Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 2 – Teil 1
Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.
Zweiter Teil
Kapitel 2 Teil 1
Der Forsthüter Fargeot
Am Morgen desselben Tages war Leonce munter und ohne Fieber in dem Zimmer erwacht, welches er in Mercoire bewohnte. Infolge der sorgsamen Pflege, welche er von den Leuten des Hauses und ganz besonders von der würdigen Nonne erfuhr, war seine Wunde auf dem besten Wege zur Heilung, und mit Ausnahme der Schwäche, welche eine Folge des Blutverlustes war, schien er kaum noch etwas davon zu fühlen.
Wenn aber auch der Körper sich in einem befriedigenden Zustand befand, so war dagegen der Geist durchaus nicht ruhig. Die Neuheit der Lage, die Mitteilungen seines Onkels und mehr als dies alles, gewisse frische Erinnerungen erhielten den jungen Mann in fortwährender Aufregung.
Zuweilen verhielt er sich schweigsam und träumerisch, dann überhäufte er seinen Krankenwärter mit anscheinend gleichgültigen Fragen, die aber einen verborgenen Zweck haben mussten.
Vielleicht war dieser Zweck für den Prior und für die Schwester Magloire selbst kein Geheimnis, denn sie wechselten bei jeder ein wenig zu direkten Frage Leonces verstohlene Blicke des Einverständnisses.
Der junge Mann bemerkte dies und seine Aufregung stieg dadurch nur um so höher. Es dauerte nicht lange, so sprach er davon, dass er aufstehen, in den Salon hinuntergehen und an der Jagd teilnehmen wolle.
Vergebens stellte man ihm vor, wie gefährlich jede Bewegung sein würde, ehe noch seine Wunde ordentlich vernarbt wäre. Er wollte nicht darauf hören.
Um ihn daher zu beruhigen, musste man ihm gestatten, dass er sich ankleide, obwohl dies nur unter der Bedingung geschah, dass er das Zimmer nicht verlassen, sondern in einem Sessel am Fenster sitzen bleiben würde, von welchem man die Aussicht auf den großen Hof des Schlosses hatte.
Man nahm aus Leonces Mantelsack andere Kleider, weil die, welche er getragen hatte, durch das Ereignis im Wald zu sehr gelitten hatten.
Der gute Prior ließ es sich nicht nehmen, an seinem Pflegesohn die Dienste eines Kammerdieners zu verrichten. Als der junge Mann angekleidet war, als Schwester Magloire seinen kranken Arm in eine Binde gelegt hatte, setzte man ihn an das Fenster und er schien Vergnügen daran zu finden, die Menge zu betrachten, welche in dem Hof unaufhörlich ging und kam.
Der Pater Bonaventura und Schwester Magloire benutzten diesen Augenblick, um in den Salon hinabzugehen, wo andere dringende Pflichten ihre Anwesenheit nötig machten. Sie ließen Leonce ruhig seine Beobachtungen fortsetzen.
Als der Prior eine Stunde später allein wieder hinaufkam, ging sein Neffe, der seinen Sessel verlassen hatte, mit geröteten Wangen und in außerordentlicher Gemütsbewegung in dem Zimmer auf und ab.
Leonce lief, als er ihn sah, auf ihn zu und sagte mit erstickter Stimme: »Mein Onkel, mein guter Onkel, ich beschwöre Euch, führt mich fort von hier! Ich bin jetzt wieder wohl auf, ich werde wieder reisen können. O, ich bitte Euch, lasst mich nicht länger in diesem Haus, wenn Ihr nicht wollt, dass ich vor Wut und Kummer hier sterbe!« Er brach in Tränen aus.
Der Pater Bonaventura, der durch diesen unerwarteten Ausbruch ebenso überrascht wie betrübt wurde, nötigte Leonce, seinen Platz wieder einzunehmen.
»Was ist denn geschehen, mein Kind?«, fragte er in gütigem Ton. »Du warst ja vorhin so ruhig! Woher kommt dir dieser so heftige und plötzliche Entschluss?«
Der junge Mann öffnete den Mund, als ob er ein Geständnis ablegen wollte, aber ein geheimes Gefühl hielt ihn zurück und er senkte schluchzend den Kopf.
