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Anne Boleyn Band 1 – Kapitel 1

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Erster Band

1.

Anne Boleyn – Mary Tudor

Es war ein schöner, warmer Septembertag im Jahr 1514. Eine fröhliche Gesellschaft hatte die alten ehrwürdigen Räume des Schlosses Hever1 belebt, heitere, frische jugendliche Stimmen hatten im Gesang und in harmlosen Scherzen sich darin vernehmen lassen. Die Gesellschaft galt der ältesten Tochter des Sir Boleyn. Man feierte zugleich deren Ernennung zum Ehrenfräulein der Prinzessin Mary von England und den Abschied von den Freunden der Kindheit und Jugend.

Die übrigen Gäste haben sich entfernt. Nur die vertrautesten Freunde Annes, Henry Wyatt, ein Jüngling von achtzehn Jahren, dessen jugendliche poetische Geistesprodukte bereits den Stern ahnen ließen, der einst England schmücken sollte, sowie dessen Schwester waren zurückgeblieben und weilten mit den Geschwistern Annes, Georg und Mary, in traulichen Gesprächen auf dem steinernen Altan.

Die jungen, lebensfrischen Gesichter zeigten nicht mehr die Heiterkeit, welche sie den Tag über zur Schau getragen hatten. Alle waren ernst und wehmütig gestimmt und fühlten, dass eine neue Epoche in ihren freundschaftlichen Beziehungen begonnen hatte. Wyatts Vater war der nächste Gutsbesitzer der Boleyns. Von Kindheit an hatte eine innige Freundschaft zwischen beiden Familien geherrscht, waren von den Eltern schöne Pläne mit der Vereinigung der Kinder Henry und Anne geschmiedet worden.

Anne selbst hatte die Freude über die Gewährung ihres Wunsches vergessen; sie sprach nicht mehr jubelnd von ihrer bevorstehenden Reise nach Paris noch von dem Glanz des Hoflebens.

Das vierzehnjährige Mädchen, obwohl sie bereits im Schloss eine kleine Dame darstellte und durch ihre reichen Kenntnisse weit über ihr Alter geistig gereift schien, war dennoch im Herzen ein Kind. Nicht ohne Schmerz und Wehmut trennte sie sich von ihrer Freundin, von der lieblichen jüngeren Schwester Mary – aber am schwersten wurde ihr der Abschied von Wyatt, dem feurigen, lebendigen jugendlichen Verehrer.

Die alte Gouvernante, die Erzieherin der mutterlosen Boleyn’schen Kinder, unterbrach die freundschaftlichen Ergießungen, die Versprechungen und den Jammer. »Es ist bereits zehn Uhr, meine Kinder«, ermahnte sie ängstlich. »Der Diener fürchtet, Sir Wyatt möchte Euch längst erwarten.«

»O, nicht doch!«, rief Henry, indem er aufstand, »es ist ja eine mondhelle Nacht, da gibt es keine Gefahr.«

»Wir wollen doch aufbrechen«, sagte seine Schwester mit weicher Stimme. »Geschieden muss einmal sein.«

»Ach ja! Und wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen, Anne«, sagte Mary.

»O bald!«, entgegnete Anna mit einer Träne in den schönen dunklen Augen. »Mit dem Vater kehre ich wieder zurück, sobald die Vermählung der Prinzessin mit dem König vorüber sein wird.«

»Dann wirst du genug zu erzählen haben«, entgegnete der ältere Bruder neckisch. »Und wir müssen uns wohl dann sehr demütig der Ehrendame gegenüber benehmen.«

»Geh doch! Du schwatzt wieder Unsinn«, rief Anne. »Als ob die Ehrenfräulein mit dem Kleid andere Menschen würden!«

»Oft ist das der Fall, Anne«, warf Wyatt mit ernster Miene ein. »Am Hof darf man nicht scheinen, wie man ist, sondern gerade ebenso, wie die Etikette es vorschreibt. Ich trage kein Verlangen, in jene Regionen einzudringen. Ich ziehe unsere schöne Natur dem Königssaal und unser freies, frisches Landleben allen steifen Festen dort vor.«

»Ei nun, man kann ja beides haben«, meinte Anne. »Es ist auch schön, wenn man fremde Länder und fremdes Leben kennenlernt, auch nützlich. Ich freue mich doch eigentlich darauf, nun die reizende Prinzessin, meine Herrin, zu sehen.

