Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 25
Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Entdeckung der Insel Sulipore
Jacob aber blieb die Antwort schuldig. Er war in tiefe Gedanken versunken. Jetzt eben hatte er Leute seines Geschlechtes kennengelernt, von ihrem Land gehört, das er bald selbst mit eigenen Augen sehen sollte! So war es denn also doch kein Schattenbild gewesen, was ihn in dunklen Rückerinnerungen, in nächtlichen Träumen so oft beschäftigt hatte. Und konnte eben dieses Land nicht auch sein eigenes Geburts- und Jugendland sein, nach dem er sich so lange gesehnt hatte? War es nicht eine Möglichkeit, dort selbst die lang vermissten Eltern und Freunde zu erfragen und wiederzufinden? Wie schlug ihm das Herz! Eltern, Freunde, Vaterland! Aber ach, die Prinzessin! Ja, sie freilich war wohl für ihn nun so gut wie verloren. Ihr hoher Rang, ihre Bestimmung, alles schied ihn ja künftig von ihr! Und doch hatte er sich so sehr an sie gewöhnt, ihr Umgang war ihm innerstes Lebensbedürfnis geworden! Der Gedanke, nun getrennt von ihr zu werden, erfüllte sein Herz mit bitterer Wehmut. Er mochte auch in so ganz veränderten Verhältnissen lieber gar nicht mit ihr verkehren und zog sich allmählich ganz zurück. Die Prinzessin aber hatte großes Leid darüber und wünschte sich tausendmal die jüngst vergangene Zeit der Not zurück, wo er so ganz nur ihr gelebt hatten und so offen und liebevoll gegen sie gewesen war.
So gingen für beide die Tage trüb dahin, in welchem das Schiff hin- und her kreuzte, um die gesuchte Insel aufzufinden. Immer vergeblich. Der Kapitän fing an, ängstlich besorgt zu werden. Er fürchtete von seinem Kurs ganz abzukommen und in Verantwortung zu geraten. Daher versammelte er seine Gefährten, um Rat zu halten, und beschloss mit ihnen auf neues dringendes Bitten der königlichen Familie, noch einen Tag zuzugeben, dann aber diese, ohnehin durch Untiefen gefährlichen Gewässer zu verlassen und ohne Aufenthalt nach Europa zurückzusegeln.
Der Tag war heraufgekommen und neigte sich bereits zu seinem Ende, als sich von Ferne ein Eiland zeigte, leider nicht das gesuchte, sondern ein öder unfruchtbarer Felsen. Wie sie demselben näher kamen, bemerkten sie einen Menschen, welcher Notzeichen aufgesteckt hatte und mit großer Heftigkeit seine Arme bald winkend, bald bittend emporhob. Sogleich wurde ein Boot ausgesetzt, um ihn aufzunehmen. Als er an Bord gekommen war, erkannte Jacob in ihm einen der Matrosen von der holländischen Flotte. Sein Schiff war durch den früher beschriebenen Sturm weit weg in unbekannte Gewässer verschlagen und endlich einer Insel ansichtig geworden, die von lauter kleinen Leuten bewohnt war.
»Diese kamen uns«, erzählte der Matrose, »auf zierlichen Kähnen von Seemuscheln entgegen und baten um unseren Beistand gegen einen Riesen, der sie feindlich heimgesucht habe und auf den Tod ängstige. Der Kapitän lachte aus vollem Hals, als er die kleinen Leute sah und ihre Klagen hörte. ›Das wird wohl ein rechter Riese sein müssen, der Euch fürchten macht‹, rief er aus, ›da wird, denke ich, Ruhe gestiftet werden können, ohne dass es den Kopf kostet.‹ Aber es war in der Tat ein rechter Riese! Die Mannschaft des Schiffes, welche ans Land geschickt worden war, um zu rekognoszieren, kam mit sichtbaren Zeichen des Schreckens zurück. Gleich darauf ließ sich auch der Unhold selbst erblicken, der wie ein lebendiges Felsenstück am Gestade hin und her spazierte. Der Kapitän befahl nun die Kanonen zu laden und ihn mit einigen scharfen Schüssen zu begrüßen. Leider trafen die Kugeln nicht, und der Riese ließ uns nicht Zeit, aufs Neue zu laden. Erst las er einige Felsenstücke, groß wie die Mühlsteine, vom Boden auf und schleuderte sie nach uns, sodass das Wasser vor uns himmelhoch aufspritzte. Dann stieg er selber in die Tiefe hinab, verfolgte das fliehende Schiss, erreichte es, hob es mit seinen schrecklichen Fäusten hoch empor und stürzte es nun ohne weitere Umstände um, wie eine Streusandbüchse, sodass Kanonen, Ladung, Mannschaft, alles herabfiel und zu Grunde ging. Ich war so glücklich, wieder vom Wasser empor gehoben zu werden und eines der umherschwimmenden Boote zu erreichen, mit dem ich mich auf dieses wüste Eiland gerettet habe.«
Nach der weiteren Aussage des Matrosen konnte die Insel der kleinen Leute nur wenige Seemeilen entfernt sein. Er getraue sich, sie ohne Schwierigkeit aufzufinden.