Der Prior setzte sich neben ihn. »Wohlan, Leonce«, fuhr er fort, »sprich dich freimütig aus. Hast du kein Vertrauen mehr zu mir, deinem Vater, deinen besten Freund? Was ist dir begegnet? Wer hat denn während meiner Abwesenheit mit dir gesprochen?«
»Niemand, mein Onkel.«
»Nun, was hast du denn also durch dieses Fenster gesehen, was dich so trostlos gemacht hat?«
»Nichts, nichts, mein Onkel, ich versichere es Euch.«
Der Vater Bonaventura heftete einen zugleich wohlwollenden und forschenden Blick auf ihn.
Leonce ertrug diese Prüfung mit sichtbarer Befangenheit.
»Gut! Jetzt weiß ich es«, hob endlich der Mönch lächelnd an, »wahrscheinlich hast du diese junge Törin, Fräulein von Barjac, mit dem Baron von Laroche-Boisseau fortreiten gesehen und bist über die anscheinende Vertraulichkeit empört, welche zwischen ihnen herrschte. Ist es nicht so?«
»Und warum sollte ich erstaunt oder betrübt über das sein, was die Dame dieses Schlosses tut?«, fragte Leonce in trockenem Ton und ohne die Augen aufzuschlagen. »Was geht es mich an, wenn es Fräulein von Barjac beliebt, zu kokettieren, und wenn sie in Begleitung eines solchen Wüstlings, wie der Baron sein soll, im Wald herumstreicht? Dennoch aber, mein Onkel«, fuhr er in verändertem Ton fort, »sollte die Mündel der Abtei Frontenac sich nicht mit dieser sie kompromittierenden Leichtfertigkeit betragen. Besitzt Ihr nicht volle Autorität über dieses unkluge, junge Mädchen bis zur Zeit ihrer Verheiratung? Und könnt Ihr zugeben …«
»Mein lieber Sohn«, unterbrach ihn der Prior in sanftem Ton, »vergiss nicht, dass diese arme Christine nicht nach der gewöhnlichen Regel beurteilt werden darf. Sie beging gestern Abend eine noch weit größere Unangemessenheit, als sie dich trotz des kaum verhehlten Lächelns aller Bewohner des Schlosses in ihren Armen forttrug, und es ist dir nicht eingefallen, dich darüber zu beklagen. Fräulein von Barjac ist ein rechtschaffenes Mädchen und besitzt Energie genug, um jedem Respekt zu lehren, der denselben aus den Augen setzen sollte.«
»Glaubt Ihr das, mein Onkel? Vergesst Ihr denn die Drohungen, welche der Baron erst gestern an Euch richtete, als er Euch sagte, dass er Euch und der ganzen Welt zum Trotz Fräulein von Barjac nötigen wolle, ihn zu lieben? Hat er Euch nicht offen herausgefordert, es zu verhindern? Und er hatte recht, mein hochwürdiger Vater – ja, er hatte recht, denn sie liebt ihn schon. Sie liebt ihn, das versichere ich Euch. Ich sehe es an dem liebkosenden Blick, welchen sie ihm soeben zuwarf – hier unter meinem Fenster. Ich sehe dies an dem Stolz und der Freude, die sich in den Zügen dieses insolenten Edelmannes malte!«
Indem er seine Hand an die Stirn legte, ließ er abermals seinen Tränen freien Lauf. Der Mönch schien zwischen nachsichtigem Mitleid und Gefühlen ganz anderer Art zu schwanken.
»Na, mein lieber Leonce«, hob er in verlegenem Ton wieder an, »klage nicht so. Wie du eben selbst fragtest, was geht dich das Benehmen des Fräuleins von Barjac an? Doch nein«, setzte er sofort sich verbessernd hinzu, »es geht dich viel an, das weiß ich gewiss, und du bestimmst mich, dir Dinge mitzuteilen, über welche ich vielleicht noch schweigen sollte. Lass den Mut nicht sinken. Wie unerfahren ich in solchen Dingen auch sein mag, so glaube ich doch, dass Fräulein von Barjac den Baron von Laroche-Boisseau nicht liebt.«
Er schwieg. Leonce war sehr überrascht und seine Tränen trockneten sofort.
