, »es ist hier wenigstens Frieden und Ruhe zu Hause.«
»Ja, es ist schön hier, und ich bin zu Hause«, sagte Anne, entzückt um sich blickend. »Vielleicht wird auch mein Herz genesen. Ich habe auf immer der Welt Lebewohl gesagt.«
Lady Boleyn lächelte und strich ihrem Lieb ling den Wald dichter langer Locken von der Stirn. »Ein besseres Schicksal ist wohl meiner Anne bestimmt«, meinte sie. »Das Klosterhabit stände ihr nicht gut.«
Aber das erste Jahr verging, und Anne schien ihre Versicherung wahrmachen zu wollen, denn obwohl sie bald ihre natürliche Heiterkeit gewann, auch gern die benachbarten Gutsfamilien besuchte, empfand sie aufrichtige Freude nur in ihren musikalischen Studien, in der Reitkunst und im Lesen der heiligen Schrift. Die Reformation, welche mit Luther an der Spitze so gewaltig das lange im Stillen unterminierte Ansehen der römischen Priesterherrschaft erschütterte, wie das Erdbeben in stiller, tiefer Nacht, hatte auch in ihrer lern- und wissbegierigen Seele Eingang gefunden. Da sie sowohl Griechisch als auch Lateinisch gründlich verstand, konnte sie auch diejenigen Schriften Luthers und Melanchthons lesen, welche wie feuerspeiende Bomben der Wahrheit Bahn brachen und die Bollwerke der alten Finsternis zersprengten. Am Hof, umgeben von den Spionen Wolseys, hatte sie nur selten sich dem Genuss des Studiums hingeben können, jetzt aber schwelgte sie ungestört darin. Wyatt blieb auch hierin ihr Vertrauter. Er teilte ihre Bewunderung für die Reformation und war gern dazu behiülflich, ihr weitere Schriften zu verschaffen.
»Wie schade«, sagte sie eines Tages zu ihm, »dass die Bibel nicht in der Landessprache geschrieben ist! Wäre einmal der köstliche Inhalt bekannt, dieses Buch würde sich tausendfach vermehren.«
»Eben darum haben es die Priester bisher den Laien verboten«, sagte Wyatt, »und werden es auch ferner tun. Denkt an das Schicksal von Huss und anderer Märtyrer, die es verbreiten wollten. Die Macht des Papstes würde zuerst fallen, der Heiligenschein, womit sie seit Jahrhunderten die Menge verblendet und Könige beherrscht haben, würde von ihnen schwinden, Trug und Laster dagegen ans Licht treten.«
»Mich wundert es«, fiel Anne ein, »dass König Heinrich sich so demütig dem Papst fügt.«
»Wartet nur ab, ob er es ferner tun wird«, sagte Wyatt. »Bisher hat seine Heiligkeit ihm nichts zuleide getan. Wenn er ihm einmal ernstlich in den Weg tritt, dann wollen wir sehen.«
Lady Boleyn trat ein. Sie überbrachte Anne einen offenen Brief, dessen Inhalt sie ihr mitzuteilen wünschte. Wyatt beurlaubte sich, um sie nicht zu stören.
»Ihr bringt Nachrichten, liebe Mutter«, sagte Anne. »Vielleicht endlich von Percy?«
Lady Boleyn nickte mit dem Kopf.
»Oh, gebt mir das Schreiben«, bat Anne, »foltert mich nicht, ich lese mein Schicksal in Euren verweinten Augen – Percy muss mir entsagen!«
»So ist es, mein Kind! Der Kampf ist vorüber, aber es war ein harter. Percy ist jetzt der Gemahl der Lady Talbot.«
»Unmöglich!«, stammelte Anne leichenblass.
»So lies selbst, meine Teure! Du kennst ja seine Handschrift.«
Sie hielt ihr den Brief hin.
Anne las halblaut mit bebender Stimme: »Sir Thomas! Was ich Anne nicht schreiben kann, das sagt ihr. Ich bin der unglücklichste Mensch auf der Welt, denn mein Vater hat mir in einer schwachen Stunde, indem er mich an Annes Treue zweifeln machte, das Wort entrissen, das mich lebenslang an Lady Talbot fesselt. Bittet sie, dass sie mir nicht zürne, sondern für mich bete, denn ich bin unaussprechlich elend. Nie wird meine Gattin mehr als meinen Namen von mir erhalten. Lebt wohl! Gedenkt meiner. In zwei Wochen bin ich unwiderruflich für Euch verloren. Vergebt mir und beklagt mich.
Percy Northumberland.«
Anne sprach kein Wort, aber sie ließ den Brief auf die Erde fallen und brach, sich an die Brust der Stiefmutter werfend, in Tränen aus.
