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Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 5

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Zweiter Teil

Die Tochter des Trunkenbolds

Als Marion mit Grand-Pierre allein war, warf sie rasch einen alten wollenen Mantel über – ihr bestes Kleidungsstück sowohl für den Winter als auch für den Sommer. Dann holte sie aus einem alten Koffer den groben Überrock ihres Vaters, indem sie mit Grund voraussetzte, dass der vor Kälte halb erstarrte Trunkenbold dieser wärmenden Hülle bedürfen würde.

Der an der Tür stehende Diener sah ihr, sich auf sein Gewehr stützend, ungeduldig zu.

»Na, zum Donnerwetter, seid Ihr bald fertig?«, fragte er in rohem Ton und mit dem Fuß aufstampfend. »Soll ich vielleicht hier warten bis morgen? Zum Teufel mit solchen Aufträgen! War es nicht vielmehr Jeromes Sache, seinen betrunkenen Vorgesetzten aufzuheben, als die meine, da ich Lakai im Schloss bin und Livree trage? Aber solche widerwärtigen Frondienste fallen mir allemal zu!«

Marion unterbrach sich mitten in ihren Vorbereitungen und sagte mit einem Gemisch von Schmerz und Demut: »Wenn es Euch so sehr zuwider ist, mich zu begleiten, Monsieur Grand-Pierre, so verlasst mich. Ich werde dann allein gehen. Es wird Euch noch leicht sein, das gnädige Fräulein einzuholen. Ihr werdet ihr sagen, dass ich Euch fortgeschickt habe, dass Eure Dienste mir nicht notwendig wären. Ich schwöre Euch, dass niemals ein Wort der Klage gegen Euch aus meinem Mund kommen soll.«

»Na, verlieren wir nicht lange Zeit. Ich habe einen Befehl erhalten und muss ihn auch ausführen. Aber hat man wohl jemals so etwas erlebt! Den ganzen Tag wegen dieser verwünschten Treibjagd auf den Beinen, bis auf die Haut durchnässt, halb tot vor Hunger und Müdigkeit, soll ich nun auch noch in Gesellschaft einer barfüßigen Prinzessin mit zerrissenem Rock im Wald herumlaufen, um einen alten Trunkenbold zu suchen! Mittlerweile werden die anderen auf dem Schloss sich nicht wenig darauf zu gute zu tun, Fräulein von Barjac aus einer großen Gefahr gerettet zu haben. Sie werden einige Taler in ihre Tasche bekommen. Sie werden von Schwester Magloire, vom Chevalier, ja, wer weiß, sogar vom Pater Prior selbst gelobt werden. Welcher Teufel aber wird sich morgen darum kümmern, wie ich die Nacht zugebracht habe? Indessen, der Wein ist einmal eingeschenkt, folglich muss er auch getrunken werden. Nun, Mädchen, seid Ihr bald fertig?«

»Da bin ich, Monsieur Grand-Pierre,« sagte Marion in sanftem Ton.

Unter einem ihrer Arme trug sie den Überrock ihres Vaters. Am anderen Arm hing ein kleiner Korb, welcher leinene Tücher, Scharpie und andere zum Verbinden von Wunden oder Quetschungen nötige Gegenstände enthielt. Die arme Unglückliche wusste aus Erfahrung, dass diese Vorsicht ihr ohne Zweifel nicht unnütz sein würde.

Was sie selbst betraf, so hatte sie ihrer Toilette weiter nichts hinzugefügt als den kleinen Mantel, der ihren Kopf bedeckte und ihr hageres Gesicht umhüllte.

Marion ließ das Licht brennen, um das Zimmer hell zu finden, wenn sie mit ihrem Vater zurückkäme. Dann klinkte sie die Tür zu und verließ das Haus mit ihrem Begleiter, der immer noch zwischen den Zähnen hindurch murrte.

