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Nach Amerika! – Erster Band – 01

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855

Vorwort

Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den Beschauer dadurch gewissermaßen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, so will auch ich hier den Anfang des einen Kapitels, aus der Mitte des Bandes heraus, zum Vorwort wählen, den Leser gleich von vornherein mit dem bekannt zu machen, was ich ihm biete.
»Nach Amerika!« – Leser, erinnerst du dich noch der Märchen in Tausend und eine Nacht, wo das kleine Wörtchen »Sesam« dem, der es weiß, die Tore zu ungezählten Schätzen öffnet? Hast du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt haben, Geister heraufzurufen aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? – Mit dem ersten Klang der einfachen Silbe schlugen, wie sich die Sagen seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind, das sie gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt, die es heraufbeschworen.
Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht haben, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergeben, sie zu rufen, aber ein anderes dafür gefunden das, kaum minder stark, mit einem Schlag das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten wurde.
»Nach Amerika!« Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen Mut stählen.

»Nach Amerika!«, flüstert der Verzweifelte, der hier am Rand des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegengerissen wurde.

»Nach Amerika!«, sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein tägliches Brot mit blutigem Schweiß gebeten und es nicht erhalten hat, der keine Hilfe für sich und die seinen hier im Vaterland sieht, und doch nicht betteln will, nicht stehlen kann.

»Nach Amerika!«, ruft lachend der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts.

»Nach Amerika!«, jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ozean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten gleicht.

»Nach Amerika!« Und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen – liegen die Bande, die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen, die sie für hier gehegt, die Sorgen, die sie gedrückt haben – »Nach Amerika!«
So gärt und keimt der Same um uns her – hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt, noch nie so schwer geärgert hat, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt, mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden, die ihm bis dahin noch geblieben waren, in seine Tür zu locken; der Künstler in seinem Atelier oder seiner Studierstube, der über einer freieren Entwicklung brütet und von einem Land schwärmt, wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden; der Kaufmann hinter seinem Pult, der nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, anderen Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten Warenhäusern träumt. In Tausenden von ihnen drängt es, treibt es und quält es, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort — ein stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arznei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, dass man die Absicht nicht erraten soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding, nach Leuten, die vordem hinüber gezogen sind und denen es gut gegangen ist, nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk – für andere natürlich, nicht für sich etwa – sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen, dass es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.
So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den Salto mortale getan und alles hinter sich gelassen hat, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt hätten, dass sie je an Amerika gedacht, wie sie mit Frau und Kind und Hab und Gut hinüberziehen.
Und dort?
Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den verschiedenartigsten Verhältnissen und Sphären, aus allen Schichten der menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen – Gute und Böse, den Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger und den heimlichen Verbrecher, alle dem einen Ziel entgegenstrebend. Und alle vereinigt sie das Schiff; der eine kleine Bau, der Hunderte von Menschen auf seinem schwanken Kiel hinüberträgt, dem fernen Weltteil zu. O, was für Hoffnungen, was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schoß. Aber die Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, im engen Haus, still und gedrängt beisammen. Jeder mit dem alten Leben abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem wunderlichen unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schar von Tag- und Nachtfaltern den Weg ins Freie öffnet.
Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Handvoll Spreu, vom Winde fort geführt; die einen selbstbewusst und keck dem fremden, unbekannten Leben in die Arme springend, die anderen scheu und zaghaft bei jedem Schritt fast moralische Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; alle aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterland die, im alten aufgegebene Existenz abzuringen, jeder in seiner Art, auf seine Weise.
Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Bösen, die einen mit ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, andere, zerknirscht und zertreten, die Stunde verwünschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar – sehen, wie sich die Wildnis lichtet, wie Farmen und Städte entstehen, wie sich das deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen Bekannten und Freunden, die wir zu Hause schon oder auf der Fahrt erst lieb gewonnen haben oder für die wir uns interessieren, auf ihren verschiedenen, oft wunderlichen Bahnen.
Manchen alten Reisegefährten führe ich dabei dem Leser vor und hoffe ihn nicht zu langweilen, den weiten Weg; schlafen wir dann auch manchmal draußen im Freien oder in niederer Blockhütte auf dünnem Quilt, müssen wir auch eine Zeit lang mit Maisbrot und Wildbret, oder gar mit Speck und Sirup vorlieb nehmen, wie es der Farmer am Ohio liebt. Wir lernen doch das Land kennen, mit seinen guten und schlechten Eigenschaften, seinen Vorteilen und Mängeln, seinen Bürgern und Einwanderern, seinen inneren Verhältnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft. Und bin ich imstande, ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von Tausenden so heiß ersehnte Welt, wie ich sie selbst gefunden habe, tun zu lassen, so habe ich meinen Zweck mit diesem Buch erreicht.

