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Der Marone – Der Schicksalsschuss

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Vierundfünfzigstes Kapitel

Der Schicksalsschuss

Bis Tagesanbruch war es Quaco gestattet, sowohl seinen Schlaf als auch sein Schnarchen fortzusetzen, denn bis dahin war von Chakra nichts zu sehen und zu hören. Doch gerade als das Morgenrot die Spitzen der mächtigen Waldbäume rosig zu umspielen begann, erschien auf der Felsenspitze am Abhang über der Baumgruppe eine dunkle Gestalt.

Kaum war diese gesehen, so kam noch eine andere an der Seite der ersten Gestalt und hinter dieser folgte eine dritte und sogar auch noch eine vierte. Ganz am Rand des Abgrundes standen sie einen Augenblick still, wahrscheinlich in einem Gespräch vermittelt, obwohl dies nicht zu bestimmen war, da ihr Reden vollständig vom Brausen des Wasserfalls übertönt wurde.

Der zuerst auf dem Felsenrand Erschienene stieg gleich den jähen Abhang hinab, von den anderen in derselben Ordnung in der sie oben gewesen waren, gefolgt.

Cingües hatte Quaco bereits sogleich nach dem Erscheinen der ersten Gestalt aus dem Schlaf geweckt und auch die anderen Schlafenden waren geweckt worden und hatten ihre Gewehre mit fester Hand ergriffen.

Obwohl der Tag bereits im Anbruch war, so war doch noch keine der vier an der dunklen Felsenwand herabsteigenden Gestalten hinlänglich zu erkennen. Selbst unten am Felsenrand konnten sie nicht erkannt werden, da sie dort sowohl das Gebüsch als auch das Laubwerk verbarg. Erst als die beiden Vordersten sich in den Nachen gesetzt hatten und dieser in das offene Wasser des Sees glitt, vermochte der aufmerksame Quaco zu bestimmen, wer die beiden jetzt die Einsamkeit des Teufelsloches aufsuchenden Männer waren.

»Chakra!«, sagte er flüsternd zu Cingües »Und der andere, wenn mich meine Augen nicht ganz trügen, das ist Eure alte Bekanntschaft, der Koppelhalter!«

Für den scharfsichtigen Fellah war diese Bemerkung eigentlich vollkommen überflüssig. Er hatte die ihm wohlbekannten Züge des Mannes, der ihn so schrecklich misshandelte, sofort wiedererkannt. Die Erinnerung alles ihm angetanen Unrechts, aller erlittenen Misshandlungen hatte sein Herz mit heftigen, ihn unwiderstehlich treibenden schneidenden Durst nach Rache erfüllt.

Mit einem wilden Schrei hob der seiner Rache jetzt gewisse Fellahfürst, sobald er den Juden erkannt hatte, sein Gewehr, zielte und drückte los. Der junge Afrikaner war ein sicherer, nicht leicht sein Ziel verfehlender Schütze, und hätte Quaco nicht plötzlich seinen Arm ergriffen und dadurch die Richtung des den Tod versendenden Laufes etwas verändert, die letzte Stunde Jakob Jessurons hätte gewiss in diesem Augenblick geschlagen.

Allein nahe war sie doch. Ungeachtet Quacos Dazwischenkunft, ungeachtet des Zufalls, der das tödliche Geschoss etwas von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt hatte, hatte das Schicksal doch bestimmt, sein unentrinnbares Opfer zu haben.

Die im Nachen Sitzenden schienen durchaus nicht verwundet zu sein. Doch als der Pulverdampf sich verzogen hatte, konnte man deutlich wahrnehmen, dass der Schuss keineswegs ganz wirkungslos gewesen war. Chakras Hände waren leer, das darin befindliche Ruder war von der Kugel getroffen und ihnen entrissen worden. Es schwamm nun auf der Oberfläche des Wassers und trieb schnell mit der starken Strömung dem Schlund des Wasserfalls zu.