Die Nacht war draußen ziemlich dunkel. Der Regen und der Donner hatten aufgehört, aber Blitze leuchteten noch in der Ferne. Übrigens gestattete ein unbestimmter Schimmer, den Weg zu sehen, wenigstens so lange man nicht unter die Bäume hineinkam. Eine majestätische Ruhe herrschte jetzt ringsum. Man hörte nur noch das schwache Seufzen des Windes in den Tiefen des Waldes, die einzelnen Tropfen, welche noch von den Blättern der Kastanienbäume fielen, und die Sturzbäche von Regenwasser, welche sich in den Schluchten verliefen.

Marion und Grand-Pierre gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Sie hatten einen in schlechtem Zustand befindlichen Fußsteig eingeschlagen, welcher durch eine kleine, flache, kahle Strecke führte. Jeden Augenblick ward der Weg durch Tümpel von gelblichem, stillstehendem Wasser durchschnitten.

Marion mit ihren bloßen Füßen kümmerte sich weiter nicht darum, sondern marschierte keck hindurch. Grand-Pierre aber, der unaufhörlich Umwege machen musste, erging sich in allerhand Verwünschungen.

Die arme Marion antwortete nicht mehr. Sie begnügte sich ganz leise zu seufzen. Zuweilen wollte sie ihren Führer abermals auffordern, allein zum Schloss zurückzukehren. Als sie aber die entsetzliche Einsamkeit der Umgebung sah, welche sie durchschritt, konnte sie nicht umhin, zu schaudern und die Worte erstarben ihr auf den Lippen.

Man erreichte auf diese Weise die Stelle, wo Fargeot liegen sollte.

Es war eine Art Gebüsch, einige Schritte seitwärts vom Weg. Hier und da erhoben sich Basaltfelsen, die auf bizarre Weise einer über dem anderen standen. Bäume, Gestrüpp und Steinblöcke verschwammen in der Finsternis ineinander. Grand-Pierre hatte Mühe, sich auf diesem schwierigen Terrain zu orientieren. Er irrte fluchend im Gebüsch herum und konnte nicht den Ort ausfindig machen, wo man den Trunkenen hingelegt hatte.

Verzweifelnd rief er aus Leibeskräften, erhielt aber keine Antwort.

»Guter Gott!«, rief Marion angsterfüllt, »sollte ihm ein Unfall zugestoßen sein?«

»Ach, was da!«, entgegnete Grand-Pierre in rohem Ton, »solchen Kerlen passiert kein Unfall. Wir werden ihn schon wiederfinden. Ohne Zweifel ist er in seiner Höhle eingeschlafen wie ein altes Wildschwein, welches sich an jungen Eicheln vollgefressen hat. Doch jetzt fange ich an, mich zurechtzufinden – kommt hierher.«

Er lenkte seine Schritte zu zwei Felsen von beinahe pyramidaler Form, welche die Dunkelheit anfangs ihn verhindert hatte, zu sehen, obwohl ihre Gestalt eine sehr merkwürdige war. Diese Felsen berührten sich am Gipfel, während ihre Basis durch einen Zwischenraum von mehreren Fuß getrennt war.

In diese Art von unterirdischem Gang hatte man den Oberforsthüter getragen.

Seiner Sache gewiss neigte Grand-Pierre sich zur Öffnung des Loches und rief laut ohne viele Umstände: »Heda! Vater Fargeot, macht Euch auf die Beine! Ihr habt nun genug geschlafen. Auf, auf, sage ich! Hier ist Eure Tochter, welche Euch nach Hause führen will.«

»Ja, Vater, ich bin es,« sagte Marion ihrerseits, »ich bitte Euch, steht auf. Ihr müsst hier sehr schlecht liegen. Kommt, erhebt Euch und missbrauchen wir Monsieur Grand- Pierres Gefälligkeit nicht länger!«

Ein Grunzen ließ sich aus der Höhle des Felsens vernehmen.

