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Deutsche Märchen und Sagen 7

Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

7. Die schöne Königstochter in Garten

Eine arme Frau hatte drei Söhne, keinen Mann und auch nichts zu essen. Das tat ihr so weh, dass sie meinte, das Herz im Leibe müsste ihr vor lauter Jammer und Not zerspringen. Sie setzte sich hin und weinte bittere Tränen.

Als die drei Söhne das sahen, da tat es ihnen leid und der Älteste sprach zu seiner Mutter:

Moer geff my ‘ne koeck,
lapp my myn broeck,
ik zal uit reizen gaen.1

Da gab ihm die Mutter einen Kuchen, flickte ihm seine Hose, er ging weg und kam in einen großen Wald. Darin ging er immer weiter und weiter, bis es stichdunkel geworden war. Da kletterte er auf einen hohen Baum und sah, wie von fern ein ganz kleines Lichtlein schimmerte. Auf das Lichtlein ging er zu und wandelte die ganze Nacht. Als es Morgen geworden war, da stand er vor einem wunderschönen Schloss, das glänzte, als ob es von lauter Diamanten gewesen wäre. Weil das Tor nun offen stand, ging er hinein und kam in einen Garten. Der war so schön, wie noch kein Mensch in der ganzen Welt einen gesehen hat. Wo er nur hinschaute, da standen Blumen und Bäume mit Äpfeln, Birnen und goldenen Nüssen. Er hatte so große Freude daran, dass er immer weiter darin fortging, bis er an das Ende kam, wo er eine Königstochter sitzen sah, die von so großer Schönheit war, dass er im ersten Augenblick glaubte, es wäre ein Englein aus dem Himmel. Er zog höflich sein Käpplein und sprach: »Gott grüße Euch, schöne Jungfrau!«

»Schönen Dank«, antwortete die Königstochter.« Aber sage mir nun auch, was dir am besten gefällt in meinem Garten.«

Darauf antwortete der Älteste: »Ach, schöne Jungfrau, das sind die lieben Blümlein.«

»Ei, du dummer Tölpel«, sprach da die Königstochter, »weißt du nichts Schöneres, dann marsch fort mit dir in den Keller!« Sie nahm ihn beim Kragen und setzte ihn in den Keller.

Als der Älteste nun nicht wiederkehrte, da sprach der Zweite zu seiner Mutter:

Moer geff my ‘ne koeck,
lapp my myn broeck,
ik zal uit reizen gaen.

Da gab ihm die Mutter einen Kuchen und lappte ihm seine Hose. Er zog fort und immer weiter bis in den großen Wald und endlich auch bis an das Schloss. Da ging er hinein und rundherum in den Garten, bis er an die Laube kam, wo die schöne Königstochter saß.

»Gott grüße Euch, schöne Jungfrau«, sprach er.

»Schönen Dank«, antwortete die Königstochter. »Aber sage mir nun auch, was dir in meinem Garten am besten gefällt.«

Darauf antwortete der Zweite: »Ach, schönste junge Jungfrau, das sind die roten Äpfel und die gelben Birnen und die goldenen Nüsse.«

»Ei, du dummer Tölpel«, sprach da die Königstochter. »Weißt du nichts Besseres, dann marsch fort mit dir in den Keller.« Und sie fasste ihn am Kragen und setzte ihn in den Keller.

Als der Zweite nun auch nicht zurückkehrte, da beschloss der Jüngste, sein Glück auch einmal zu versuchen, und er sprach zu seiner Mutter:

Moer geff my ‘ne koeck,
lapp my myn broeck,
ik zal uit reizen gaen.

Da gab ihm die Mutter einen Kuchen und lappte seine Hose. Er zog aus und kam gleichfalls in den Wald und an das schöne diamantene Schloss. Er wunderte sich über die Maßen ob der schönen Blümlein und der lachenden Früchte, bekam auch Wollust, einmal davon zu kosten. Doch bezwang er sich und ging immer fort, bis er von fern die Königstochter erblickte.

»Nein«, sprach er dazu sich selbst, »ein so bildschönes Mädchen habe ich doch in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.« Er zog sein Käpplein, trat ihr näher und grüßte sie höflich. »Gott grüße Euch, schöne Jungfrau!«

»Schönen Dank«, entgegnete die Königstochter. »Aber sage mir doch, was dir in meinem Garten am besten gefällt.«

»Ach, das seid Ihr, schöne Jungfrau, denn neben Euch sieht man keine Blümlein und keine Äpfel und nichts«, sprach der Jüngste schnell.

Da fiel die Königstochter ihm um den Hals und sprach: »Du bist mein und ich bin dein und du bist mein lieber Mann.«

Sie führte ihn in das Schloss. Am anderen Tage wurde die schöne Königstochter seine Frau und sie lebten zufrieden und glücklich miteinander.

Show 1 footnote

  1. Mutter, gib mir einen Kuchen, flicke mir meine Hose, ich will auf Reisen gehen.