Nun war die Frage, was diesen neuen Berichten gemäß geschehen sollte. So geneigt auch der Kapitän und die Mannschaft waren, das Abenteuer zu bestehen und den bedrängten zu Hilfe zu kommen, so verbot doch die Dienstpflicht, Schiff und Leute an ein solches Abenteuer zu wagen. Sie würden auch trotz aller Bitten und Tränen der armen kleinen Herrschaften gewendet und die Inseln ihrem Schicksal überlassen haben, wenn sich nicht unser Jacob ins Mittel geschlagen hätte. Dieser vermochte den Kapitän bis zum Vorgebirge zu steuern, das sich nach der Aussage des Matrosen in einiger Entfernung von der Reede hinzog und gleichsam einen Hafendamm für die Insel bildete. Dort sollte das Schiff, dem Blick des Riesen verborgen, eine Nacht und einen Tag verweilen. Er wollte dann das Übrige tun. Käme er nicht in der bestimmten Zeit zurück, so könnte man annehmen, dass er umgekommen und alles verloren sei, und in Gottes Namen das Weite suchen. Sei er aber in seinem Unternehmen erfolgreich, dann werde sich schon irgendein merkbares Zeichen ergeben, worauf nach Beschaffenheit der Umstände eingeschritten werden könnte.
Mit diesem Vorschlag einverstanden, steuerte nun der Kapitän vorwärts. Jacob aber ging in sein Schiffchen und machte sich dort viel zu schaffen. Dann kam er mit einem Päckchen zu seinem Freund Gottlieb und sprach. »Hier, dieses versiegelte Päckchen hat mir einst meine Mutter zugeschickt, als sie vernahm, dass ich zur See gehen wollte. Sie hat es von ihrem Mann auf dessen Sterbebett für mich erhalten, musste ihm aber in meinem Namen versprechen, dass ich das Siegel nur dann zerbrechen wollte, wenn es sich etwa fügte, dass ich aus eigenem Antrieb auszöge, mein Vaterland aufzusuchen und wirklich einen Ort in der Welt gefunden hätte, wo solche kleinen Leute wie ich zu Hause sind. Ich habe Ursache zu glauben, dass darin Zeugnisse über meine wahre Herkunft befindlich sind. Ich überlasse es aber aus gutem Vorbedacht dir, dem Freund, solche für mich zu enthüllen. Es sei nun, dass du gute Nachrichten von mir bekommst oder dass ich morgen meinem Schicksal unterliege.«
Er zog sich wieder in das Schiffchen zurück und schien mit großer Emsigkeit in seinem Laboratorium zu arbeiten. Das große Schiff aber segelte indessen mit günstigem Wind rasch vorwärts. Mit einbrechender Dämmerung zeigten sich wirklich die beschriebenen Vorgebirge. Bald darauf legte sich auch der Kutter in einer sicheren Bucht vor Anker.
Jacob aber ließ alsbald sein Schiffchen aussetzen und wählte sich drei der rüstigsten von seinen Landsleuten zu Begleitern, welchem das königliche Paar noch einen vornehmen Hofbeamten mit Aufträgen an den dortigen Hof zugesellte. Ohne Aufenthalt steuerten sie dem Ufer zu, und gelangten an einen Vorsprung, der ihr Fahrzeug hinlänglich versteckte. Sie stiegen aus und traten unter dem Schutz der Nacht den Weg zum verborgenen Aufenthalt der Stammverwandten in aller Stille an.