»Heilige Jungfrau, Monsieur Grand-Pierre,« fragte Marion, immer unruhiger werdend, »scheint Euch nicht, als ob er litte, als ob er sich beklagte?«

»Er ist betrunken und schläft wie ein Hamster. Heda, Vater Fargeot,« fuhr der Diener in zornigem Ton fort, »soll man Euch denn ausräuchern, ehe Ihr aus Eurem Fuchsbau herauskommt? Steht doch auf, zum Teufel, und schlaft Euren Rausch zu Hause aus!«

Während er dies sagte, schüttelte er den Schläfer tüchtig.

Dieser schien endlich diese wiederholten Rufe gehört zu haben und streckte sich träge auf seinem Kieselbett.

»Ja, ja, ein kleines Räuschchen wollen wir uns antrinken, Kamerad Planchon,« entgegnete er mit heiserer, von Schlucken unterbrochener Stimme, welche eine noch vollständige Trunkenheit verriet. »Schenke mir noch ein Glas ein, aber fordere mich nicht auf zu schwatzen. Die Angelegenheiten dieser vornehmen Leute gehen nur mich an. Also eingeschenkt, morbleu! Ich will dir auch etwas dafür singen!«

Und der Trunkenbold sang mühsam jenes alte protestantische Liedchen:

Der Bruder trank wie vier,
Der Prior aber wie zehn …

»Davon ist jetzt nicht die Rede«, unterbrach ihn Grand- Pierre, indem er ihn abermals rüttelte. »Steht auf und kommt rasch mit uns. Ihr seid jetzt nicht mehr in Cransac, im Wirtshaus Planchons, des Wildschützen, sondern in einer Felsenhöhle. Eure Tochter erwartet Euch, um Euch nach Hause zu bringen.«

»Nach Hause? Meine Tochter?«, wiederholte der Trunkenbold, der, ohne den Sinn dessen, was man ihm sagte, zu verstehen, dennoch von gewissen Ausdrücken betroffen wurde. »Ich mag nicht wieder nach Hause zurückkehren. Ich langweile mich dort zu sehr. Was Marion betrifft, so soll sie eine Aussteuer bekommen – jo, eine Aussteuer, und da sie ein gutes Mädchen ist, so wird sie mich das Geld lustig vertun lassen. Aber wer wird denn diese Aussteuer bezahlen? Der Prior ist ein Geizhals und wollte nicht anbeißen. Aber das soll ihm teuer zu stehen kommen! Ich werde die Geschichte dem Edelmann erzählen und der Edelmann wird ihm die Hölle heiß zu machen wissen.

Der Bruder trank wie vier,
der Prior aber wie zehn!

Grand-Pierre, der über all diese Verzögerungen immer wütender wurde hätte vielleicht den Beklagenswerten misshandelt. Marion hielt ihn aber davon zurück.

»Ich bitte Euch, Monsieur Grand-Pierre,« sagte sie, »tut ihm nichts zuleide. Lasst lieber mich mit ihm sprechen. Er wird meine Stimme erkennen und vielleicht uns endlich verstehen.«

Der Lakai trat ein wenig auf die Seite.

Marion, die sich nun ihrerseits zum Eingang der Felsenhöhle neigte, hob in liebkosendem Ton wieder an: »Hört, lieber Vater, ist es nicht Zeit, nach Hause zu gehen? Ich habe Euch vielerlei zu erzählen. Während Eurer Abwesenheit ist Fräulein von Barjac bei uns gewesen und es sind ihr Abenteuer begegnet, die Euch in Erstaunen setzen werden. Aber alles hat noch ein gutes Ende genommen und das gnädige Fräulein ist sehr gut gegen mich gewesen. Sie hat mir befohlen, morgen aufs Schloss zu kommen und mir versprochen, dass wir alle glücklich werden würden. Das sind doch gute Nachrichten, wollte ich meinen! Aber wollt Ihr nicht mit mir kommen? Ich werde Euch dies alles unterwegs erzählen.«

Sie wartete auf Antwort. Erst nach einem Augenblick der Überlegung antwortete man ihr in rauem Ton: »Marion? Woher hatte diese wissen können, dass ich hier bin? Du faule, nichtsnutzige Dirne, was willst du? Habe ich dir nicht verboten, mich zu stören, wenn ich in Cransoc bei meinem Freund Planchon bin? Ich bin doch hoffentlich mein eigener Herr! Also mach schnell, dass du fortkommst. Ich will diese Nacht weiter nichts tun, als trinken und singen.