»Mein Onkel«, rief er, während sein Herz gewaltig klopfte, »ich beschwöre Euch – erklärt Euch näher.«
»Ich kann mich nicht weiter erklären«, entgegnete der Prior, »ich sage dir bloß nochmals, dass trotz des frivolen Anscheins Fräulein von Barjac den Herrn von Laroche-Boisseau nicht liebt und dass, wenn sie ihn auch liebte, der abscheuliche Lebenswandel des Barons, der schlimme Zustand seines Vermögens und ganz besonders seine Religion zwischen ihm und ihr eine unübersteigbare Schranke aufrichten würden. Nein, niemals wird unsere schöne und reiche Mündel die Beute eines solchen Mannes werden. Ist einmal dieser Bewerber beseitigt, so steht die Bahn allen anderen Bewerbungen offen – dafern sie nämlich vernünftig sind.«
»Und würdet Ihr«, fragte Leonce kaum atmend, »zu diesen vernünftigen Bewerbungen auch die eines armen Knaben ohne Herkunft und fremd in der Welt zählen, welchen es wagte, seine Augen zu dieser reichen und vornehmen Erbin zu erheben?«
»Warum nicht, Leonce?«, fragte der Pater Bonaventura ruhig.
Der junge Mann schlang seinen Arm um den Hals des Priors.
»Wäre es möglich, mein Freund, mein Wohltäter, mein Vater?«, rief er entzückt. »Seid Ihr, der Ihr stets so klug und weise seid, seid Ihr es wirklich, der mit mir so spricht? Es ist mir seit gestern, ich weiß selbst nicht warum, der Gedanke gekommen, dass meine Liebe kein Geheimnis für Euch sei und dass Ihr vielleicht ohne Zorn sie habt entstehen sehen. Mein Onkel, sagt mir die Wahrheit, was soll ich hoffen? Was soll ich glauben? Könnte ich in der Tat ohne Tollkühnheit nach der Hand dieser reizenden Christine trachten?«
»Ja, Leonce«, entgegnete der Mönch, von seinem Gefühl hingerissen. »Du hast bis jetzt meine halben Worte und meine Zurückhaltung nicht verstehen wollen, da du mich aber in dieser Beziehung drängst, so wisse denn: Es ist von meinem Neffen bis zur einzigen Tochter und Erbin des Grafen von Barjac nicht gar so weit.«
»Es ist also wahr? Ihr, mein Onkel, Ihr ermutigt mich selbst in diesen so gewagten, so kecken Hoffnungen?«
»Mache dir keine Illusionen, mein Sohn«, entgegnete der Prior, indem er den Kopf schüttelte, »und noch einmal sage ich dir: Hüte dich, zu schnell und zu weit zu gehen. Alles wird von gewissen Ereignissen und von dem Willen, ganz besonders von den Launen des Fräuleins Christine abhängen. In der Tat können wir allerdings unsere unlenksame Mündel verhindern, eine schlimme Wahl zu treffen, aber es steht uns nicht zu, ihr die Wahl aufzunötigen, die wir getroffen haben. An denen, welche sich ihrer würdig glauben, ist es, ihr Gefühle der Achtung und Zuneigung einzuflößen. Wenn ich es gestehen soll, so hast du, Leonce, nach meiner Meinung mehr Aussicht auf Erfolg als irgendjemand.«
»Auf diese einzige Hoffnung hin bin ich bereit, mein Onkel, meine ganze Zukunft, mein Glück aufs Spiel zu setzen. Ich hatte geglaubt, Fräulein von Barjac empfände beinahe Abneigung gegen mich und ich dachte – aber ohne Zweifel habe ich mich geirrt. Ich verlasse mich auf Euch, denn ich weiß, dass Ihr mich weder täuschen wollt noch täuschen könnt. O Christine! Es ist mir also erlaubt, dich ohne Furcht und ohne Reue zu lieben!«
Der Prior versuchte mit seiner salbungsvollen, überredenden Stimme den jungen Mann zu einem größeren Grad von Maß und Zurückhaltung in seinen Gedanken zurückzuführen. Er zeigte ihm, wenn auch noch in unbestimmter Weise, dass viele Schwierigkeiten sich der Verwirklichung seiner Wünsche in den Weg stellen könnten.
Leonce hörte kaum darauf. Das neue Licht, welches seine naive Liebe beleuchtete, berauschte ihn nach so langer Dunkelheit und so vielen geheimen Befürchtungen und Qualen.
Sein Onkel begann daher ihn die möglichen Folgen dieser Leidenschaft auf ruhigere Weise betrachten zu lassen, als leise an die Tür gepocht wurde und Schwester Magloire zu Leonces großem Bedauern das Gespräch unterbrach.