Rosenau bei Coburg im September 1854
Friedrich Gerstäcker

***

Kapitel 1
Das Dollinger’sche Haus

Im Haus des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen, einer nicht unbedeutenden Stadt Deutschlands, hatte am Sonntag Mittag ein kleines Familienfest die Glieder des Hauses um den Speisetisch versammelt, diesen heute in außergewöhnlicher Weise mit Blumen geschmückt und delikaten Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag der zweiten Tochter des Hauses, der liebenswürdigen Clara und nur ihr erklärter Bräutigam, ein junger deutscher, in New Orleans ansässiger Kaufmann, als Gast der Familie zugezogen worden.
Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen gleich in Lebensgröße vorzuführen, saß Vater Dollinger, ein etwas wohlbeleibter, aber behäbiger, stattlicher Mann, mit klaren, blauen, unendlich gutmütigen Augen und schneeweißen Locken und Augenbrauen, die aber dem edel geschnittenen Gesicht gar gut und ehrwürdig standen. Ihm zur Rechten saß seine Frau, allem Anschein nach etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre jünger als er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes Haar vielleicht auch noch sogar jünger aussehend, als sie wirklich war. Sie ebenfalls, mit ihrer stattlichen Gestalt, hatte einen leichten Anflug zu Korpulenz, aber das etwas ausgeschnittene Kleid, wie die schwere goldene Kette, Brosche und Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmückten, passten nicht ganz zu dem sonst so freundlichen, matronenhaften Äußeren.
Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die lieben treublauen Augen schauten gar so vertrauens- und unschuldsvoll hinein in die Welt, an deren Schwelle sie stand, und die ihr, wie ein eben geöffnetes, prachtvoll gebundenes Buch auf den ersten, flüchtig durchblätterten Seiten nur freundliche Blumen und ihr zulächelnde Gestalten zeigte. Kein Schmerz hatte diese engelsanften Züge noch je durchzuckt, keine Träne wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrübt. Die ganze zarte, sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frühlingsblüte im sonnigen Wald, die dem jungen Frühlingstag in Glück und Unschuld die schwellenden Lippen zum Kuss bietet, und in der blitzenden Tauperle ihres Kelches, den reinen Äther über sich, nur schöner, nur glühender zurückspiegelt.
Ihre um nur wenige Jahre ältere Schwester Sophie, die an des Vaters Seite saß, ähnelte der Schwester in mancher Hinsicht an Gestalt, aber das einfach kindliche, was Clärchen jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte ihr. Ihre Gestalt war voller, majestätischer, aber auch ihr Blick mehr kalt und stolz. »Ich bin des reichen Dollingers Kind«, lag klar und deutlich in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in den fest und entschieden blitzenden Augen. Auch ihre Kleidung, ihr Schmuck war, wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr ins Auge springend, Bewunderung fordernd.
Zwischen beiden saß Claras Bräutigam, ein junger, bildhübscher Mann in moderner, fast für einen Mann etwas zu gewählter und sorgfältig geordneter Kleidung. Er trug das Haar in natürlichen dunkelbraunen Locken, das Gesicht glatt rasiert, bis auf einen kleinen, aufmerksam gekräuselten, und nur bis zur halben Wange reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehrere sehr kostbare Diamantringe, eine Brillanttuchnadel von prachtvollem Feuer und eine schwere goldene, ebenfalls mit kleinen Edelsteinen besetzte Uhrkette.
Die Bekanntschaft Claras und ihrer Eltern hatte er dabei auf eine etwas romantische Weise, und zwar gleich als ihr Lebensretter oder doch Befreier aus einer nicht unbedeutenden Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger waren nämlich mit ihren beiden Töchtern im vorigen Herbst auf einer Rheinreise bei Rüdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel oben über Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort zu Rheinstein übersetzen zu lassen. Die Mutter hatte aber durch das nicht gewohnte Bergsteigen heftige Kopfschmerzen bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, ennuyierte sich am Land und wünschte an Bord des Dampfers zurückzukehren. Als sie gerade mit dem Kahn über den Rhein fuhren, kam ein Dampfboot stromab und hielt auf ihr Winken, sie an Bord zu nehmen. Herr und Frau Dollinger, mit Sophie, von den Kahnführern unterstützt, hatten auch schon glücklich die Treppe und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte Clara, als diese sich plötzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn vergessen zu haben. Anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, selber wieder zurücksprang, sie zu holen. Durch das Hineinspringen fing aber der schmale Kahn an zu schwanken, während sie, die vergessene kleine Tasche aufhebend, das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf voran in den Rhein stürzte. Unglücklicherweise waren gerade in dem nämlichen Augenblick die Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer eines Passagiers, der mit an Land fahren wollte, in ihren Kahn zu heben. Wenn sie jetzt auch auf das Geschrei an Bord rasch in diesen zurücksprangen, trieb doch Clara schon hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika zurückgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des Dampfers zugesehen hatte, mit keckem Mut ins Wasser sprang und die Jungfrau doch wenigstens so lange an der Oberfläche unterstützte, bis das Boot herbeikam, um sie beide aufzunehmen.
Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf. Joseph Henkel, wie der junge Mann hieß, gewann sich in den nächsten Wochen, die er in der Gesellschaft der ihm zu großen Dank verpachteten Familie zubrachte, die Achtung des Vaters und die Liebe von Mutter und Tochter. Als er zuerst bei der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten beide nicht Nein. Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht gerade Schwierigkeiten machen, doch etwas Genaueres über die Existenzmittel eines Mannes erfahren, dem er das Glück und Leben eines lieben Kindes anvertrauen sollte. Henkel selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an verschiedene Häuser in New Orleans, die ihm über seine dortige Stellung genaue Auskunft geben konnten.
Nach seinem Vermögen mochte der alte Dollinger, wenn auch Kaufmann, nicht so genau forschen. Er war selber reich genug, einen reichen Schwiegersohn entbehren zu können. Etwas Vermögen musste der junge Mann haben, dafür bürgte sein ganzes Auftreten, bürgte besonders in den Augen seiner Frau der reiche und wirklich kostbare Schmuck, den er trug. Joseph Henkel war aber auch außerdem ein interessanter und sehr gescheiter Mann, der manches in der Welt schon gesehen und erlebt hatte, und das Gesehene und Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern wusste. Er hatte die ganzen Vereinigten Staaten von Nord nach Süd und von Ost nach West durchstreift und dort teils seinen Geschäften gelebt, teils gejagt, sogar ein kleines Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den Indianern Handel zu treiben und ihnen die Produkte des Ostens gegen ihre eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden einzutauschen. Er war auch einmal von jenen wilden trotzigen Stämmen, die uns Cooper so herrlich und unübertroffen beschrieben hat, gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet worden war. Clara hatte eine ganze Nacht nicht schlafen können, nur in der Angst und Unruhe um die entsetzliche Gefahr, der sich der tollkühne Mensch damals schon ausgesetzt hatte.
Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stämmen den Umgang mit zivilisierten Menschen keineswegs verlernt zu haben und besaß ganz besonders ein fast wunderbares Geschick, sich seiner Umgebung anzupassen und sich in ihre Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als ein tüchtiger und raffinierter Kaufmann, der vorzüglich eine vortreffliche statistische Kenntnis der Union besaß, gewann er sich dabei, und gleich von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der Frau aber hatte er leicht ihre kleinen, oft liebenswürdigen Schwachheiten abgelauscht und wusste ihnen auf so geschickte Art zu begegnen, dass Frau Dollinger, mit der Rettung des geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit ganz entzückt von ihm war und sein Lob dem Gatten unaufhörlich redete. Auch mit der älteren Schwester Sophie wusste sich Henkel bald auf guten Fuß zu stellen. Er hatte bei ihr das leichteste Spiel, denn ihre Schwächen lagen offen zutage, denen aber schmeichelte er mit solcher Liebenswürdigkeit, dass ihm Clara, die es fühlte, wie er dabei aus sich herausging und etwas annahm, was ihm nicht natürlich war, oder doch jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natürlich sein sollte, dennoch nicht böse darüber werden konnte.