Der Bruder trank wie vier,
Der Prior aber wie …

Der übrige Teil des Liedchens war weiter nichts als ein unverständliches Stammeln, und der Betrunkene schlief wieder ein.

Nun kannte Grand-Pierres Ungeduld keine Grenzen mehr.

»Hol Euch der Teufel! Den Vater so gut wie die Tochter!«, rief er. »Dieser elende Weinschlauch ist vor morgen Früh nicht imstande zu gehen. Welch eine angenehme Nacht werden wir hier zubringen, mit den Füßen im Wasser, mit leerem Magen und bis auf die Haut durchnässt bei diesem eiskalten Wind!«

»Monsieur Grand-Pierre,« sagte Marion demütig, »warum wollen wir nicht versuchen, meinen Vater nach Hause zu tragen? Ich bin stark, sage ich Euch, stärker als Ihr glaubt.«

»Ach, und wenn Ihr die Kraft von vier Männern hättet, so würde es uns niemals gelingen, diesen ungeheuren Dickwanst bis in das Waldhaus zu transportieren. Jerome und ich waren heute Abend nicht imstande, etwas Weiteres zu tun, als ihn vom Weg bis zu diesem Felsen, kaum dreißig Schritte weit zu schleppen. Das iss ja gar kein Christenmensch, sondern ein Fass und zwar ein noch volles Fass!«

»Wohlan, Monsieur Grand-Pierre,« entgegnete das arme Mädchen weinend, aber in entschlossenem Ton, »da es so ist, so will ich Euch nicht länger aufhalten. Geht und lasst mich allein hier. Meine Pflicht ist, bei meinem Vater zu wachen, und wenn es sein muss, zu warten bis morgen, bis er imstande ist, mir zu folgen. Was Euch betrifft, Monsieur Grand-Pierre, so kann man von Euch nicht mehr verlangen. Kehrt daher zum Schloss zurück. Ich werde Eure guten Dienste bezeugen und danke Euch dafür von ganzem Herzen.«

Sie setzte sich mit resignierter Miene auf einen Stein und stellte ihren kleinen Korb neben sich.

Grand-Pierre war mehr jähzornig als schlecht. Die Selbstverleugnung des armen Mädchens rührte ihn.

»Aber ich kann Euch doch nicht so verlassen,« sagte er im Ton der Besorgnis.

Gott wird mich beschützen,« seufzte Marion, indem sie sich in ihr Mäntelchen hüllte, welches sie nur ungenügend vor dem kalten Nachtwind schirmte.

Grand-Pierre dachte nach.

»Ich sehe nur ein Mittel,« sagte er endlich.

»Und welches ist dieses, Monsieur Grand-Pierre?«

»Es bestünde darin, dass wir aus dem Dorf Cransac Hilfe herbeiholten. In einer halben Stunde würden wir dort sein. Wir würden zum Schankwirt Planchon, diesem würdigen Freund Eures Vaters, gehen und ihn auf die eine oder die andere Weise bestimmen, uns zu begleiten, um seinem besten Kunden einen Dienst zu leisten. Planchon hat einen kräftigen Esel, den wir mitnehmen werden. Wir drei werden wohl imstande sein, den alten dicken Saufaus auf den Rücken des Tieres zu heben, und dann ist der Transport bis in das Waldhaus nur noch eine Kleinigkeit. Wohlan, Kleine, was sagt Ihr zu meinem Plan?«