Die Nonne sah befangen und verlegen aus.
»Mein ehrwürdiger Vater«, sagte sie mit beinahe leiser Stimme, »Fargeot sieht unten, jener ehemalige Untertan von Varinas, den Ihr zum Oberforsthüter von Mercoire ernannt habt. Er hätte eigentlich mit den anderen der Treibjagd beiwohnen sollen, aber er hat sich davon dispensiert, weil er mit Euch über eine Angelegenheit sprechen will, welche, wie er sagt, außerordentlich dringend ist. Vergebens habe ich ihm vorgestellt, dass Ihr mit Beschäftigungen überhäuft seid, dass Ihr Rechnungen durchzusehen hättet und dass die Krankheit Eures Neffen alle Eure Augenblicke in Anspruch nähme. Er wollte nichts davon hören und nahm gegen mich einen fast drohenden Ton an. Dadurch schüchterte er mich dermaßen ein, dass ich nicht umhin konnte, ihn in das kleine gelbe Zimmer zu führen, wo er Euch erwartet.«
»Ihr habt wohl daran getan, meine Schweißer«, entgegnete der Prior, indem er sich eilig erhob. »Es ist in der Tat notwendig, dass ich Fargeot spreche. Sagt ihm, er solle nicht ungeduldig werden. Ich würde sogleich hinunterkommen.«
Schwester Magloire schien sich sehr über die Nachgiebigkeit zu wundern, welche der einflussreiche Würdenträger von Frontenac einem Forsthüter gegenüber zeigte, doch machte sie keine Bemerkung, sondern verneigte sich tief und verließ das Zimmer, um die Befehle des Paters auszuführen.
Dieser blieb mit gedankenvoller Miene stehen.
»Leonce«, hob er wieder an, »ich sagte, dass noch viele Hindernisse sich der Ausführung unserer Pläne entgegenstellten. Hier ist vielleicht ein neues, auf welches ich nicht gerechnet hatte. Beeile dich daher nicht, dich übertriebenen Hoffnungen hinzugeben. Das Werk deines Glückes wird vielleicht ein sehr mühsames sein, aber dennoch Mut! Setzen wir unser Vertrauen auf Gott.«
Er verließ mit sichtbarer Eingenommenheit seiner Gedanken das Zimmer. Leonce überließ sich, als er allein war, noch einige Augenblicke lang seinen lachenden Ideen, trotz der beunruhigenden Warnung des Priors. Dann begann er wieder durch das Fenster zu schauen. Der Hof war aber jetzt leer und das Schloss selbst schien ihm verlassen zu sein. Eine fieberhafte Ungeduld bemächtigte sich seiner.
»Sie kommt nicht wieder«, murmelte er. »Wo kann sie sein? Ohne Zweifel bei dem Baron, der sie mit Komplimenten und Schmeicheleien betäubt. Wenn mein Onkel die Gesinnungen des Fräuleins von Barjac gegen diesen stolzen Wüstling dennoch falsch beurteilt haben sollte! Der Prior ist ein Mann von Weisheit und Erfahrung, aber ich zweifle, dass er in einer solchen Sache – wenn es wahr wäre!«
Er ging mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab. »Wohlan«, fuhr er wie von einer Idee betroffen fort, »warum soll ich nicht selbst beurteilen, was vorgeht? Ich bin wohlauf – alle meine Kräfte sind zurückgekehrt. Es wird mir leicht sein, mich, ohne bemerkt zu werden, dieser schönen und launenhaften Christine zu nähern! Ja, ja! Das ist der rechte Weg – gehen wir. Mein Onkel wird nicht sobald wieder heraufkommen, und übrigens, wenn er mich nicht wiederfindet, so wird er ganz gewiss erraten, wo ich sein kann. Ich will diese teure Christine wiedersehen, welche es mir endlich erlaubt ist zu lieben.«
Er ging die große Treppe hinunter, ohne jemanden zu begegnen, und erreichte den inneren Hof, welcher als Reitbahn diente. Von dieser Seite stand das in den Wald führende Gitter zur Bequemlichkeit der Jäger weit geöffnet. Leonce eilte vor Ungeduld und Freude, vielleicht auch vor Eifersucht zitternd, rasch in den Wald hinein.