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Der Detektiv – Zwei Taschentücher – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zwei Taschentücher

4. Kapitel
Nächtliche Streife

Harst saß wieder am Flügel. Er spielte jetzt Beethoven. Dabei überlegte er, ob er sich mit diesem Arpad Tzigan, der ihm nach des Jungen Beschreibung ein völlig Fremder war, näher beschäftigen solle. Dann sagte er sich, dass es in keinem Fall etwas schaden könnte, wenn er sich diesen Künstler selbst einmal ansehen würde, zumal er sich ohnedies für verpflichtet hielt, bei der Kriminalpolizei den Taschendieb anzuzeigen. Da er annehmen konnte, dass der Gauner den gegen Abend wieder lebhafter werdenden Straßenverkehr für sein nur in dichten Menschenmassen auszuübendes Gewerbe ausnutzen würde, schrieb er zunächst an Stolten einen Rohrpostbrief und erklärte darin, aus eigener Tasche eine Belohnung von 5.000 Mark dem zuzusichern, der über die verstümmelte Tote nähere Angaben liefern könnte. Dann fuhr er zur Kantstraße, kaufte sich dort bei einem Optiker zur Vorsicht eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern, um sich für alle Fälle wenigstens etwas unkenntlich zu machen. Es war dies sein erster Versuch auf dem Gebiet der Verkleidungskunst. Es blieb nicht der letzte. Später, als er auch hierin Besseres als der beste Schauspieler leistete, belächelte Harst noch oft diese harmlose graue Brille.

Der Kantstraße 5 schräg gegenüber lag eine Buchhandlung. Dort vor dem Schaufenster längere Zeit die Bücherschätze sich anzusehen, konnte kaum auffallen. Harsts Geduld wurde auf eine schlimme Probe gestellt. Erst kurz vor sieben Uhr abends verließ ein Herr, auf den Karls Beschreibung in jeder Einzelheit passte, das Haus. Im Menschenstrom der Tauentzienstraße, in dem der Hagere nun verschwand, gelang es Harst sehr bald, ihn sich genauer und aus der Nähe anzusehen. Sein Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst anders zurechtgestutzte Gesichter schnell zu erkennen, bewährte sich auch jetzt wieder.

Arpad Tzigan, dachte Harst, du warst früher blond, hattest einen Spitzbart und starke blonde Augenbrauen. Aber ein Taschendieb warst du auch als Paul Menkwitz, nebenbei auch noch Einbrecher, doch stets ein sehr eleganter. Fraglos hast du auf dem Stettiner Bahnhof deinen Zunftgenossen Komiker-Maxe wiedererkannt und angesprochen, denn umgekehrt wäre es kaum geschehen. Ich glaube nicht, dass Schraut sich über die Begegnung mit dir gefreut hat, genau so wenig, wie du bei meinem Anblick in Entzücken geraten würdest.

So dachte Harst und hielt sich nun in größerer Entfernung hinter dem Künstler. Vielleicht gelang es ihm, Paul Menkwitz alias Monokel-Paul bei einer neuen Fingerfertigkeit zu ertappen. Ein weitergehendes Interesse hatte er nicht an dessen Person. Aber er hatte zur Zeit nichts Besseres vor, und nur deshalb gab er diese Beobachtung des eleganten Spitzbuben noch nicht auf. Sehr bald sprach ihn dann jedoch ein Bekannter an, der gleich ihm Mitglied des Universumklubs war, einer Vereinigung, die neben der Pflege der Geselligkeit auch wissenschaftliche Vorträge auf allen Gebieten eine verfeinerte geistige Kost bot. Harst sah gerade noch, dass Monokel-Paul den Laden des Juweliers Birnbacher betrat.

»Lieber Harst, haben Sie kranke Augen?«, meinte der Kommerzienrat Kammler und drückte ihm herzlich die Hand. »Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Die Brille entstellt Sie sehr.«

»Nur eine ganz leichte Bindehautentzündung.«

Sie schritten zusammen weiter.

