Atlantis Teil 27
Das Rasseln der Schichtglocke hallte über Mineapolis. Hallte in den Riesenwerkstätten, in denen Heere von Arbeitern in Tag- und Nachtschichten, immer verstärkt durch Neugeworbene aus allen Teilen des Reiches, Schwarze, Mischlinge, Weiße – alle Teile der Welt lieferten das Material – tätig waren. Rasselte auch durch den Riesenschlund des Augustus-Schachtes. Die Förderschalen von Sohle zu Sohle sausten auf und nieder, die alte nach oben, die neue Schicht nach unten bringend.
Über Tage! Anderthalb Dutzend Förderschalen spien die Untertagarbeiter stoßweise aus.
Förderschale sieben! Der neue Maschinist trat in den Schaltraum. »All right!«
»All right! Die letzte Personenfahrt oben! Gibt heute viel zu tun da drüben!« Der alte Maschinist deutete auf einen Riesenstapel Kisten. »Die Sprengstoffmagazine unten werden frisch aufgefüllt.«
»Weiß! Komme von unten!«
»Von unten?«, fragte der.
»Von unten! War vor Ort! Bin schon eine Woche hier und benutzte die doppelte Feierschicht, mal runterzufahren und mir die Arbeiten anzusehen.«
»Was ist da zu sehen? Bin schon seit Monaten hier und war noch nicht unten. Was die von unten mir erzählten, genügt mir längst. Dreck, Staub, Hitze, der ekelhafte Karbidgestank … trotz aller Bewetterung. Danke! Sagtest du nicht, du kämst aus den südafrikanischen Minen? Musst es doch kennen, wie es unten aussieht.«
Der andere nickte. »Dort gingen wir auf Zinn, hier auf Karbid. Es ist doch was anderes.«
»Was anderes? Zinn ist besser. War auch da unten. War da vor Ort, bis mir ein Brocken den Fuß brach. Weshalb kommst du hierher?«
Der andere machte mit den Fingern die Bewegung des Geldzählens.
»Mehr Lohn! Außerdem habe ich genug von den verdammten Weißhäuten. Fehlt nur noch die Peitsche, dann wäre es da wie früher. Schwarze Hunde. Leute wie wir beide … Mischlinge … nicht viel mehr!«
Der nickte.
»Verflucht die weiße Bande! Der zerschlagene Fuß allein war es auch bei mir nicht. Dieser Hochmut, dieser gottverfluchte, der alle Andersfarbigen als Vieh behandelt. Mein Herr Vater war auch ein Weißer …« Er lachte bellend. »Meine Mutter schwarz, ihm ehelich angetraut. Jefferson heiße ich … schwarz auf weiß steht es in meinen Papieren. Und doch! Die Farbe tat es. Meiner Mutter Blut war wohl besser gewesen. Sie stempelte mich zum Vieh. Aber!« Er hob drohend seine Rechte. »Der Kaiser! Unser Kaiser … er wird sie lehren, er wird es ihnen beibringen, ob sie wollen oder nicht!«
Er beugte sich nach dem anderen hin.
»Krieg!«, zischte es durch seine Lippen. »Krieg! Täglich warte ich darauf, dass es losgeht. Ha! Wäre der Fuß gesund, wie gerne ginge ich mit. Du … du wirst mitgehen, du bist gesund. Ha, ich beneide dich darum. Warst du Soldat?«
Der andere nickte.
»Wohl gar bei denen da unten?«
Der andere nickte wieder.
»Um so besser! Freust du dich nicht auch?«
»Was fragst du? Ich werde dabeisein. Wäre es nur erst soweit, dass ich zeigen kann, was …«
»Förderschale sieben!« Das Telefon schrie durch den engen Raum.
»Geh ran! Du wirst Arbeit kriegen. Die ganze Schicht wird kaum reichen, um die Lasten nach unten zu bringen.«
»Förderschale sieben!«, schrie der andere ins Telefon.
»Sprengstofffahrt! Schale für alle anderen Lasten gesperrt!«
Der Maschinist wiederholte den Befehl, gab ihn weiter nach unten.
Er drehte sich um. Die alte Schicht war hinausgegangen. Er setzte sich auf den Schemel neben dem Schalthebel, zog eine kurze Pfeife aus der Tasche und setzte sie in Brand.
Die Pfeife! Vor Wochen auf dem Alsterdamm … War es da nicht dasselbe alte verräucherte Stück gewesen, das Klaus Tredrup sich in der Tür des Hamburgischen Kuriers zwischen die Zähne gesteckt hatte? Wieder einmal eine Etappe deines Lebens vorbei, hätte er jetzt sagen können, wenn er sich der Worte von damals erinnert hätte.
Klaus Tredrup … William Field jetzt, Minenarbeiter aus Südwestafrika, Maschinist, Lageraufseher, Bohrmeister. Alle Beschäftigungen, die der Bergbau umfasst, er hatte sie vorgebracht, als er sich bei dem Agenten Grimmauds meldete, der mehr als woanders in Südafrika nach neuen Arbeitern suchte. Hier natürlich nicht nach Weißen, sondern nach Mischlingen. Die beste Empfehlung war es, Mischling aus Südafrika zu sein. Der Hass gegen die Weißen, bei denen war er selbstverständlich, war es mehr als bei den Schwarzen. Mehr als diese hassten die Mischlinge die Weißen.