»Er ist in jeder Beziehung vortrefflich und Ihr, Monsieur Grand-Pierre, seid ein würdiger Mann. Nur werde ich Euch bitten, ohne mich Hilfe aus Cransac herbeizuholen, während ich bei meinem Vater bleiben werde. Ich kann mich nicht von ihm entfernen, während er jeder Verteidigung unfähig ist. Mein Gewissen und meine arme Mutter, welche im Himmel ist, würden mir über diese Vernachlässigung Vorwürfe machen und Gott mich vielleicht dafür strafen …«

»Wie, Marion, ist es notwendig, dass Ihr während meiner Abwesenheit allein an diesem hässlichen Ort bleibt? Denkt an jenes böse Tier, welches noch umherläuft! Was braucht Fargeot Euch? Er schläft ruhig und wir können sicher sein, dass er sich nicht von der Stelle rühren wird.«

»Monsieur Grand-Pierre, mein Entschluss ist gefasst. Ich werde meinen Vater in diesem Augenblick nicht verlassen. Geht daher so schnell wie möglich, Ihr werdet uns unversehrt wiederfinden, wie Ihr uns verlassen habt.«

Grand-Pierre bestand nochmals darauf, dass das junge Mädchen ihn nach Cransac begleite, aber sie blieb unerschütterlich. Die Zeit drängte und vielleicht machte die Ungeduld, der Sache ein Ende zu machen, den Lakaien blind gegen die Gefahren seiner Herablassung. Wie dem jedoch auch sein mochte, kurz, er verstand sich dazu, allein fortzugehen. Nachdem er Marion noch einige ermutigende Worte gesagt und ihr versprochen hatte, die größte Eile aufzubieten, begab er sich auf den Weg, welcher zum Dorf Cransac führte.

Kaum hatte er sich einige Schritte entfernt, als die arme Marion ihn zurückrufen wollte. Sie errötete aber über ihre Schwäche und versteckte ihren Kopf unter dem Mantel, um der Versuchung zu widerstehen.

Eine lange Zeit verging und Grand-Pierre kam nicht zurück. Marion, die auf dem feuchten Stein saß, wagte kaum sich zu bewegen oder Atem zu schöpfen. Das geringste Geräusch, ein welkes Blatt, welches sich von einem Kastanienbaum löste, das Rauschen des Windes im Gebüsch, das Summen der Nachtinsekten – alles jagte ihr Schrecken ein.

Bald aber bemühte sie sich, sich zu fassen und begann, um ihre Gedanken zu beschäftigen, auf den pfeifenden, gedrückten Atemzug ihres schlafenden Vaters zu horchen.

Zwei- oder dreimal jedoch schienen ihre Befürchtungen ernstere Gründe zu haben. Sie glaubte verstohlene Tritte, ein seltsames Knistern im benachbarten Dickicht zu hören oder ein Ächzen, scharf wie Seufzer, erhob sich im Schoß der Finsternis.

Dann begann sie zu zittern, das Haar sträubte sich ihr empor, sie öffnete den Mund, um zu schreien. Dann gewahrte sie, dass die Ursache ihres Schreckens ein unschuldiges Reh war, welches aufs Geäse ging, oder ein schüchterner Hirsch, welcher die zarte Rinde der Sträucher abnagte.

Marion hatte kein Mittel, die Zeit zu messen, aber es schien ihr, als müsste die von Grand-Pierre erlangte Stunde, um zum Dorf zu gehen und wieder zurückzukommen, längst vorüber sein.

Kraft und Mut entsanken dem Mädchen. Dieser gewaltsame Zustand, diese fortwährende Angst hatte sie erschöpft. Sie fröstelte unter ihrer leichten Bekleidung. Ihre nackten Füße waren eiskalt und allmählich stieg der Frost ihr bis in das Herz hinauf. Ein gewisser Grad von Erstarrung bemächtigte sich ihrer. Diese Erstarrung, welche gleichzeitig Körper und Geist ergriff, hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Tod als mit dem Schlaf.