»Harst, Sie sollten sich mal wieder im Klub sehen lassen«, sagte der noch recht stattliche Großkaufmann und schob seinen Arm vertraulich in den des Assessors. »Gewiss, Sie haben Trauer. Aber die Vortragsabende versäumen Sie nicht. Heute Abend spricht unser Kriminalist von Perbram – er ist ja wohl ein Schulfreund von Ihnen – über Moderne Verbrecherjagd. Das muss Sie als Assessor bei der Staatsanwaltschaft doch auch interessieren.«

Harst erklärte, er würde sich den Vortrag vielleicht anhören. Dann kam der Kommerzienrat auf Margas Tod zu sprechen.

»Wenn die Polizei doch nur Erfolg hätte und den Mörder erwischte«, meinte er.

»Ich habe wenig Hoffnung. Vielleicht gelingt es einem Privat- oder einem Liebhaberdetektiv, der sich ausschließlich mit dem einen Fall beschäftigt.«

»Lassen Sie mich mit der ganzen Detektivspielerei in Ruhe!«, meinte Kammler geringschätzig. »Die Erfolge solcher Leute möchte ich mal sehen! Ich bitte Sie: Wo die mit tausend Hilfsmitteln arbeitende Polizei nichts erreicht, kann doch ein Privatmann erst recht nichts ausrichten! Ich ließe gern eine runde Million springen, wenn mir jemand so einn Wundertier mal zeigt, das zum Beispiel imstande wäre, Ihre arme Braut zu rächen. Jede Wette gehe ich ein: Nur die Polizei fängt den Täter, falls er überhaupt zu fangen ist!«

»Wette – hm?! Vielleicht würde es sich lohnen«, sagte Harst sinnend.

Gleich darauf trennten sie sich. Kammler hatte es wie immer sehr eilig. Er war Junggeselle, schwerreich und alles in allem ein Original.

Juwelier Birnbacher wollte gerade den Laden schließen, als Harst noch Einlass begehrte. Einen so guten Kunden wie den Assessor durfte man nicht abweisen. Birnbacher verriegelte hinter ihm die Tür und zog die Vorhänge zu.

»Herr Birnbacher«, begann Harst, »Sie könnten mir einen Gefallen tun. Soeben muss ein Herr hier bei Ihnen gewesen sein – groß, hager, Zylinder, Monokel, Perle in der Krawatte.«

Der Juwelier nickte.

»Würden Sie mir vielleicht sagen, was dieser Herr gewollt hat?«, fragte Harst weiter. »Ich nehme an, er wird Ihnen etwas zum Kauf angeboten haben.«

Birnbacher nickte wieder. »Halb und halb trifft es zu, Herr Assessor. Er wollte etwas repariert haben. Als ich ihm dann jedoch erklärte, die Reparatur lohne kaum mehr, da sie sehr teuer werden würde, wurden wir schnell über den Verkauf handelseinig.«

»Und – was für ein Gegenstand war es?«

Der Juwelier zog eine Schublade unter dem Verkaufstisch und legte das Betreffende auf eins der samtbespannten Brettchen.

Harald Harst griff danach. Birnbacher sah, dass der Assessor für einen Augenblick die Farbe wechselte.

Dann sagte Harst schon: »Was verlangen Sie dafür?«

Als der Assessor nun den Laden wieder verließ, hatte der Juwelier zweihundert Mark verdient. Dass Harst von ihm strengstes Stillschweigen über dieses gute Geschäft verlangt hatte, bewies ihm, dass mit dem langen Hageren irgendetwas nicht ganz in Ordnung war.

Harst stieg in der Tauentzienstraße in eine leere Taxameterdroschke. Er hätte auch ein Auto bekommen können. Aber die langsamere Gangart der Droschke war ihm jetzt angenehmer. Sein Inneres war in einem Aufruhr wie nie zuvor. Niemals hätte er geglaubt, dass man gerade als Detektiv bei der Verfolgung einer zunächst recht unsicheren Fährte Minuten eines so alle anderen Empfindungen verdrängenden Triumphs durchkosten könnte.