»Das ist wohl ein schmerzliches Ende eines schönen Traumes, liebes Kind«, sagte sanft Lady Boleyn, »aber vergiss nicht, dass Leid und Ungemach von oben kommen.«
»Sage lieber durch böse, heimtückische Menschen«, rief Anne zornig aus und sich stolz emporrichtend. »Ich kenne die Hand, die diesen Schlag gegen uns geführt hat, und so wahr ich lebe, soll Wolsey dafür büßen.«
»Ich fürchte, du ziehst dir böse Dinge zu«, sagte Lady Boleyn. »Geh am Ende doch lieber nach Frankreich.«
»Nein«, erwiderte Anne fest, »ich bleibe. Nun habe ich einen Zweck, es zu tun. Ich werde versuchen, bald wieder an den Hof zu kommen, um mich und Percy zu rächen.«
»Liebe, was vermagst du gegen den starken Günstling? Ein Wort von ihm kostet dir die Freiheit – und uns auch.«
Anne lächelte fein und bitter. »Liebe Mutter, die Schönheit der Frau ist auch mächtig, und die meine kann den Pfeil wenden, um diese gleißende Schlange im Kardinalsgewand zu durchbohren! Aber greifen wir dem Schicksal nicht vor«, fügte sie freundlich ernst hinzu, »warten wir dasselbe ab. Gehe zum Vater, Mutter, und sage ihm, dass Anne sich ruhig in ihren Verlust ergebe, aber auch nicht Sir Pierce Butler angehören wolle.«
»Auch Wyatt nicht?«, fragte zögernd Lady Boleyn. »Er würde dich glücklich machen, seine Liebe hat die lange Probe bestanden. Henry ist ein edler Mann, vor dessen reiner Seele die Menge sich ehrfurchtsvoll beugt.«
»Ja, du hast recht, Mutter. Wyatts Gattin würde ein beneidenswertes Geschöpf sein, seine Liebe würde auch eine Einöde in ein Paradies verwandeln, aber wir dürfen uns nicht vereinigen, wenigstens hier auf Erden nicht, denn in meiner Brust schlägt kein Herz mehr für die irdische Liebe, und eine dunkle, finstere Stimme treibt mich einem ernsten Schicksal entgegen.«
»O, mein Kind!«, bat Lady Boleyn, »verbanne diesen schrecklichen Ehrgeiz, der dich nicht glücklich werden lässt.«
»Ich liebe sie nicht, diese Gedanken«, sagte Anne, »aber ich kann nicht ändern, was droben bestimmt ist.«
»Bete, Liebe, und benutze fleißiger den Segen der heiligen Beichte!«
Anne errötete. Sie wusste, dass der Hauskaplan sich über sein Beichtkind beklagt hatte, weil sie selten den Beichtstuhl aufsuchte.
»Was soll ich aber beichten?«, sagte sie.
»Deine Sünden, mein Kind.«
»Diese kennt Gott, Mutter! Wo ich menschlich fehle, vergibt mir unser Herr Jesus Christus. Ich beichte ihm jeden Abend, ehe ich einschlafe, und er erteilt mir Absolution ohne irdischen Priester.«
»Absolution ohne Priester!«, wiederholte langsam und verwundert die fromme, einfache Frau. »Du sprichst wunderliche Dinge, Anne, seitdem du von Frankreich zurück bist. Pater Hansen behauptet, du seiest vom Gift der neuen Lehre angesteckt.«
»Die Protestanten lehren nichts Neues, Mutter, im Gegenteil das Alte. Sie wollen die Kirche reinigen von den menschlichen Satzungen, die Gewissen vom Druck der Priester befreien, die selbst nicht halten, was sie als Gottes Wort verkündigen. Luthers Lehre weist uns auf Christi hin, der allein Sünden vergeben kann, weil er für uns gelitten hat! Aber ich erschrecke dich, liebe Mutter«, brach Anne ab, als sie Lady Boleyns Blässe gewahrte, die sich andächtig bekreuzigte. »Komm, wir wollen nichts mehr davon reden, ich verspreche es dir, ich will dein Gewissen nicht beschweren. Bitte, Liebe, suche den Vater auf.«
Lady Boleyn gehorchte, und Anne saß lange nachdenkend in ihrem Zimmer. Dann stand sie auf und drückte an einer Stelle in der Wand.
Eine kleine Tür flog auf, die so künstlich in der Tapete angebracht war, dass nur ein Eingeweihter sie finden konnte. Hier lagen zwei in Kalbsleder gebundene alte Bücher, deren dicke Blätter durch schwere Messinggriffe geschlossen waren.
»Ihr redet die Wahrheit!«, murmelte das junge Mädchen, indem sie eins mit Mühe emporhob und es vor sich auf den Tisch legte. »Ihr seid die Grundsteine von Gottes Tempel auf Erden.«
Es waren die Evangelien und der Teil der Heiligen Schrift, welcher durch besondere päpstliche Dispensation auch Frauen von Stand zu lesen gestattet wurde.
Im Studium der Wahrheit, unter harmlosen, reinen Freunden des ländlichen Lebens, im Genuss der edelsten Freundschaft verflssen Anne zwei Jahre in Never. Von Percy sprach sie nie, doch entging es den Eltern nicht, wie sie zusammenfuhr, wenn jemand in ihrer Gegenwart erwähnte, dass er äußerst unglücklich sei und nicht die leiseste Spur von Sympathie zwischen den Ehegatten herrsche.