Desto freier, offener und natürlicher war er dafür gegen sie selber. Er las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte sie eine Menge kleiner reizender, schottischer und irischer Lieder oder plauderte mit ihr leicht und sorglos stundenlang in den Tag hinein und konnte oft so herzlich dabei lachen, dass es einem ordentlich gut tat, ihm zuzuhören. Selbst Sophie entsagte dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Teil an ihrer Fröhlichkeit zu nehmen.
Nur in den letzten Tagen war der junge Amerikaner, wie er im Haus gewöhnlich scherzhaft hieß, oder der Delaware, wie ihn Sophie, wenn sie manchmal bei recht guter Laune war, nannte, auffällig niedergeschlagen gewesen. Er hatte Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt. Auch ein Schiff, das ihm gehörte, und das nicht versichert worden war, so lange ausgeblieben, dass sein Compagnon fast den Untergang desselben befürchte. Der alte Herr Dollinger tröstete ihn deshalb. Er schien sich auch darüber hinwegzusetzen. Die sonst so blühende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht sogleich wieder dorthin zurückkehren, und das Auge hatte etwas Unsicheres, Unstetes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen.
Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald die seine zu nennen hoffte, hatte er all die trüben Gedanken, welcher Art sie auch gewesen waren, und woher sie stammten, von sich abgeschüttelt und war ganz wieder der frohe glückliche Mann, wie ihn Clara kennen und lieben gelernt hatte. Auf seinen Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz einverstanden gewesen war, war auch heute keine größere Gesellschaft geladen worden, sondern die kleine Familie speiste ganz unter sich in dem festlich mit Blumen und Girlanden geschmückten Zimmer des jungen liebenswürdigen Geburtstagkindes. Frau Dollinger hatte sich eigentlich schon länger auf eine zu diesem Zweck einzuladende, größere Gesellschaft gefreut. Herr Dollinger selber hielt aber nicht viel von solchen Festen. Dafür jedoch bedingte sie sich aus, dass sie wenigstens den Nachmittag spazieren fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewöhnlich zu Pferde begleitete.
Etwas tat aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar ein Glas Champagner trinken, und der zweite Stöpsel war eben lustig hinausgeknallt, der Gesundheit des jungen Brautpaares zu Ehren, als die Tür aufging und Loßenwerder, ein Kontordiener des Hauses, mit einem kleinen Paket ins Zimmer trat.
Loßenwerder war schon seit elf oder zwölf Jahren im Haus und seinem Äußeren nach eben keine angenehme Persönlichkeit. Er hinkte auf dem linken Bein, das er als Kind einmal gebrochen hatte, war überhaupt hässlicher und magerer Natur, und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst gerade nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. Das Störendste aber an dem ganzen Menschen war sein Stottern, wegen dem man sich auf ein längeres Gespräch gar nicht mit ihm einlassen konnte. Kam er einmal in Affekt, konnte er kein Wort mehr herausbringen. Sowohl Frau Dollinger als auch Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die Letztere behauptete sogar, er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz ordentlich, wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hören, als er es jedes Mal affektiere, wenn er zu ihnen in die Wohnung komme. Clara aber hatte Mitleid mit dem armen Menschen, den sie seines Unglücks wegen innig bedauerte, schenkte ihm oft eine Kleinigkeit und spottete nie über ihn, während Herr Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, der noch außerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und sehr zufrieden mit ihm war, ihm auch jedes nur mögliche Vertrauen bewies.
»Hallo, Loßenwerder, was bringst du mir da ins Haus?«, rief ihm sein Prinzipal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, als der kleine Mann das Zimmer betrat und schüchtern an der Tür stehen blieb. »Ist das für mich oder meine Tochter?«
»Gewiss für mich, Väterchen«, rief Clara, rasch von ihrem Sitz aufspringend. »Siehst du, der Onkel hat mich doch nicht ganz vergessen mit meinem Fest und mir Gruß und Geschenk geschickt.«
»Hehehe … mö … mö … möchten es sich wo … wo … wo … wo .. wohl wü … n … nschen Fräulein«, gab aber der Stotternde lachend von sich, indem er Herrn Dollinger zuwinkte, dass das Paket für ihn sei. »Ka … ka … ka … kann ich mir de … de … de … de … denken … Go … go … gold und Ba … ba … ba … ba … bank … no … noten.« Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn übergab.