Er zwang sich zur Ruhe. Marga, du wirst gerächt werden, dachte er. Noch schweben all diese Fäden, die ich gefunden habe, frei in der Luft. Aber ich halte sie bereits an dem einen Ende, und vielleicht kann ich sie sehr bald zu einem festen Gespinst vereinen, in dem dann eine mordgierige Wespe sich zu Tode zappeln wird.

Die Wagenfahrt tat ihm gut. Seine Gedanken eilten jetzt voraus zu seinen Schwiegereltern. Es würde nicht ganz einfach sein, von diesen unauffällig die Auskünfte zu erlangen, die er haben musste. Er wollte Mildens noch nicht in seine Absichten einweihen, obwohl er kaum mehr mit einem Fehlschlag rechnete.

Er fand dann nur die Präsidentin vor. Doch das war ihm lieb. Er begann vom Wetter zu sprechen, erzählte dann, er hätte soeben einen Bekannten getroffen, der leider im Leben gestrauchelt sei.

»Es ist doch recht schmerzlich, wenn man sieht, wie ein Mensch, der einmal zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, immer tiefer von Stufe zu Stufe sinkt«, meinte er und redete all das zu einem bestimmten Zweck. »Ich kann solchen Leuten gegenüber nie hart sein, wenn sie mich anbetteln. Ein anderer hätte diese fragwürdige Bekanntschaft verleugnet und wäre weitergegangen. Ich bringe so etwas nicht fertig. Ich glaube, Marga glich mir auch in dieser Art von Mitgefühl, liebe Mama.«

Er wartete gespannt auf die Wirkung dieses letzten Satzes.

Da, die Präsidentin neigte ein wenig den Kopf, seufzte leise und meinte: »Marga ging in dieser Beziehung sogar etwas zu weit, lieber Harald. Wenn du als Mann mit einer solchen fragwürdigen Erscheinung zusammen gesehen wirst, macht das nicht viel aus. Aber ein junges Mädchen, das aus guter Familie stammt, hat mehr Rücksichten zu nehmen.«

»Das klingt ja fast, als hätte Marga Euch gelegentlich durch ihr allzu weiches Herz kompromittiert, Mama …«

»So ist es auch gewesen, Harald. Eine Pensionsfreundin von ihr ist später auf Abwege geraten – durch Genusssucht, Leichtsinn, Arbeitsscheu. Marga hatte gerade dieses Mädchen fast schwärmerisch während des Pensionsjahres in Gotha geliebt. Jene Claire Ruckser war Waise. Ihr Vermögen hat sie auf Reisen mit einem Abenteurer durchgebracht. Dann tauchte sie hier in Berlin auf, drängte sich an Marga heran, bettelte sie an. Marga ist einmal mit dieser auffällig gekleideten Person auf der Straße von Exzellenz von Winterstein gesehen worden. Oh – das gab dann eine böse Szene hier. Mein Mann war empört.«

»Das liegt wohl längere Zeit zurück, liebe Mama?«

»Nur drei Wochen, Harald.«

Harst erinnerte sich jetzt, dass Marga ihm einst in ihrem Fotoalbum das Bild einer ihrer Pensionsschwestern gezeigt und dabei geäußert hatte: »Ein armes, unglückliches Geschöpf!« Er hatte damals jedoch weiter kein Interesse für jenes Bild und jenes Mädchen gehabt.

Er lenkte jetzt das Gespräch auf andere Dinge. Danach ging er in Margas Zimmer hinüber und suchte sich aus den vielen Bildern des Albums dasjenige heraus, auf dem auf der Rückseite stand: In ewiger, innigster Liebe – Deine Claire. Gotha, Weihnachten 19… – Er steckte es zu sich und fuhr nach Hause.

Frau Auguste wunderte sich, dass er beim Abendbrot so schweigsam war.

»Hast du eine Enttäuschung bei deinen Nachforschungen erlebt, mein Junge?«, fragte sie nach einer Weile.