»Die Arme dauert mich«, sagte Georg teilnehmend. »Wenn es wahr ist, was man sich am Hofe zuraunt, dass diese Staatsverbindung mit dem abgelebten Franzosenkönig ihr das Herz bricht.«

»Wieso?«, fragten die Mädchen zugleich.

»Nun, sie soll einen anderen lieben, einen englischen Edelmann, und dieser sie gern geheiratet haben.«

»Und warum tut sie es nicht?«

»Weil der König wünscht – das heißt befiehlt,- dass sie Ludwig heiratet«, erwiderte Georg kurz.

»Da wird sie denn wohl gehorchen«, sagte Mary Boleyn schüchtern. »Ach, das muss gar schwerfallen!«

»Ja, bitter schwer«, sagte Wyatt mit einem trüben, wehmütigen Blick auf Anne. »Es kann wohl im Leben keinen herberen Schmerz geben als eine unglückliche Liebe.«

»In diesen Fall werde ich nie kommen«, sagte Anne mit Entschiedenheit, »denn ich ließe mich nicht zwingen, jemand gegen meinen Willen zum Gemahl zu nehmen.«

»Dann darfst du nicht lange am Hofe König Heinrichs weilen«, antwortete Wyatt, dessen schönes offenes Antlitz bei diesen Worten eine leichte Röte färbte.

»Bah! Henry«, rief Anne lächelnd aus, »ich bin noch ein halbes Kind! Aber hört einmal, da die Nacht so hell ist, schlage ich vor, Euch beide eine Strecke Weges zu begleiten. Was meinst du dazu, Georg?«

»Ganz einverstanden. Ist ein treulicher Gedanke.«

»Wir gehen durch den Park«, sagte Wyatt, »bis an die Markung. Der Diener kann mit den Pferden nachkommen.«

Hand in Hand verließen die Freunde bald hierauf das Schloss. Wyatt führte Anne, Georg die beiden anderen Mädchen, mit denen er voranschritt. Als sie eine kleine Anhöhe erreichten, von deren Spitze sich ein schöner Blick auf die umliegenden Orte eröffnete, blieben Wyatt und Anne unwillkürlich stehen. Es war das Bild des tiefsten Friedens und der Ruhe.

»Wie schön!«, sagte Anne leise und mit bewegter Stimme.

»Ja, die Natur bleibt ewig schön«, sagte Wyatt, »Gott hat sie rein erschaffen. Nur wir Menschen mit unserem rastlosen Sinnen und Treiben entweihen den erhabenen Frieden derselben.«

»In diesem Augenblick möchte ich wünschen, diese Stille nie zu verlassen«, erwiderte Anne gedankenvoll, »und doch … doch glaube ich fast, Henry, dass ich zu den unruhigen, rastlosen Menschen gehöre, von denen du sprichst … denn es treibt mich mit unsichtbarer Gewalt fort … und hinaus in die große Welt.«

»Und was erwartest du dort?«

»Ich weiß dir keine Antwort, Henry. Ich erwarte nichts, aber ich suche etwas, einen namenlosen Schatz, ein Glück, für das ich keinen Namen kenne. Ach! Wenn wir mit unserem Auge in die Zukunft schauen und unser Schicksal ergründen könnten, das von der Geburt an einem jeden über den Wolken bestimmt ist! Mich erfasst oft ein namenloses Weh, als ob mir ein düsteres Schicksal zuteilwerde.«

»Der Mensch ist der Schöpfer und der Herr seines eigenen Schicksals«, sagte Wyatt. »Mäßige den rastlosen Geist, liebe Anne, versuche Frieden in deiner Nähe zu verbreiten, dann wirst du ihn auch selbst finden. Es gibt, neben der erfüllten Pflicht, für das Weib nur ein wahres Glück auf Erden – eine reine Liebe und der Besitz eines reinen Herzens!«

