Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 20
Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837
Zwanzigstes Kapitel
Von einem Haifisch, der Mann und Haus zugleich verschlungen
Die Frage, wo unser Freund geblieben war, erscheint fast überflüssig, nach dem, was jetzt erzählt worden ist! Er ist mit aufgeflogen, hat an den Sieg der Freunde sein Leben gesetzt, und so die Gastfreundschaft, die ihm das biederherzige Volk erwiesen hatte, mit reichen Zinsen gelohnt.
Er hat eine große Tat getan, und ohne Seitenblick auf eigenen Ruhm und Lohn! Herrlich waren die Früchte seiner Aufopferung, aber kein Zeuge derselben konnte seinen Namen der Nachwelt überliefern. Sollte aber eine Gesinnung wie diese, wohl nur im Reich der Märchen anzutreffen sein?
Nein, Jung und Alt, wie wir sind, wir wollen uns in dem Gedanken erfrischen und erheben, dass auch unter uns noch heutzutage der Pflicht und der Liebe noch immer manche Opfer dargebracht werden, nicht minder groß an Selbstverleugnung, verborgen vor der Welt, aber um so heller strahlend, vor dem Auge Gottes.
Kehren wir noch einmal zurück, auf den eben verlassenen Schauplatz des Gefechtes! Der Lärm und das Getümmel sind vorüber. Die Schiffe sind bereits in weiter Ferne. Einsamkeit und melancholische Stille brüten über dem Gewässer, dessen leise Wellen weit und breit mit Trümmern der Verwüstung spielen, und mit Leichnamen, welche die Tiefe noch nicht aufgenommen hat. Indessen die fernen Mütter, Bräute und Kinder, vielleicht noch lange des fröhlichen Wiedersehens harren. Dort das dunkle Wrack der gesunkenen Fregatte! Tonnen, Stangen, Körbe, Hängematten schaukeln auf den Wellen. Auch das Schiffchen unseres guten Jacobs! Da kommt es eben hinter dem eingesunkenen Bugspriet hervor. Ist es eine Strömung, die das kleine Fahrzeug so regelmäßig durch die Trümmer hinführt? Wie? Jetzt richten sich sogar die Masten in die Höhe, die Segel blähen sich auf! Ist es möglich? Jacob?
Er ist es! Das Feuer hat ihn nicht versengt; die Flut nicht verschlungen!
Der feuchte Mantel ward ihm zum Schirm mitten in der auflodernden Feuersäule; zur schwimmenden Brücke, auf der er hinüber zum wohlbekannten Schifflein kam. Er kletterte an Bord; und neuer Mut, dem neuen Leben zugesellt, kehrte zurück in seine Brust! So steuert er jetzt getrost hinaus ins weite Meer, in die einbrechende Nacht! Die Sterne hat er über seinem Haupt, Kraft im Arm, Mut in der Brust und Gott zum Schild! Schon hat ihn die dunkle Ferne unserem Blick entrückt. Fahr hin mit Gott, auf deinem winzigen Schifflein, du hochherziger Schiffer! Wenn gleich rings um dich her, und weit und breit sich nichts dir zeigt als Himmel und Wasser, und Sonnen auf- und niedergehen werden, ohne dass du einen Ankergrund, ein gastliches Gestade findest und du vereinzelt und hilflos dahingeschaukelt wirst, mitten unter den Schrecknissen der weiten Wasserwüste, so ist doch ein Auge, das dich sieht, und eine Hand, die unsichtbar dich hält und führt – das Auge und die Hand der ewigen Liebe!
Zwei Tage und zwei Mächte ist Jacob schon unter Segel, eine starke Strömung treibt sein Fahrzeug jetzt pfeilschnell vorwärts. Da endlich zeigt sich auf der einförmigen Fläche ein dunkler Punkt und wächst mit jedem Moment. Ist es ein Schiff, ist es das Vorgebirge eines nahen Landes? Er weiß es nicht, er setzt von neuer Hoffnung begeistert alle Segel auf und steuert mit allen Kräften der ersehnten Rettung entgegen.
Lass ab, lass ab! Unglücklicher! Das ist kein Schiff, das Hilfe bringt, kein gastliches Land – ein Ungeheuer des Meeres ist es, ein riesenhafter Haifisch, der dir den Untergang bereiten wird! Zu spät! Vergebens versuchte er nun auszuweichen, die Strömung reißt ihn mit sich fort, geradezu in den weit geöffneten Rachen des Meerwunders, dass in der Wahl nicht lecker, alles verschlingt, was seinen Magen füllen kann! Wer hat Herz, ihm nachzufolgen mit mir in den fürchterlichen Schlund, in diesen Aufenthalt ewiger Finsternis? Dort unten in dem Riesenmagen steckt sein Schifflein nun fest, umtost vom hin- und herströmenden Gewässer! Welche Aussicht, in einem so schrecklichen Kerker zu lebenslänglicher Gefangenschaft, vielleicht zum gräuelvollsten Tod verurteilt zu sein!