Da glitt ein kurzes Aufleuchten über sein Gesicht. »Im Gegenteil, Mutter, im Gegenteil! Frage jetzt aber nicht nach Einzelheiten. Ich bin nur nachdenklich, weil ich mich scheue, jene Lokale zu besuchen, in denen die Berliner Lebewelt dritter und vierter Güte sich trifft. Und doch werde ich es tun müssen. Es geht nicht anders. Auch Karl wird wieder helfen müssen. Für mich allein ist die Arbeit zu umfangreich.«

Sofort regte sich in dem treuen Mutterherzen die Angst um das Leben ihres Einzigen. »Harald, Harald«, warnte sie ernst, »lass dich nur um Himmels willen nicht auf gefährliche Abenteuer ein! Ich weiß ja nicht, was du eigentlich vorhast, aber sei vorsichtig, ich bitte dich!«

Harst streichelte ihre Hand. »Keine Sorge! Das, was mich in jene Lokale führt, ist ganz gefahrlos.«

Nach dem Abendessen bestellte er den Jungen zu sich und hatte eine lange Unterredung mit ihm, bei der er ihm das Bild Claire Rucksers zeigte und ihn auf die etwas starke Stupsnase, die großen Augen und die auffallend kurze Oberlippe aufmerksam machte.

Karl war begeistert. »Herr Assessor, Sie sollen sehen: Ich bringe es heraus! Ich bin doch helle!«

»Vermeide jedoch jedes unnötige Aufsehen, Junge. Und vergiss nicht: Sobald du den langen Hageren irgendwo bemerkst, sei besonders vorsichtig.«

In den Ballsälen des Nordens in der Chausseestraße wurde gerade ein moderner Wackeltanz von der Hauskapelle gespielt, als Karl den strahlend hell erleuchteten Saal betrat. Oben zwischen dem Kristallkronleuchter schwamm der Tabakrauch in dichten Wolken. Die Luft war erfüllt von Bier- und Weindünsten und einem Gemisch aller möglichen Wohlgerüche. Einige sechzig Paare schoben sich bald nach dem Takt der Musik über das gewachste Parkett hin.

Der Junge in seinem vielfach geflickten Anzug mit dem umgehängten Korb voller Rosen sah ganz wie einer jener Blumenverkäufer aus, die unter dem Deckmantel eines armseligen Gewerbes doch nur Bettelei betreiben und gerade an diesen Stätten der Genusssucht und falscher Eleganz die besten Geschäfte machen. Nirgend fliegt das Geld ja leichter von Hand zu Hand als gerade hier.

Karl schlich mit demütigem Gesicht von Tisch zu Tisch, bot seine Rosen an und wusste die geschminkte Weiblichkeit durch starke Schmeicheleien stets für sich einzunehmen. An jedem Tisch fand er mindestens eine Gönnerin, an die er sich dann stets leise mit derselben Frage wandte: »Kennen Sie vielleicht die Claire Ruckser? Ein feiner Kavalier will sie gleich im Café Steuer sprechen.«

Dieses Verslein hatte er nun schon unzählige Male hergeleiert, und immer hatte dann die Gönnerin den anderen am Tisch Sitzenden zugerufen: »Wer von euch kennt eine Claire Ruckser?«

Bereits das fünfte Nachtlokal klapperte Karl nun schon auf diese Weise ab. Bisher ohne Erfolg. Harst hatte die heute Nacht zu besuchenden Tanzstätten und größeren Bars zwischen sich und dem Jungen verteilt und je einen Treffpunkt für 12 Uhr nachts und für 2 Uhr morgens mit ihm vereinbart.