Dennoch trat ein Augenblick ein, wo das Blut wieder zu ihrem Herzen zurückfloss, wo die Adern von Neuem pulsierten, als ob sie bersten wollten. Während Marion das Schweigen der Umgebung belauschte, ließen sich eilige Schritte, welche nicht die Leichtigkeit der Tritte eines Rotwildes besaßen, allmählich von verschiedenen Teilen des Waldes hören und kamen dabei immer näher.

Marion drehte in fieberhafter Aufregung den Kopf rechts und links, um das geheimnisvolle Wesen kennenzulernen, welches sie auf diese Weise umkreiste. Aber nichts war in der düsteren Gleichförmigkeit der Nacht zu erspähen. Wenn ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt geheftet war, ließ sich das Geräusch von einem entgegengesetzten vernehmen.

Plötzlich wurde der furchtbare Zweifel, den sie empfand, zur Gewissheit. Weniger als zwanzig Schritte von ihr funkelten im Dunkeln zwei Augen, zwei glühende, unbewegliche Kohlen, die eine verzehrende Flamme ausströmten.

Sie konnte sich nicht irren. Dieser Feind, welcher sie umkreiste, der sie wie eine Beute umlauerte, war die Bestie des Gévaudan.

Marion hatte sich mit einer krampfhaften Bewegung erhoben. Obwohl die Flamme fast sofort erloschen war, so wusste sie doch, dass ihr Untergang deswegen nicht weniger nahe sei, wenn sie nicht raschen Beistand erhielt. Außer sich vor Angst neigte sie sich zur Felsenhöhle, in welcher Fargeot schlief, und rief mit lauter Stimme: »Zu Hilfe, mein Vater, zu Hilfe! Es ist das Tier, es ist die Bestie des Gévaudan! Wach auf! Rede! Wenn sie deine Stimme hört, so ergreift sie vielleicht die Flucht. Mein Vater, mein guter Vater! Komm mir zu Hilfe!«

Ein halb ersticktes Gähnen, gleich dem einer Person, welche mühsam erwacht, war die einzige Antwort auf diesen Ruf.

Aber Marion ließ den Mut nicht sinken. Im Gebüsch war ein fortwährendes Getrappel zu hören. Das Ungeheuer begann auf drohende Weise zu knurren.

Marion packte ihren Vater beim Fuß und schüttelte ihn aus Leibeskräften, indem sie verzweifelt rief: »Zu Hilfe, mein Vater, zu Hilfe! Wache doch auf oder wir sind beide verloren. O hilf mir, mein Gott, denn ich möchte jetzt nicht sterben. Man hat mir versprochen, dass ich glücklich werden, dass ich nicht mehr weinen soll. Fräulein Christine wird mich reich machen. Ich werde das Haus verlassen, wo ich ganz allein so viel gelitten habe. Ich werde Jean Godarts Sohn heiraten, den ich schon lange liebe. Nein, ich will nicht sterben! Mein Vater, ich bitte dich … zu Hilfe … zu …«

Ihre Stimme brachte nur noch unartikulierte Laute hervor. Der Trunkenbold erhielt einen kräftigen Ruck und trotz seines ungeheuren Gewichtes wurde er halb aus der Felsenhöhle hervorgezogen, in welcher er lag. Sei es, dass diese plötzliche Bewegung ihn geweckt hatte, oder sei es, dass das durchbohrende Geschrei seiner Tochter ihm unbewusst die durch den Trunk erstarrten Fibern des Vaterherzens rege machte. Kurz, er bewegte sich mühsam. Bald aber, als er sich nicht mehr mit ungestümer Kraft geschüttelt fühlte, als er nur noch Seufzer und ein mattes Knistern einige Schritte weit von sich hörte, begnügte er sich, sich wieder herumzudrehen und sein Lieblingsliedchen zu trällern:

Der Bruder trank wie vier,
der Prior aber wie zehn.

Dann schlief er wieder ein. Seinem lauten Schnarchen antwortete ein unheimliches Gelächter im benachbarten Gebüsch.