Ein gellender Angstschrei war dem überraschten Chakra gleich nach dem Schuss entwichen. Er allein begriff die Gefahr, der er plötzlich durch diesen Zufall ausgesetzt war, er allein kannte die fürchterliche unwiderstehliche Kraft des wirbelnden Strudels, die sowohl ihn als auch seinen Gefährten im Kahn zu überwältigen drohte.

Ohne Zögern warf Chakra sich auf seine Knie im Nachen nieder, beugte seinen Körper so weit wie möglich hinunter, streckte an jeder Seite des Nachens einen Arm aus und begann in dieser Stellung kräftig mit seinen beiden Händen zu rudern, um zu verhüten, dass der Nachen mitten in die Strömung hineingezogen wurde.

Einige Zeit hielt dieser eigentümliche Kampf an, der Nachen blieb, wo er war, und bewegte sich weder vorwärts noch rückwärts.

Die Maronen betrachteten den Nachen mit stummem Erstaunen und würden unbezweifelt hierin noch länger fortgefahren haben, wären die beiden am Fuß der Baumtreppe an der Felsenwand Zurückgelassenen wahrscheinlich von Neugierde auf das Schicksal des Nachens getrieben, nicht dicht an den Rand des Wassers vorgegangen, sodass ihre Gesichter ganz wohl zu sehen waren. Sofort waren sie auch von jemandem erkannt, der noch eine alte Rechnung mit ihnen abzumachen hatte.

»Die verdammten Spanier«, rief Quaco, aufs Neue verwundert, seine früheren Gefangenen jetzt hier zu erblicken, »die haben sich von ihrer Wache losgemacht. Feuert auf sie, Kameraden! Lasst sie nicht zum zweiten Mal entschlüpfen!«

Die Riesenstimme des Maronenleutnants Quaco, die selbst das Brüllen des Wasserfalls übertönte, weckte bei den Spaniern das bestimmte Gefühl ihrer sehr gefährlichen Lage. Wie ein Paar Paviane, so gewandt und geschmeidig, begannen sie die Felsenwand mittelst der Baumleiter zu erklettern.

Allein dieser Entschluss war zu spät gefasst worden. Noch bevor sie etwa ein Drittel der Felsenwand zurückgelegt hatten, waren ein halbes Dutzend Flintenläufe auf sie gerichtet und ihre Körper fielen, von den Kugeln durchbohrt, mit Geprassel in das unten befindliche Wasser. Indessen hatte Chakra den Kampf um Leben und Tod im Nachen fortgesetzt, der zuweilen freilich sich wohl etwas weniger vorwärts zu bewegen schien, dann aber auch wieder vor der größeren Gewalt des Stroms zurückwich. Für den Augenblick waren die Maronen Chakra gegenüber ganz untätig, denn sie waren beschäftigt, ihre Gewehre wieder zu laden, und so konnte der Koromantis einstweilen ganz ungehindert seinen Kampf mit dem feuchten Element fortsetzen. Obwohl in einer ganz fürchterlichen Lage, hatte er dennoch an seiner glücklichen Rettung noch nicht verzweifelt, während das angsterfüllte, verwirrte und unentschlossene Aussehen des Juden deutlich zeigte, dass er vom Schrecken vollständig gelähmt und keiner bedeutenden Anstrengung mehr fähig sei.

Ob die langen sehnigen Arme Chakras zuletzt siegen würden oder die unwiderstehliche Gewalt des nie ermüdenden Stroms, das war einige Zeit hindurch schwer zu bestimmen, denn die Kräfte schienen sich ziemlich gleich zu sein. Allein die Kraft des Mannes musste zuletzt jedenfalls abnehmen, während die des Elements stets dieselbe blieb, und so musste dies zuletzt unbedingt siegen.

Hiervon überzeugte sich Chakra jeden Augenblick immer mehr und blickte deshalb in großer Verzweiflung, auf irgendeinen anderen Ausweg sinnend umher.