Er selbst hatte sich gegen zehn Uhr abends zunächst in ein Konzertcafé der oberen Friedrichstraße begeben. Hier forschte er sehr geschickt die Kellner aus, denen ja die Stammgäste in dieser Art von Lokalen zumeist mit Namen bekannt sind. Das Geld tat auch hier Wunder. Die Kellner erkundigten sich an verschiedenen Tischen, sodass Harst es nicht nötig hatte, selbst diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen. Zwei Cafés hatte er nun umsonst besucht. Das Dritte, unweit der Ballsäle des Nordens gelegene, betrat er etwa um halb zwölf. Abermals spendete er den Kellnern je ein Zehnmarkstück und wartete nun, bei Eislimonade in einer Ecke allein sitzend, den Erfolg ab. Der Treppenaufgang zu den Billardsälen lag gerade vor ihm. Mit wachsamen Augen verfolgte er das Leben und Treiben in dem nur mäßig gefüllten, großen Raum. Auf der Treppe vor ihm erschien jetzt ein Kellner, dessen Gesicht ihm schon vorhin aufgefallen war. Er hatte diesen blassen, schielenden Menschen fraglos bereits irgendwo und irgendwann im Gerichtssaal gesehen. Als Angeklagten kaum, denn dann hätte er ihn sofort wiedererkannt. Also wohl als Zeugen. Der Schielende schlenderte der Drehtür des Ausganges zu. Harsts kritische Blicke stellten in den Bewegungen dieses krankhaft bleichen Menschen etwas gemacht Nachlässiges und Harmloses fest. Er hatte den Eindruck, als wollte der Kellner so recht zum Ausdruck bringen, dass er ganz von ungefähr und ganz ohne bestimmte Absicht der Tür zuschritt, hinter deren Radwindfang er nun verschwand. Harst stand auf, trat an das nahe Fenster und spähte an der Seite durch einen Vorhangspalt hindurch, sah den Schieläugigen mit fliegenden Frackschößen über die Straße laufen und war kaum zwei Minuten später hinter dem Mann her, der seiner Überzeugung nach irgendetwas Besonderes im Schilde führte. Er besann sich jetzt auch, dass jener, als er ihm genau wie den anderen Kellnern zehn Mark heimlich zugesteckt und ihn gefragt hatte, ob ihm eine Claire Ruckser bekannt wäre, leicht zusammengefahren war, dann aber sofort gemurmelt hatte: »Das verdammte Nervenzucken!« Er hatte auch wirklich noch verschiedentlich ein paar ruckartige Bewegungen mit dem Kopf gemacht. Dass dieses Nervenzucken nur eine schlaue Bemäntelung des ersten leisen Zusammenschreckens gewesen, bezweifelte Harst jetzt nicht weiter. Der Mensch kannte Claire Ruckser, das war gewiss.

Harst erkundigte sich bei zwei Streichholzverkäufern nach dem Verbleib des Kellners. Ein Mensch im Frack und ohne Kopfbedeckung, der es so eilig hatte, musste auffallen, zumal der Fußgängerverkehr hier nur gering war. Er hatte jedoch kein Glück. Der Schielende blieb verschwunden. Harst überlegte, stellte sich dann dem Café gegenüber auf die Schattenseite in eine tiefe Haustür. Nach etwa drei Minuten tauchte der bleiche Kellner wieder auf und mäßigte sein Galopptempo erst dicht vor der Drehtür des Lokals, das er dann sehr gemächlich wieder betrat. Der Assessor blieb noch zehn Minuten in seinem Versteck. Es war ja nicht ausgeschlossen, dass der Blasse nochmals das Café verließ.

Die Ballsäle des Nordens lagen nur um die Ecke. Soeben hatte Karl wieder an eine Gönnerin die bekannte Frage gerichtet. Und nun – endlich ein Erfolg!

»Ach – die Film-Claire meinst du wohl, Junge?«

»Sie soll große Augen und eine Stupsnase haben«, meinte Karl eifrig.

»Stimmt – det is se. Du, sag’ man dem Kavalier, dass die Film-Claire schon lange nach München abjerutscht is. Sie hat ’n Engagement dort jekriegt.«

Karl war enttäuscht. Aber er war auch schlau genug, diese Quelle weiter anzuzapfen.

»Wissen Sie’s auch janz bestimmt?«, fragte er nun.

Da deutete die Gönnerin zu der einen Saaltür hin, sagte achselzuckend: »Der da mit’s Monokel könnt’ dir wohl ihre Adresse anjeben. ’t is ihr Freund.«

Karl duckte sich plötzlich hinter ihrem Riesenhut zusammen. Das da drüben war der Zylinder-Onkel, der Violinenkünstler! Und jetzt kam auf den langen Hageren sehr eilig ein bleicher Kellner zu. Sie flüsterten miteinander, schritten der Haupttreppe zu. Karl blieb dicht hinter ihnen. Die Treppe hatte eine scharfe Biegung. Und der Junge fing nun ein einzelnes Wort auf, einen Namen, dem eine Verwünschung folgte.