»Hm, hm, hm«, sagte aber dieser kopfschüttelnd, »und das bringst du mir jetzt ins Haus, gerade wo ich ausfahren will. Warum hast du es denn nicht dem Kassierer gegeben?«
»Ni … ni … nirgends zu fi … fi … fi … finden«, stotterte Loßenwerder.
Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flüchtig durchfliegend, herüber und hinüber, sagte dann aber, aufstehend und das Papier vor sich hinlegend: »Ja, da lässt sich denn weiter nichts ändern. Gib mir das Paket, Loßenwerder, und sieh dann zu, dass du Herrn Reibich findest. Ich lasse ihn bitten, um sieben oder halb acht Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu mir zu kommen. Verstanden?«
»Ja … ja … jawohl He … he … he … herr Do … do … do … Do …«
»Schon gut«, sagte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, »und hier, Loßenwerder, magst du auch einmal ein Glas auf das Wohl meiner Tochter trinken. Fräulein Claras Geburtstag ist heute – hier Clara, reich es dem jungen Herrn.« Er füllte dabei ein Wasserglas bis zum Rand voll von dem funkelnden, schäumenden Nass. Während Clara mit freundlichem Lächeln dem armen Teufel das Glas kredenzte, nahm Herr Dollinger das Paket mit Geld, ging zu dem nahen Sekretär, in dem der Schlüssel steckte, öffnete ihn, legte das Geld hinein, zog dann den Schlüssel ab und sagte, diesen der Tochter überreichend: »So Kinder, heute müsst ihr einmal auf ein paar Stunden mein Kassierer sein, bis der andere aufgefunden werden kann.«
Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loßenwerder, der das volle Glas in der Hand hielt und auf einmal ganz blutrot im Gesicht geworden war, hob es empor und rief stotternd: »Fr … re, re, re, re, re, räu … le … le … lein Cla … ra … ra … ra … ra … aus ga … ga … ganzem He … he … he … he … he … he … her … ze … ze … zen.«
Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, setzte er das Glas an, und der Wein verschwand wie durch Zauberei.
»Alle Wetter«, gab Herr Dollinger lachend von sich, der sich gerade nach ihm umdrehte. »Loßenwerder hat einen vortrefflichen Zug! Nun? Hat’s geschmeckt?«
»Gu … gut Herr Do … do … do … do … do.«
»Genug, genug« winkte ihm der Prinzipal wieder ab, »also bestell mir das ordentlich.«
Loßenwerder, derart entlassen, und vielleicht froh, aus einer Umgebung zu kommen, in der er sich nicht heimisch fühlen konnte, setzte das Glas auf einen Seitentisch ab, machte eine etwas linkische Verbeugung, und wohl wissend, dass er zu einem ordentlichen Dank doch keine Zeit mehr übrig hatte, empfahl er sich, ohne weiter auch nur einen Versuch zu mündlichem Abschied zu machen.
»Eine unangenehme Persönlichkeit«, sagte Frau Dollinger zu ihrem Schwiegersohn in spe, als der Mann noch die Tür nicht einmal ordentlich hinter sich geschlossen hatte. »Ich kann mir nicht helfen, auf mich macht der Mensch immer einen fatalen Eindruck.«
»Wie … wie befehlen Sie, meine Gnädige?«, sagte der junge Henkel etwas zerstreut. Sophie bog sich in diesem Augenblick zu ihm nieder und flüsterte ihm ein paar Worte zu.
»Er kann ja doch nichts für seine Gebrechen«, nahm Clara aber die Antwort auf, »und tut gewiss alles in seinen Kräften, sie eben durch gutes Betragen vergessen zu machen.«
»Papa, ich würde das Geld auch nicht so offen in dem Sekretär da liegen lassen«, sagte Sophie.
»Nicht so offen? Ich habe ja zugeschlossen …«
»Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute wissen, wo man Geld liegen hat«, stimmte die Mutter bei.
»Dienstleute?«, meinte Herr Dollinger. »Es war ja niemand von ihnen im Zimmer …«
»Doch, Loßenwerder?«
»Bah«, lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schüttelnd.
»Ist es denn viel?«, frug seine Frau.
»Nun, der Mühe wert wäre es immer«, sagte Herr Dollinger, »fünftausend Taler etwa. Es soll aber auch nicht über Nacht da liegen bleiben, und Loßenwerder hat mir auf heute Abend den Kassierer zu bestellen, das Geld an einen sicheren Ort zu legen, bis ich morgen darüber verfügt habe.«
»Der Loßenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, solange er im Zimmer war«, sagte die Mutter, mit dem Finger vor sich hindrohend.
»Lieber Gott, Mütterchen, du weißt ja aber doch, dass er schielt«, verteidigte ihn lachend Clara. »Ebenso fest und unverwandt hat er mich indessen mit dem anderen Auge angesehen. Seine Schuld ist es nicht, dass er zwei Stellen auf einmal im Blick behalten muss.«