Da schien ihm plötzlich ein besonderer Gedanke einzufallen, dessen Ausführung ihm ein Mittel zur Beseitigung der zunächst drohenden Gefahr gewähren musste. Denn auf einmal gab er die in dieser Weise hoffnungslosen Anstrengungen, den Nachen vorwärts zu bringen, gänzlich auf, wandte sich nach dem wie erstarrt im Nachen sitzenden Gefährten und beugte sich zu ihm nieder, als ob er ihm etwas zuflüstern wollte, während sein grimmiger, Unheil drohender Blick einen ganz anderen Entschluss verkündete.

Als Chakra Jessuron zu erreichen vermochte, streckte er mit einem plötzlichen Ruck seine langen mächtigen Arme aus, packte den Juden bei beiden Schultern und zwang ihn zum Aufstehen. Dann umfasste er mit festem Griff seinen Leib und seine Arme, hob den Körper hoch in die Luft und schleuderte ihn mit größter Anstrengung, deren der kraftvolle Mann fähig war, über sich in den Strom.

Ein einziger lauter Angstschrei des Juden, der gewaltiges Entsetzen verriet, erschallte zugleich mit dem Sturz ins Wasser, und dann verschwand der Körper des unglücklichen Mannes alsbald in der dunklen Tiefe des Sees.

Sein Hut und sein Regenschirm schwammen auf der Oberfläche und wurden von der Strömung zum Schlund hin fortgerissen.

Der seinem sicheren Untergang jetzt ganz nahe und dem verhängnisvollen Schluss seines an Schandtaten reichen Lebens rettungslos entgegeneilende Mann kam noch einmal aus der Tiefe in die Höhe, vermochte aber gewiss keine Möglichkeit seiner Rettung zu entdecken. Nur die Befriedigung wurde ihm, wenn er überhaupt Bewusstsein genug dazu besaß, aus dem einstweiligen Auftauchen vielleicht noch zuteil, dass er deutlich erkennen konnte, der treulose Gefährte und hinterlistige Teilnehmer seiner Verbrechen müsse in kurzer Zeit in derselben Weise umkommen wie er selbst.

Chakra hatte gehofft, dass, wenn er den Nachen erleichtere, er mit der Strömung erfolgreicher zu kämpfen vermöge, allein in kürzester Zeit wurde es klar, dass seine Hoffnung gänzlich trügerisch gewesen. Während er sich von seinem Gefährten im Nachen losgemacht und ihn über Bord geworfen hatte, war der Nachen unaufhaltsam durch die Gewalt des Stroms so weit vorwärtsgetrieben, dass er in einen mächtigen Strudel geriet, aus dem ihn selbst die kräftige Handhabung eines Ruders nicht herausgebracht haben würde.

Jetzt trieb der Nachen vom Strudel gefasst, nach wenigen Augenblicken bereits in die Mündung des fürchterlichen Schlundes und glitt mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles hinab.

Den unabwendbaren Tod vor sich gelang es Chakra in höchster Verzweiflung, mit großer Anstrengung aller ihm gebliebenen Kräfte einen fast horizontal vom Felsen über den Wassersturz hin gewachsenen Baumstamm als letzten möglichen Haltepunkt zu erfassen. Allein wäre dieser Busch auch wirklich im Gestein ganz fest gewurzelt gewesen, seine Stärke hätte gegen die unwiderstehliche Gewalt des heftigen Wasserstromes dennoch nicht genügt. Doch nun rissen die Wurzeln wie schwache Fäden vom Gestein los. Im nächsten Augenblick stürzte der Koromantis mit seinem Nachen mehr als hundert Fuß durch die schwarzen Felsen in den grausigen Abgrund hinab.

Nur wenige Augenblicke zuvor hatte dasselbe Geschick den treulos von ihm preisgegebenen Gefährten erreicht und die Leichen beider kamen noch einmal gegen ihren eigenen Willen miteinander in nahe Berührung, während sie zwischen den schwarzen von Schaum bedeckten Felsen in der weißen Gischt umhergewirbelt wurden!