»Harst! Der Teufel hole den Hund!«

 

***

 

Harald Harst sah in seinem Versteck nach der Uhr. Gleich zwölf. Und um zwölf wollte er sich mit Karl auf der Weidendammer Brücke treffen. Er schaute sich nach einem Auto um, ging dann zu Fuß der Friedrichstraße zu. Plötzlich hinter ihm eine Stimme.

»Sie, Herr, einen Augenblick …«

Es war der bleiche Kellner in Hut und Mantel. Er war ganz atemlos, hastete nun hervor: »Gut, dass ich Sie noch gefunden habe. Sie wollten doch was über die Claire Ruckser wissen. Ich war inzwischen in den Borussia-Sälen. Dort hab’ ich mich erkundigt. Die Film-Claire soll jetzt Kellnerin in der Goldenen Traube in der Gartenstraße sein. Wenn Sie zehn Emmchen spendieren, Herr, hole ich sie Ihnen heraus für ’n Momang.«

Harst witterte eine Falle, denn Claire Ruckser konnte nicht Kellnerin sein – seit längerer Zeit nicht mehr! Trotzdem ging er zum Schein auf den Vorschlag des Blassen ein. Er wollte feststellen, in welchen Beziehungen dieser Schielende nun wieder zu dem an Marga verübten Mord stand.

Bis zur Gartenstraße war es nicht weit. Aber Harst hatte Eile, und da konnte es ihm nur recht sein, dass ein geschlossenes Auto jetzt langsam an ihnen vorüberfuhr. Er rief es an. Es war frei. Der Blasse nannte dem Chauffeur das Fahrtziel, öffnete die Tür mit einem höflichen: »Bitte!«

Harst zögerte. Da erhielt er einen furchtbaren Stoß ins Genick, flog halb in den Kraftwagen hinein, wurde von innen vollends hineingezerrt, spürte zwei Hände wie Eisenklammern an seinem Hals.

 

***

 

Karl beobachtete in der Vorhalle der Ballsäle stehend, wie der Zylinder-Onkel und der bleiche Kellner sich auf der Straße voneinander verabschiedeten. Da – eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Er sah sich zwei Herren gegenüber, von denen der eine jetzt sagte: »Wir sind Kriminalbeamte von der Wirtshauspatrouille und hinter dir schon eine Weile her. Du hast dich durch deine fortwährenden …«

Karl ließ den Beamten nicht aussprechen, denn auch der lange Hagere ging jetzt eilends davon, dem er um jeden Preis auf den Fersen bleiben wollte. Mit knappen Worten klärte er die beiden Beamten darüber auf, dass er im Auftrag des Assessors Harst hier tätig wäre.

»Bitte – begleiten Sie mich«, fügte er hinzu. »Ich lüge nicht. Ich erzähle Ihnen draußen das Weitere.«

Harst! Die Beamten wussten sofort Bescheid: 20.000 Mark-Verlobter der ermordeten Marga Milden.

So kam es, dass sie ebenfalls Zeugen wurden, wie der Hagere ein Auto rief, mit dem Chauffeur verhandelte, ihm Geld reichte, einstieg, und wie nun dieser Kraftwagen langsam davonfuhr. In einem zweiten folgten sie.

Einer von ihnen war neben dem Chauffeur auf den Vordersitz geklettert, hatte dem Mann zugeraunt: »Kriminalpolizei!«

Das genügte. Das andere Auto hielt dann an einer menschenleeren Stelle. Zwei Herren wollten zu dem Hageren hineinsteigen. Der Beamte auf dem Vordersitz hatte gute Augen, sah trotz der Entfernung und trotz des blitzschnellen Überfalles auf den einen der beiden Herren gerade noch genug, rief seinem Nachbar zu: »Los – ran an den Wagen da vor uns – Höchstgeschwindigkeit!« Und der Chauffeur schob sofort die Steuerung herum.