»Ich glaube … ich werde nie lieben«, sagte Anne errötend, »und noch weniger einen Gemahl glücklich machen. Wollte Gott, ich wäre so sanft und fromm wie meine süße Schwester.«

»Die Stunde wird auch für dich anbrechen, liebe Anne, wo du fühlst, was Liebe ist und vermag; denn die Blume blüht für einen jeden auf dieser Erde, ob kurz oder lang. Du wirst sie aber nicht am Hof finden, die Blume der reinen Liebe; sie gedeiht nur im Boden einer unverdorbenen Seele. Was die Menschen gewöhnlich Liebe nennen, ist nur ein Sinnenwahn. O, Anne, bliebest du bei uns, hier, wo dich alles liebt! Mir bangt für dich, du junges wildes Heideröschen!« Er drückte zärtlich ihre feine Hand an seine Lippen und schaute ihr tief in die Augen, dass das Mädchen sich errötend abwandte.

»Henry, hüte dich vor den Dornen, die an der Rose haften«, sprach sie weich. »Bete oft für mich – und vergiss mich nicht. Du wirst finden, dass ich ebenso treu dir in der Ferne bleibe.«

»Ob nah oder fern, Anne«, erwiderte der Jüngling mit schwärmerischer Begeisterung, »du bleibst der Stern, der meinem Herzen leuchtet, und der Strahl, der meine Poesie durchglüht. Möge dein Schicksal sich trüb oder froh gestalten – der Freund bleibt dir mit unwandelbarer Liebe. Ziehe hin mit Gott – und mögen alle heiligen Geister dein liebes Haupt beschirmen. Jetzt zum Abschied – noch den letzten Kuss.«

Er schlang seinen Arm um sie und drückte lebhaft seine Lippen auf die jungfräuliche Stirn. Dann machte er sich sanft, obwohl widerstrebend, von ihr los und ging allein den anderen nach, welche seiner harrten.

Anne setzte sich gedankenvoll unter den großen Eichbaum und blickte der schlanken Gestalt nach. Dann bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich. Flog eine düstere Ahnung in diesem Augenblick durch ihre bewegte Seele, flüsterte ihr ein verwandter Engel zu, dass in Henry Wyatt ihr guter irdischer Genius von ihr schied? Oder empfand das bisher unbefangene Herz zum ersten Mal den Dorn, der an der Rose der Liebe hängt?

Die Ankunft der Geschwister schreckte sie aus ihren Träumen auf. Teilnehmend nahm Georg ihre Hand in die seine, weinend ging Mary neben ihm her.

Stillschweigend legten sie den kurzen Weg zum Schloss zurück, wo die Gouvernante sie besorgt empfing.

Auf ihre Bitten trennte man sich für die Nacht, denn Anne sollte mit ihrem Vater am nächsten Morgen nach London reisen.

Die Schwestern teilten nach der damaligen Sitte ein gemeinsames Lager. Mary war untröstlich über die Trennung, und Anne hatte diesmal kein erheiterndes Wort für die Geliebte.

Auch ihr Herz war bang bewegt, erloschen jede kindische Freude, jeder frohe Blick in die Zukunft. Sie dachte nicht mehr an die reichen Kleider, die für sie bereitlagen, noch an den Schmuck, der ihre dunklen Haare zieren sollte. Sie sah nur in Wyatts liebestrahlenden Augen, fühlte seinen warmen Kuss und vernahm nur noch seine feierlichen Abschiedsworte.

Als Mary längst schon, die Tränen noch an den Wimpern hängend, im Arm der älteren Schwester entschlummert war, suchten Annes dunkle Blicke träumerisch das schöne Mondlicht, dessen Strahlen durch die hohen Fenster auf sie fielen.

Warum bangt es ihm für mich, dachte sie bei sich, warum trauert er um mich und nannte mich sein Heideröschen?

»O, ich werde wiederkommen! Henry! Ich komme wieder zu dir!«, murmelte sie leise, »und vielleicht finde ich hier bei dir das Glück, das du so schön besungen hast!«

Während Anne mit rosigem unschuldigen Lächeln auf den schönen Lippen von einer glücklichen Zukunft träumte, war die verschwiegene Mitternachtsstunde die Zeugin einer anderen, noch schmerzlicheren Trennung. Dasselbe schöne, milde Himmelslicht, welches die Schwestern in Hever Castle umspielte, blickte mitleidsvoll auf ein hohes, edles Paar herab, das sich zum letzten Mal im königlichen Palast umschlungen hält.