Früher war dies anders gewesen. Bis die Weißen anfingen, immer schärfer gegen die Vermischung der Rassen zu arbeiten, bis schließlich die Produkte dieser Mischung schlechter angesehen wurden als die reinen Schwarzen.
Er zog einen kleinen Taschenspiegel hervor und besah sein Bild. Lachte …
»Gut gemacht, Herr Doktor im Laboratorium! Keine Theaterschminke.« Schöne gute Säure hatte der Chemiker auf Tredrups Fell gepinselt. »Dauerhaft, nicht abwaschbar, nur chemische Reinigung, Herr Tredrup, wird Ihren alten Adam wiedererstehen lassen«, hatte er grinsend gesagt, als er den letzten Pinselstrich tat. »Gebe Garantie, Sie können unbesorgt sein.«
Seit acht Tagen war Tredrup hier. Die weite Reise von Norden hierher war noch weiter geworden durch den Umweg, den er über Swakopmund hatte nehmen müssen. In den Uhlenkortschen Minen musste – das war nicht ganz leicht – der passende Mann gefunden werden, der bereit war, seine Papiere abzugeben. Das Signalement musste genau stimmen. Die geheime Polizei des Kaisers hatte ihre Fühler über den ganzen Kontinent ausgestreckt. Schichtarbeiter zu werden: Nur zehnmal Gesiebten gelang es.
Tredrup saß, die Rechte mechanisch um den Schalterhebel geklammert, mit der Linken den Hörer am Ohr. Jede Minute konnte die Arbeit beginnen. Er kannte die umständlichen Vorsichtsmaßregeln, mit denen die Sprengstofftransporte nach unten gingen. Er wartete. Sein Ohr hörte das Rollen der Loren, die Kisten um Kisten des Sprengstoffs heranbrachten, abluden, weiterfuhren.
In der einen Schicht wird es kaum zu schaffen sein, hatte der andere gesagt. Im Geist überschlug er die Zahl und das Gewicht der Kisten. Ungeheuerlich, was da nach unten ging. Und die Zahlen türmten sich vor ihm auf, immer größer, größer werdend, zu einem Turm.
Vor drei Tagen war er im Ingenieurbüro gewesen. Er hatte warten müssen. Eine Tafel an der Wand hatte seine Neugierde erregt. Ein geologisches Profil des Schachtes in großem Maßstab. Sein Blick ging zu den Stellen am Fuß des Schachtes. Zur Sprengkammer. Er überlegte lange, zuckte die Achseln. Zu oft hatte er schon daran gedacht.
Sein Blick lief die Profilkarte empor. Sein Hirn aufs Äußerste gespannt … Da! Achthundert Meter unter Tage die Riesenwasserader. Es war vor seiner Zeit, als man sie beim Schachtbau anbohrte, nach langen Kämpfen überwand.
Wie magnetisiert hafteten seine Augen an der Stelle. An ihr vorüber lief eine Förderung … Förderung Nummer sieben. Wie ein Blitz durchzuckte es ihn. Fast wäre er zurückgetaumelt.
Hier war die Stelle, wo der Riesenbau am leichtesten verwundbar war. Seine Gedanken waren weitergegangen, setzten Glied an Glied, bis die Kette fertig war.
Achtzehn Förderschalen im Ring des Schachtes. Schale sieben, die den Transport besorgte. Sieben die Zahl … Glückszahl. Auf der Fahrt von Spitzbergen anfangend bis hier zum Schacht hatte er alle Möglichkeiten, wie er es tun könnte, tausendfach erwogen, die unmöglichsten Pläne gewälzt.
Was hatte er damals instinktiv gerufen: Unmöglich! Unmöglich! In immer größerer Deutlichkeit war es ihm zum Bewusstsein gekommen.
Und doch! Er hatte sein Wort verpfändet.
Ich tue es! Die Tat Klaus Tredrups! Unlösbar würden die Worte miteinander verbunden bleiben. Herostrat? Ein Name aus dunkelster Jugenderinnerung aufgestiegen.
Nein, weg damit!
Das, was ihm Uhlenkort sagte vom Kampf der Rassen, war in seiner Seele haften geblieben, sich entzündend zu einem Feuer, das weiter und weiter wuchs.
Das Telefon rasselte. »Förderschale auf! Transport beginnt!«
Kiste auf Kiste lagert in der Schale. Hinunter, herauf. Stundenlang das gleiche Spiel.
Die Maschine arbeitete unaufhörlich wie das Hirn Tredrups.
Heute!
Der Gedanke beherrschte ihn, verließ ihn nicht. Heute musste es geschehen.
Sein Geist arbeitete fieberhaft, überschlug die Menge der Ladung, das Fassungsvermögen der Schalen, die Zahl der Kisten. Gab es keine Verzögerung, musste er gegen Ende der Schicht fertig sein.
Die letzte Ladung! Dann oder nie!
Er arbeitete am Hebel, vermied den geringsten Zeitverlust … geizte mit der Sekunde.
Die Schale flog nach oben und nach unten.
Er sah nach der Uhr. Die Schicht war wie im Fluge vergangen. Zwanzig Minuten noch, dann kam die Ablösung.
Das Telefon schrillte: »Letzte Fahrt!«
Das Schrillen riss an seinen Nerven.
Jetzt oder nie galt es … Mit zitternden Händen griff er in seinen Handwerkskasten. Nahm da und da und da Einzelteile heraus, fügte sie aneinander, verband sie und hüllte das Ganze in einen dunklen Lederbeutel, den er sorgfältig unter seinem Rock verbarg.