»Lasst mir den armen Teufel zufrieden«, sagte aber auch Herr Dollinger, »der ist mir nützlicher wie zwei von meinen anderen Leuten; mehr zum Nutzen wie Staat freilich, aber Staat will er auch nicht machen. Jetzt übrigens, Kinder, wird es Zeit, dass wir uns rüsten, und Henkel, Sie müssen noch Ihr Pferd holen lassen.«
»Ich habe es schon, in der Voraussetzung, dass wir bei dem schönen Wetter doch wohl eine kleine Partie machen würden, hierher bestellt«, erwiderte rasch der junge Mann. »wünschen Sie den Wagen jetzt?«
»Ich glaube ja, je eher, desto besser. Die Tage sind kurz, und wenn wir noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, dürfen wir nicht mehr viel länger warten.«
»Aber ihr Mädchen möchtet euch ein wenig warm einpacken«, sagte jetzt die Mutter, alles andere in dem Gedanken an ihre Toilette vergessend. »Zum still im Wagen sitzen passt ein Sommerkleid noch nicht, und heute Abend wird es kühl werden.«
»Und nicht so lange machen«, mahnte der Vater, der sich sein Glas noch einmal vollschenkte und leerte. »Der Wagen wird im Augenblick da sein.«
Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten später vor. Herr Dollinger, der nun seinen Hut und Stock aufgenommen hatte, ging, seine Handschuhe anziehend, im Hof auf und nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr kurzer Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen.
»Nun, wo ist Henkel?«, sagte Herr Dollinger, sich nach seinem zukünftigen Schwiegersohn umschauend, »ich habe sein Pferd auch noch nicht gesehen. Jetzt wird uns der warten lassen.«
Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, und der alte Herr schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, als der junge Henkel zum Tor, aber ohne Pferd, hereinkam.
»Nun? Sie sitzen noch nicht im Sattel?«, rief er ihm schon von Weitem entgegen, »das ist eine schöne Geschichte. Jetzt dürfen wir den Frauen nie im Leben wieder vorwerfen, dass sie uns warten lassen.«
»Ich muss tausend Mal um Entschuldigung bitten«, sagte der junge Mann, zum Wagen hinantretend, »aber mein Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn Sie mir erlauben, schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es ist nicht weit von hier. Aber tun Sie mir die Liebe und fahren Sie langsam voraus, ich hole Sie in der Zeit von zehn Minuten ein.«
»Wir können ja hier warten«, sagte die Mutter.
»Ja, wenn die Pferde stehen wollten«, brummte Herr Dollinger. »Zieh nicht so fest in die Zügel, Johann, das Handpferd kann das nicht vertragen und wird nur noch immer unruhiger. Wir wollen langsam vorausfahren. Machen Sie aber, dass Sie nachkommen. Auf dem Balkon vom roten Drachen trinken wir Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht. Der Stalljunge mag hinüberlaufen und Ihnen das Pferd holen.«
Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel musste aus dem Weg springen und verbeugte sich leicht gegen die Damen, von denen ihm Clara freundlich lächelnd zunickte.
Eine starke Viertelstunde später sprengte der junge Amerikaner, seinem Tier die Sporen gebend, dass es Funken und Kies hinten hinaus stob, über das Pflaster, zum Entsetzen der Fußgänger dahin, dem Wagen nach, den er nur erst eine kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. Im Stall wollte niemand etwas davon gewusst haben, dass er sein Pferd bestellt gehabt hatte. Einer schob die Vergessenheit natürlich auf den anderen, und Dollingers Stallknecht musste die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er das Pferd bekam. Deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben zurückkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am Haus liegenden Garten auf und ab, sprang aber dann, dem Burschen ein Trinkgeld zuwerfend und dessen Entschuldigung nur halb hörend, rasch in den Sattel und flog, wie vorher erwähnt, en carrière die Straße nieder.
Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen großen, wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie scheu, dass ihn niemand gewahre, über den Hof und in die Hintertür des Hauses schlich, und sich leise und geräuschlos die Treppe damit hinauf stahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus derselben Tür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht aus der Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter der Tür stehen und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht verlassen wollte, vorn zur Haustür hinaus auf die Straße, den Weg zu seiner Wohnung einschlagend.