Unter dem reichen Samtgewand der königlichen Schwester und dem Festkleid des schönen Herzogs2 schlugen Herzen, welche die kalte Staatspolitik Heinrichs VIII. gebrochen hatte. Mary von England, die reizende, viel gepriesene Schwester desselben, lag sprachlos in den Armen des Heißgeliebten, der sie einem ungeliebten Gatten abtreten musste.

»Mary, Mary, mein Ideal, mein Alles«, flüsterte er ihr zu. »Noch ist es Zeit, dich zu retten! Sprich nur ein einziges Wort aus! Alles ist vorbereitet zu deinem Empfang. Auf meinem festen Ahnenschloss biete ich kühn dem König die Stirn!«

»O Charles!«, rief Mary. »Es kann, es darf nicht sein, um meiner Ehre willen. Bedenke auch den Zorn meines Bruders, seine Rache ohne Grenzen! Nein , um meinetwillen darf kein englisches Blut vergossen werden.«

»So wollen wir uns ihm zu Füßen werfen und ihm unsere Liebe frei gestehen!«

Mary schüttelte wehmütig das Haupt. »Umsonst, mein Geliebter, umsonst! Eher gäbe er mir den Tod. Glaube mir, ich habe alles versucht. Selbst meine Bitten, den Nonnenschleier nehmen zu dürfen, hat er zornig abgeschlagen. Nichts, nichts bleibt uns als die Entsagung, die Ergebung in Gottes Willen.« »Sage lieber, in die Tyrannei eines Königs!«, fuhr Charles Brandon auf. »Es ist nicht Gottes Wille, dass zwei liebende Herzen sich trennen!«

»Aber mein Bruder steht an Vaters Stelle«, sagte weich die Prinzessin, »ich muss ihm gehorchen. O, mein geliebter Freund, ich traure mehr um deinen Schmerz, als um mich. Mögest du einmal glücklich werden!«

»Ohne dich? Nie!«, erwiderte Brandon heftig. »Sieh, bei diesem Kruzifix, bei dem Bild des Gekreuzigten schwöre ich dir feierlich, nie ein anderes Weib als meine Gattin zu begrüßen. Und …«

»Hoheit!«, unterbrach ihn hier die eintretende vertraute Freundin der Prinzessin, Lady Jocelyn. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, Sie dürfen nicht länger zögern. Ich bin beunruhigt – vielleicht hat der König uns bewachen lassen!«

»So geh, mein Teurer«, sagte Mary, »eile, um meinetwillen, Herzensmann! Es wäre mein Tod, wenn du diese Stunde mit der Freiheit büßen müsstest. Der König glaubt dich bereits auf dem Weg nach Schottland, weißt du?« »Er komme«, sagte trotzig Brandon, seine Hand an den Degen legend.

»Nicht doch, nicht doch, Charles! Du musst leben, um meinetwillen. Vielleicht erbarmt sich Gott einst unser, und wir dürfen uns wiedersehen! O, rette dich, mein Geliebter.«

»So leb denn wohl«, sagte Brandon, »ich gehorche dir.«

Er schloss sie noch einmal mit krampfhafter Leidenschaft in seine Arme und folgte Lady Jocelyn aus dem Zimmer.

Matt und einer Ohnmacht nahe wankte Mary zum Diwan, auf den sie niedersank.

Kurze Zeit darauf kehrte Lady Jocelyn zurück. Mit feuchtem Blick beugte sie sich über die weinende Braut.

»Er ist glücklich fort, Hoheit! Nun rasch ins Bett, damit wir keinen Argwohn bei den Kammerfrauen erwecken.«

Bei diesen Worten erhob sich Mary und ließ sich von der vertrauten Freundin ins innere Gemach führen.

Show 2 footnotes

  1. Grafschaft Kent
  2. Charles Brandon, 1. Duke of Suffolk